"Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." Vor dem Hintergrund der NSU-Morde bemühte Erich Köhn am Freitag den bekannten Brecht-Satz. In Leutzsch erinnert nun ein Stolperstein an seinen gleichnamigen Vater, einen kommunistischen Widerständler. In den Biografien der geehrten jüdischen NS-Opfer findet sich wiederholt der Name "Polen-Aktion".
Deutsche Inlandsgeheimdienste bekommen gerade neue Chefs. Weil deren Behörden, die dem Verfassungsschutz dienen sollen, Morde von Verfassungsfeinden von rechts erst nicht so recht erkennen und sich dann auch nicht umfassend in die Akten schauen lassen wollten.
Dem Leipziger Erich Köhn, Jahrgang 1932 und vor zehn Tagen 80 geworden, kommt deshalb ein berühmtes Brecht-Zitat wieder in den Sinn. “Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch”, zitiert Köhn aus dem Epilog von Bertolt Brechts Theaterstück “Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui”. Es wurde 1958 in Stuttgart uraufgeführt und verlegt Hitlers Weg an die Macht in das Gangstermilieu von Chicago während der Prohibitionszeit. Damals konnte das organisierte Verbrechen mit dem Organisieren des offiziell verbotenen Alkohols so richtig Extra-Kasse machen.
Das Regime des Arturo U. sei ebenso wie das des Adolf H. zu verhindern gewesen, so Brechts kaum verfremdete Botschaft. Vor allem wusste jeder, der lesen konnte und es wissen wollte, was die Nazis bei Machtantritt vorhatten.
Kein Jude kann Staatsbürger sein, und “Volksgenosse” gleich gar nicht. So steht es in den “25 Punkten” der NSDAP aus dem Februar 1920 als politisches Ziel Nummer 4. Bei Versorgungsengpässen, heißt es dort unter 7., seien Angehöriger fremder Nationen und “Nicht-Staatsbürger” auszuweisen. Unter Punkt 8 findet sich dort die Forderung nach einem Einwanderungsstopp und die Ausweisung aller Menschen, die nach Kriegsbeginn 1914 eingewandert seien.
Seit dem NSDAP-Parteitag 1935 stand die praktizierte staatsbürgerliche Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger im Reichsgesetzblatt. Im Oktober 1938 folgte eine weitere massive Eskalationsstufe der NS-Judenverfolgung: die sogenannte “Polen-Aktion”. Als sich die mittelosteuropäische Staatenwelt nach 1918 neu sortierte, waren viele Juden in deutsche Großstädte gezogen. Dorthin, wo große jüdische Gemeinden existierten und oftmals Verwandte lebten. In Städte wie Leipzig.
Wer von ihnen noch einen Pass des polnischen Staates hatte, wurde nun über Nacht nach Polen abgeschoben. Auch Marcel Reich-Ranicki beschreibt in seiner Autobiografie, was damals geschah.
Diese inhumane Ausweisung war zugleich ein Bereicherungsprogramm für viele deutsche Volksgenossen. Manch Haus wurde damals über Nacht herrenlos, beispielsweise das in der Lindenauer Josephstraße 7.
Aus Verzweiflung über die Abschiebung seiner Verwandten aus Deutschland schoss am 7. November 1938 in Paris Herschel Grynszpan auf einen deutschen Botschaftsangehörigen. Der Vorwand für eine weitere Eskalation der Judenverfolgung war gegeben. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wird für immer mit den Verbrechen der “Reichkristallnacht” verbunden sein.Polen bot keine Sicherheit auf Dauer. “Eroberung neuen Lebensraumes im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung”, hatte Hitler bereits im Februar 1933 vor hohen Militär als Ziel ausgegeben. Am 1. September 1939 überfiel Nazi-Deutschland Polen. Auf polnischem Staatsgebiet fanden in den Jahren der deutschen Besatzung sechs Millionen Polen den Tod. In Polen richteten die Deutschen erst die großen jüdischen Ghettos ein. Und bald darauf die Todesfabriken zur industriell betriebenen Vernichtung der europäischen Juden.
An Lea Chaja Meinhardt und drei Mitglieder der Familie Golda und Abraham Landsberg erinnern vier der neun Stolpersteine, die der Kölner Künstler Gunter Demnig am Freitag in Leipzig verlegte. Sie mussten Leipzig im Zuge der “Polen-Aktion” zwangsweise verlassen. Arnold Muscatblatt, an den im Leipziger Osten nun auch ein Stolperstein erinnert, starb noch im November 1938 im KZ Buchenwald. Hierher war er nach der Pogromnacht verschleppt worden. Wie viele weitere jüdische Mitbürger auch.
Ebenfalls im KZ Buchenwald kam der Kommunist Erich Köhn, Jahrgang 1896, zu Tode. Der gelernte Fotograf war bereits am 23. April 1934 in seiner Wohnung in der damaligen Barnecker Straße 22, der heutigen Georg-Schwarz- Straße 176, verhaftet worden. Wegen antifaschistischer Betätigung wurde er zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. “Hochverrat” nannten das die Machthaber.
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Von einer “Läuterung” könne bei Köhn nicht ausgegangen werden, schätzte im Sommer 1934 die Zuchthausverwaltung im sächsischen Waldheim ein. Deshalb drängte sie auf eine Überstellung Köhns in “Schutzhaft”, also in ein Konzentrationslager. “Wer sich nicht bekehren läßt, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel”, so Hitler in der bereits angeführten Rede vom Februar 1933.
Der erste Brief des Vaters und Ehemanns aus Buchenwald erreichte die Familie Köhn am 14. August 1938, erzählte Erich Köhn junior am Freitag bei der Verlegung des Stolpersteins für seinen Vater. Seine Eltern hätten einen regen Briefverkehr gepflegt. Im Nachlass eines Verwandten fand Historiker Köhn einen Brief seines Vaters an seine Mutter vom 19. Dezember 1943. “Habt Ihr Euch von dem Schreck erholt?”, erkundigte er sich verklausuliert nach dem Befinden seiner Familie nach dem schweren westalliierten Luftangriff vom 4. Dezember 1943 auf Leipzig. Kurz darauf, am Neujahrstag 1944, kam Erich Köhn senior in Buchenwald zu Tode. “Mein Vater hat meinen Bruder nie auf den Arm nehmen können”, erinnerte der Sohn daran, dass sich sein Vater und sein 1934 geborener jüngerer Bruder nie begegnet sind.
Mit den neun neuen Stolpersteinen ist deren Zahl in Leipzig auf 159 angewachsen. Weitere dieser Gedenkorte sind möglich. Deshalb würden sich die beteiligten Leipziger Vereine freuen, wenn sich Paten fänden, die die 120 Euro für das Verlegen eines Steines aufbringen.
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