"Zwangsarbeit ist auch Leipziger Geschichte, und zwar die dunkle Seite", sagt Dr. Andrea Lorz von der Gedenkstätte für Zwangsarbeit. Seit über zehn Jahren widmet sich der "Dr. Margarete Blank"e.V. der Aufarbeitung der systematischen Ausbeutung von Menschen in der NS-Zeit. Ein Besuch an der Permoserstraße auf dem ehemaligen HASAG-Gelände.
“Es gibt hier nur ein Entweder-Oder. Entweder man will nicht, dass die Kinder am Leben bleiben, dann soll man sie nicht langsam verhungern lassen und durch diese Methode der allgemeinen Ernährung noch viele Liter Milch entziehen; es gibt dann Formen, dies ohne Quälerei und Schmerzen zu machen. Oder man beabsichtigt, die Kinder aufzuziehen, um sie später als Arbeitskräfte verwenden zu können, dann muss man sie auch so ernähren, dass sei einmal im Arbeitseinsatz vollwertig sind.”
Das ist die Sprache des Dritten Reiches – ganz offen und unverstellt. Die Textpassage entstammt einem Schreiben an SS-Chef Heinrich Himmler, in dem er um eine “grundsätzliche Entscheidung” gebeten wird. Eine Entscheidung über Leben und Tod von Kleinkindern, über die Kinder der Zwangsarbeiter.
Das komplette Schriftstück ist eines der Exponate der Leipziger Gedenkstätte für Zwangsarbeit. Der Mahn- und Erinnerungsort besteht seit Dezember 2001 auf dem Gelände des heutigen Umweltforschungszentrums. Er war der erste seiner Art in Deutschland.
An der Permoserstraße befand sich bis zur Befreiung 1945 das Stammwerk der HASAG. In der Hugo Schneider AG, kurz HASAG, wurden ursprünglich Petroleumlampen, Glühlampen und Spirituskocher hergestellt. Im Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das Unternehmen zum Monopolhersteller für die so genannte Panzerfaust.
Die Herstellung dieser panzerbrechenden Waffe geschah in Leipzig mit “Sondervollmacht Reichsminister Speer”, wie sich der HASAG-Generaldirektor und stramme SS-Mann Paul Budin in Schreiben gern rühmte. Dass eine Abwehrwaffe für die Rüstungsplaner um Albert Speer derart bedeutsam war, sagt viel über die Zeitläufe aus. In den ersten Kriegsjahren rollten Wehrmachtspanzer durch Europa und Nordafrika. In den NS-Wochenschauen jener Zeit symbolisierten sie die “Blitzsiege”. Alsbald brauchte es aber Waffen, die die anrückenden Panzer der Anti-Hitler-Koalition bekämpfen konnten. Die Panzerfäuste “Made in Leipzig” sind noch heute in nahezu allen Filmsequenzen über den Einsatz von Volkssturm und Hitlerjungen aus den letzten, besonders mörderischen Kriegsmonaten zu sehen.
HASAG beschäftigte mehr Zwangsarbeiter als jede andere private Firma
Gleichfalls paradigmatisch ist die Geschichte der HASAG hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Arbeitskräfte. “Die HASAG beschäftigte mehr Zwangsarbeiter als jede andere Privatfirma”, steht auf einer der Schautafeln, “im März [1944] belief sich die Belegschaft auf 24.000 Deutsche und 40.000 Zwangsarbeiter. Allein im Leipziger Werk waren 16.000 Menschen beschäftigt.”
“Anfang 1945 befanden sich mehr als 90.000 ausländische Arbeitskräfte im Raum Leipzig, darunter eine nicht unbeträchtliche Zahl von Kindern und Jugendlichen”, heißt es in einer Mitteilung der Leipziger Stadtverwaltung aus dem Dezember 2009.
Denn die deutsche Kriegswirtschaft einschließlich der Landwirtschaft konnte nur durch den systematischen Einsatz von Zwangsarbeitern am Laufen gehalten werden. Zu der Systematik gehörte die Erfassung der Arbeitskräfte in den besetzten Gebieten und deren Verschleppung nach Deutschland. Davon kündet die “Arbeitskarte” von Gawril Wiwtasch aus der Gegend des ukrainischen Dnepropetrowsk, ausgestellt vom Arbeitsamt Leipzig. Gawril Wiwtasch musste in der Eisengießerei Edmund Becker in der Junghanßstraße in Leipzig W 35, in Leutzsch, schuften.
Dass die mörderische Systematik der Nazis auch Mütter und Kleinkinder erfasste, davon war eingangs die Rede. Schwangere Arbeitssklavinnen und Mütter mit Kindern unterlagen einem “Austausch”, wie es im SS-Jargon hieß und in der Gedenkstätte dokumentiert ist. Ein solcher “Austausch” bedeutete “Überstellung” in ein Frauen-KZ, was in den allermeisten Fällen dem Todesurteil gleichkam.
Die Schatten der Vergangenheit sind noch nicht verflogen. Es wenden sich immer wieder Kinder und Enkel von Leipziger Zwangsarbeitern an die Gedenkstätte, erzählt Dr. Andrea Lorz, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte. Sie wollen mehr über das Leiden ihrer Eltern und Großeltern erfahren und den fortwirkenden Schmerz in den Familien bewältigen. So der Niederländer Stef Beumkes. Er hat anhand von authentischen Fotodokumenten die Jahre seines Vaters Jan Egbert Beumkes als Zwangsarbeiter bei der HASAG in Buchform dargestellt.Mehr Verantwortungswahrnahme von Unternehmen gewünscht
Schuld sei natürlich immer eine individuelle Frage, sagt Andrea Lorz. “Aber es besteht für unsere und die kommenden Generationen eine bleibende Verantwortung, wenigstens dafür zu sorgen, dass es nicht wieder geschieht”, betont die Historikerin. “Es ist auch gestattet, durchaus Scham zu zeigen”, fügt sie mit Blick auf die Wirkung des in der Gedenkstätte Erfahrbaren hinzu.
