Historisch heißt das Quartier an der Spitze von Großer Fleischergasse und Hainstraße natürlich nicht "Hainspitze". So wird das Bauprojekt heißen, das hier verwirklicht wird, wenn die Archäologen fertig sind. Seit dem Frühjahr dürfen sie hier graben. Und sie wissen, dass es eine der spannendsten Stellen ist, die das alte Leipzig zu bieten hat.

Dabei ist die Grabungsgeschichte der letzten 22 Jahre in Leipzig reich an solchen Stellen. Die aktuelle Ausstellung in der Commerzbank am Thomaskirchhof etwa zeigt einige der schönsten Grabungserlebnisse aus der Grabung auf dem nördlichen Thomaskirchof im Jahr 2002. Aufsehen erregte Mitte der 1990er Jahre die Ausgrabung des alten Grimmaischen Steinweges auf dem Augustusplatz – bevor die Tiefgarage gebaut wurde. Eine Attraktion war vor zehn Jahren die Ausgrabung der Petersvorstadt unterm Wilhelm-Leuschner-Platz – bevor die Buddelei für den City-Tunnel begann.

Jede Ausgrabung ist ein Blick in die Geschichte. Im Untergrund hat sich oft erhalten, was oberirdisch längst verschwunden ist. Sachsens Archäologen können in den Erdschichten lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Und sie können die Lücken in der Leipziger Geschichte mit neuen Erkenntnissen füllen. Die detaillierte Ausgrabe-Arbeit war so auch in DDR-Zeiten nicht möglich. Im Gegenteil. Nach der Sprengung der Paulinerkirche 1968 und bei den Vorbereitungen zum Bau des seinerzeitig neuen Uni-Campus waren archäologische Untersuchungen sogar unerwünscht. Die historischen Schichten wurden beim Ausheben der Baugrube fast vollständig vernichtet.

Als das Landesamt für Archäologie 2007, bevor die Fundamente für den neuen Uni-Campus gelegt wurden, das Terrain erkunden durften, stießen sie nur noch auf wenige Reste. Nur ganz Weniges war noch der 750 Jahre alten Paulinerkirche zuzuordnen. Im Wesentlichen waren es die Außenmauern dreier Kapellen, die auf der Nordseite der Kirche angebaut waren: der Thümmelschen Kapelle, der Pflugckschen Marienkapelle und der Leymbachischen Kapelle. Erhalten hatte sich auch noch ein kleines Stück der Südmauer des Mauritianums, das einst an der Grimmaischen Straße stand.

So haben die sozialistischen Kirchenzertrümmerer auch dafür gesorgt, dass ein wichtiges Puzzle-Stück der mittelalterlichen Stadtgeschichte für immer verschwunden ist – mal ganz zu schweigen vom Umgang mit der Kirche, ihren Trümmern und den Hunderten in den Gruften bestatteten Persönlichkeiten. 1968 hätte sich selbst ein Karl Marx den Bart zerrauft über soviel Ignoranz.

Was die Archäologen 2007 ein wenig tröstete, war der kleine Doppelfund am Standort des einstigen Café Felsche. Hier fanden sie nicht nur ein paar Mauern und ein paar neuzeitliche Fundstücke des 1835 errichteten Cafés. Sie stießen auch auf ein paar massive Rudimente des einst an dieser Stelle stehenden Schuldnerturmes, der einst das Grimmaische Tor überragte. “In ihm vollzog man den Arrest säumiger Schuldner”, schreiben Peter Hiptmair und Petra Schug dazu. Zwei Meter dick, vier Meter hoch, sieben Meter lang waren die Fundamente des Turmes, der auf Abbildungen seit 1577 sichtbar war.

