Da staunte Horst Wawrzynski nicht schlecht, als ihm zwei LVZ-Exemplare in etwas desolatem Zustand auf den Schreibtisch flatterten. Auf den gerasterten schwarz-weißen Titelbildern Stalin, Ulbricht und eine Massenkundgebung auf dem Karl-Marx-Platz. Da fühlte sich Leipzigs Polizeipräsident doch etwas seltsam. Die beiden Zeitungen waren bei Bauarbeiten im Führungszentrum der Polizeidirektion zum Vorschein gekommen.
Und nicht nur die beiden Zeitungen vom 8. und vom 10. Mai 1955 waren beim Abbruch einer Trennwand zum Vorschein gekommen. Daneben lagen noch drei beschriftete Fotografien und ein mit Schreibmaschine getippter Gruß “An die Finder nach unserer Zeit!”
Selbst Volker Rodekamp, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, musste den Zettel auf einem Vordruck des “Volkspolizei-Kreisamtes Leipzig” mehrmals lesen, um zu verstehen, worum es ging. Am Mittwoch, 18. Juli, übergab Horst Wawrzynski den Fund ganz offiziell dem Stadtgeschichtlichen Museum. Und der forsche Gruß wird wohl demnächst ein ganz besonderer Hingucker in der Dauerausstellung “Moderne Zeiten”.Die Zeitungen kann man, wenn man will, in Archiven finden, doch der Gruß ist einzigartig: Neun Mitarbeiter der damaligen Zulassungsstelle der Verkehrspolizei in der Dimitroffstraße haben ihn unterschrieben. Er informiert darüber, dass die damalige Zulassungsstelle am 13. Mai 1955 umgebaut wurde. Den Grund versteht man nicht unbedingt, man könnte ihn aber vermuten: “Verräterische Elemente liessen sich von den Feinden der Arbeiterklasse bestechen und wurden zu willfährigen Werkzeugen der Feinde unseres friedlichen Aufbaues”, steht da.
Da müsste man wohl in alten Gerichtsakten blättern. Was ist aus den “verräterischen Elementen” geworden? Und warum musste dann die Zulassungsstelle umgebaut werden? – Der Gruß an die “nach uns Kommenden” sollte einmal Leser erreichen, die “bereits in einer Zeit leben, die wir mit unserem Kampf zu erreichen suchen”. Das wirkt nicht nur unfreiwillig komisch. Aber auch in einer Kfz-Zulassungsstelle wurde 1955 augenscheinlich gekämpft. Der Gruß ist so pathetisch wie die dazugelegten Zeitungen. Die vom 8. Mai bringt – mit dem Runden Tisch der Potsdamer Konferenz im Foto und dem berühmten Händedruck-Bild von Pieck und Grotewohl auf dem Titel – einen großen Bericht samt Verpflichtung zum “Tag der Befreiung”, dem 8. Mai. Der jährte sich 1955 zum zehnten Mal.”Und besonders hinweisen möchte ich darauf: Der 8. Mai war ein Sonntag”, sagt Wawrzynski, der es sich nicht nehmen ließ, in den alten Zeitungen zu blättern. Von einem “Wimpernschlag in der wechselvollen Geschichte des historischen Dienstgebäudes”, spricht er. Immerhin entstand das Polizeiamt am Peterssteinweg schon 1877. “Und es wurde immer von der Polizei genutzt”, betont Wawrzynski. Über alle Zeitenwechsel hinweg. Da kann auch einem gebürtigen Bayern schon mal der Atem wegbleiben, wenn so ein paar alte Zeitungen auftauchen. “1955 – da war ich selbst erst zweieinhalb”, staunt der Polizeipräsident.
Die Namen auf dem “Gruß” sind ganz gut lesbar. Doch gefunden hat man sie noch nicht in alten Akten. Das wäre ein Forschungsthema für den Autor Gerd Müller, der schon zwei Bücher über die Leipziger Polizeigeschichte veröffentlicht hat – “Leipziger Polizei: Blaue und Grüne Polizei” und “Hier Kripo Leipzig: Geschichte der Leipziger Kriminalpolizei”. Natürlich arbeitet von den Unterschreibern – vom Zulassungsstellenleiter bis zum Sachbearbeiter Kräder – längst keiner mehr bei der Leipziger Polizei. Selbst die jüngsten der hier Aufgeführten dürften heute weit über 70 sein. Ein Menschenleben ist tatsächlich wie ein Wimpernschlag. Und die großen Illusionen lösen sich schneller in Luft auf, als die Parteigenossen selbst es für möglich halten.Länger dauert nur, so eine alte Polizeidirektion zu sanieren. Für Horst Wawrzynski eine Aufgabe, die er vom Wichtigsten her angepackt hat: “Erst einmal müssen sich die Arbeitsbedingungen für meine Mitarbeiter verbessern, erst dann kommt irgendwann die Gebäudehülle dran.” Dass einige Mitarbeiter da augenscheinlich in Räumen arbeiteten, die über 50 Jahre lang nicht saniert wurden, spricht Bände.