“Insgesamt muss dieses Thema präsenter sein, weil es nicht nur eine Frage der Rüstungs- und Schwerindustrie ist, sondern bis in die Privathaushalte geht”, unterstreicht die Historikerin. Immer wieder würden sich Zeitzeugen melden. Sie berichten auch von Dienstmädchen in den gutbürgerlichen Haushalten der Messestadt, die in den besetzten Ländern zwangsrekrutiert wurden.
“Ich kenne mit solcher Vehemenz der Verantwortungswahrnahme kein Unternehmen wie das Umweltforschungszentrum”, sagt Lorz über die Zusammenarbeit mit der Forschungseinrichtung, auf dessen Gelände sich die Gedenkstätte befindet. In dem ehemaligen HASAG-Hauptgebäude arbeiten heute Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ), das seinen Hauptsitz im Wissenschaftspark Leipzig, Permoserstraße hat und weitere Standorte in Halle und Magdeburg.
“Von Beginn an spielte die Geschichte des Standortes eine große Rolle”, sagt Doris Böhme, Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des UFZ. Bei den Umbauarbeiten in den frühen 1990er Jahren seien alte Baupläne und Luftbilder aufgetaucht, auch unbekannte Kellergänge oder die Reste von Munition. Zugleich sei den beiden damaligen UFZ-Geschäftsführern, den Professoren Peter Fritz und Karl Tichmann, die Vorgeschichte des Geländes bekannt gewesen.
“Im April 1996 besuchte eine Gruppe von Frauen aus Polen, Tschechien, Holland und Frankreich das UFZ”, erzählt Doris Böhme weiter, “sie waren Überlebende der vielen Tausend, die hier für die HASAG Zwangsarbeit verrichtet haben.”
Anschließend habe es weitere Recherchen und zahlreiche Gespräche gegeben. Deren Erkenntnisse und auch Erlebnisberichte ehemaliger Zwangsarbeiter sollten nach dem Willen der Geschäftsführung und vieler Mitarbeiter des UFZ in einer Gedenkstätte dokumentiert werden. Dabei hebt die UFZ-Sprecherin den Einsatz des damaligen Betriebsratsvorsitzenden Dr. Christian Jonas hervor. “Dieses Engagement ist ungebrochen”, sagt Dors Böhme, “denn diese Vergangenheit wird immer zum UFZ gehören.”Die Unterstützung durch das UFZ hilft, nach den Worten von Andrea Lorz, den Fortbestand der Gedenkstätte zu sichern – neben der unverzichtbaren und verlässlichen Förderung durch die Stadt Leipzig und den Freistaat Sachsen. “Diese Verantwortungswahrnahme wünschen wir uns auch von anderen Unternehmen”, so Lorz weiter.
“Die Zwangsarbeit ist auch Holocaust”, ordnet die Historikerin die massenhafte Sklavenarbeit in das NS-System ein. Für die Betroffenen, eben besonders Juden, hätte es nur die “furchtbare Alternative Zwangsarbeit oder sofortiger Tod” gegeben, unterstreicht Lorz, “dass dabei Zwangsarbeit aber keine Überlebensgarantie war, haben nur allzu viele der Leidensgenossen erfahren müssen”.
Das besonders Infame an der Zwangsarbeit besteht für Lorz darin, dass “Arbeit als Mittel zur Vernichtung” eingesetzt wurde und es zudem zu einer Hierarchisierung der Opfer nach der NS-Rassenideologie kam. Juden, Sinti und Roma, Polen und Osteuropäer seien ganz bewusst am schlechtesten behandelt worden.
“Zwangsarbeit ist auch Leipziger Geschichte, und zwar die dunkle Seite”, sagt Andrea Lorz. Insgesamt ist eine stärkere Einbindung des Themas in die Leipziger Geschichtsarbeit aus ihrer Sicht wünschenswert. Nach dem Willen von CDU, FDP, SPD und Grünen im Landtag soll der Erinnerungsort künftig immerhin über das sächsische Gedenkstättengesetz institutionell gefördert werden.
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Dass es dabei um eine Verkehrung aller menschlichen Werte gegangen sei, “damit muss im Unterricht auch mehr gearbeitet werden”, so Lorz. Hierbei steht die Kompetenz der Leipziger Gedenkstätte weiter zur Verfügung. “Die Geschichte lebt in ihrer Individualität und Konkretheit”, nennt Lorz als das didaktische Prinzip der Gedenkstätte. Deshalb widmen sich Geschichtsstudenten im Rahmen ihres Gedenkstättenpraktikums den Spuren der Zwangsarbeit in den einzelnen Leipziger Stadtteilen.
Darüber hinaus haben unlängst der Internationale Suchdienst (ITS/ International Tracing Service) in Bad Arolsen und Erziehungswissenschaftler der Universität Kassel neue Unterrichtsmaterialien vorgestellt. Sie widmen sich den Biografien von jugendlichen Opfern und Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung. Die Unterrichtsmaterialien wurden in einem gemeinsamen Lehrforschungsprojekt “Ich wusste nicht, wer meine Eltern waren” mit Studierenden der Universität Kassel entwickelt.
www.zwangsarbeit-in-leipzig.de
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