“Die Grabung erbrachte leider keine der erhofften mittelalterlichen Hinterlassenschaften und somit keine neuen Erkenntnisse zu Aussehen und Verlauf der mittelalterlichen Befestigung sowie der Besiedlung am Standort des Cafés Felsche”, schrieben die Archäologen ein Jahr später. “Die mächtigen Fundamentmauern des Schuldnerturms, aus denen riesige Findlinge klafften und durch die Belüftungsschächte führten, sind aber beeindruckende Zeugnisse des frühneuzeitlichen Baubetriebs.”Mit so einem mächtigen Mauerwerk rechneten sie 2012 an der Hainstraße freilich nicht, wo die Grabungen im April begannen. Doch dieses so unscheinbare Stück Freifläche war seit dem Hochmittelalter immer besiedelt.

Hainstraße und Große Fleischergasse sind neben dem Brühl die ältesten Straßen der Stadt. “Das Grabungsareal liegt am Kreuzungspunkt der ältesten Fernhandelsstraßen Leipzigs, der ‘via regia’ (heute Brühl) und der ‘via imperii’ (heute Hainstraße), wo sich der früheste Markt (‘Eselsmarkt’) befunden haben soll”, schreiben die Landesarchäologen über ihre jüngste Leipziger Grabung. “Zum anderen liegt es in unmittelbarer Sichtnähe zur ‘urbs lipzi’, jener Burg, die in der schriftlichen Ersterwähnung Leipzigs, in der Chronik Thietmars von Merseburg aus dem Jahr 1015 erwähnt wird. Diese slawische Burganlage konnte der Archäologe und Kunsthistoriker Herbert Küas während des Baus der Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Große Fleischergasse Nr. 11, lokalisieren. Die ‘Hainspitze’ liegt also noch im ehemaligen Vorburggelände und damit in der Keimzelle der Stadtwerdung.”

Schon bei den Grabungen am Brühl haben die Archäologen sich bis in die slawische Zeit der Ortsgründung vorgearbeitet.

Das erste, worauf sie freilich an der Hainstraße stießen, war ein recht neuzeitlicher Bau: die Fundamente der “Tuchhalle”, die hier bis zu den Zerstörungen im 2. Weltkrieg stand.

Von 1837 bis 1943 stand die Tuchhalle auf der untersuchten Parzelle 625. “Mit der Vermessung der Kellermauern liegt nun der Kellergrundriss der Tuchhalle vor, der in den Bauakten nicht bekannt war”, teilte das Landesamt für Archäologie im Mai mit. “Die Lage der Kellerfenster zeigte, dass das Niveau der Hainstraße noch vor dem Krieg deutlich tiefer gelegen haben muss. Um den Verbau der Baugrube in den nächsten Wochen einbringen zu können, wurden die Keller wieder verfüllt. Sobald der Verbau die anliegenden Straßen sichert, werden die Keller und deren Bodenplatte herausgenommen. Darunter können sich noch tiefreichende archäologische Befunde wie Latrinen oder Brunnen erhalten haben, die dann dokumentiert werden können.”

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Für die Archäologen vorerst viel interessanter war der nicht unterkellerte Innenhofbereich der “Tuchhalle”. “Ihn durchkreuzt ein Kanalgangsystem des 18./19. Jahrhunderts, das ausgebaggert wird. Die Erdwände, sogenannte ‘Profile’, werden feinpräpariert und gewähren einen Einblick in die Schichtenfolge des ungestörten historischen Bodens. Unter dem Kriegsschutt lagern spätmittelalterliche Schichtenfolgen. Spätmittelalterliche große Gruben, die wahrscheinlich als Erdlatrinen genutzt wurden, schneiden immer wieder tief in den Boden ein. Unter den spätmittelalterlichen Befunden stehen die geologischen Schichten an. Die unterste archäologische und zugleich oberste geologische Schicht ist der dunkelbraune jungweichselzeitliche Boden, der sich durch Wiederbewaldung nach der letzten Eiszeit gebildet hat. In ihm liegen vorgeschichtliche und hochmittelalterliche Funde. Ziel ist es nun, flächig diese untersten Bereiche freizulegen, um die frühesten Siedlungsspuren der Fläche erkennen zu können.”

Die Ergebnisse dieser Arbeit wollen die Archäologen in den nächsten Wochen bekannt geben.

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