Von den drei Fotografien, die 1955 mit in den Hohlraum gelegt wurden, ist fast nichts mehr zu erkennen. Sie wurden von den Mitarbeitern der Zulassungsstelle selbst aufgenommen. Nur die Beschriftung auf der Rückseite ist noch zu lesen. Die Petersstraße zu Beginn der Frühjahrsmesse 1955 soll zu sehen sein, gleich auf zwei Fotos. Ein drittes verspricht eine Gruppenaufnahme auf dem Nordplatz.Dafür ist noch bestens zu lesen, was die LVZ am 8. und 10. Mai 1955 zu berichten wusste. Für Horst Wawrzynski die eindrucksvollste Meldung: Die von einem Sturz Täve Schurs während der Friedensfahrt. Aber die LVZ vom 10. Mai gibt auch einen tiefen Einblick in die Propaganda der Zeit. Immerhin lag der niedergeschlagene Aufstand von 17. Juni 1953 gerade einmal zwei Jahre zurück. Deswegen ist für Volker Rodekamp die abgebildete Kampfgruppe auf der Titelseite vom 8. Mai so markant. Die ersten Kampfgruppen wurden zwar schon 1952 aufgestellt – aber die flächendeckende Schaffung von Betriebskampfgruppen wurde erst 1954 in Angriff genommen – als eine der Folgen des 17. Juni 1953. Sie sollten künftig verhindern, dass in den Betrieben wieder ein Aufruhr heranreifte.
Die Ausgabe vom 10. Mai bringt dann einen Artikel über Maschinenschlosser Heinrich Klemm aus dem VEB Schwermaschinenbau, der sich freiwillig für anderthalb Jahre Dienst bei der KVP, der Kasernierten Volkspolizei, gemeldet hat. Die war ebenfalls 1952 gegründet worden und wurde 1956 in die NVA umgewandelt. Über dem Artikel steht ein Beitrag von Liddy Pientka über den 8. Mai 1945, in dem sie sich ganz patriotisch darüber wundert, dass die US-Amerikaner, die Leipzig damals besetzt hatten, nicht mit der KPD Kontakt aufnahmen, sondern den Übergang in eine demokratische Gesellschaft nun ausgerechnet mit Rechtsanwälten, Pfarrern und alten SPD-Genossen versuchten.
Die 1905 geborene Lehrerin Liddy Pientka war 1948 zur ersten weiblichen Stadtverordnetenvorsteherin in Leipzig gewählt worden. In ihrem recht geharnischten Beitrag rechnet sie auch mit ihren Vorgängern in der Stadtverordnetenversammlung ab. Das Staatsarchiv Leipzig führt sie als Widerstandskämpferin und als Dozentin für Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule für Musik Leipzig. Mitglied der KPD und später der SED war sie wohl von 1925 bis 1987. Gestorben ist sie 1994.
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Aber selbst die Innenseite der LVZ vom 8. Mai 1955 hat es in sich. Denn während der Seitentext die Befreiung durch die Sowjetarmee besingt, sind unten die frisch mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold Ausgezeichneten abgebildet – darunter Karl Schirdewan, der bis 1958 in der SED als zweiter Mann nach Ulbricht galt – und dann wegen “fraktioneller Tätigkeit” aus dem Politbüro geschmissen wurde. Daneben Bruno Leuschner, der 1961 seines Postens in der Staatlichen Plankommission enthoben wurde und zum RGW abgeschoben wurde. Karl Maron darunter, bis 1963 Innenminister der DDR und Stiefvater der Schriftstellerin Monika Maron. Daneben Paul Wandel, der erste Volksbildungsminister der DDR, der 1957 wegen ungenügender Härte gerügt und als Botschafter nach China abgeschoben wurde.
So liest sich eine scheinbar stinklangweilige Zeitungsseite im Nachhinein doch wie ein Zeitzeugnis. Und sie erzählt von einer Zeit, in der – ausgelöst vom 17. Juni 1953 und vom Ungarnaufstand 1956 – auch in der DDR wieder die Eiszeit einzog. Eine Eiszeit, die 1961 mit dem Bau der Mauer zementiert werden sollte.
Davon konnten die neun Menschen, die 1955 ihren auf amtlichem Formular geschriebenen Gruß an die Nachkommenden schrieben, noch nichts wissen. Aber vielleicht haben sie alle noch den 9. Oktober 1989 erlebt. Und spannend wäre ganz gewiss, wie sie ihn erlebt haben. Und wo.
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