Von der Leipziger Öffentlichkeit unbemerkt, jährte sich dieses Jahr zum 125. Mal der Geburtstag des ersten "Sportprofessors" Deutschlands. Professor Hermann Altrock lehrte 20 Jahre am Vorgänger der DHfK in Leipzig, doch im Stadtbild ist davon gar nichts zu sehen.
Über 125 Jahre ist es her, dass in Berlin ein Junge geboren wurde, der später Deutschlands erster “Sportprofessor” werden sollte. Hermann Altrock wirkte zwischen 1925 und 1945 zwanzig Jahre lang am Leipziger Institut für Leibesübungen, war qua Amt Deutschlands erster Vollakademiker auf dem Lehrstuhl eines Sportinstituts. In Leipzig erinnert aber trotzdem nichts an den Turnlehrer, Ruderlehrer, Anglisten, Romanisten, Germanisten und Sportpädagogen.
Der Berliner erhielt die Professur in einer Zeit, in der Sport keinen hohen staatlichen Stellenwert hatte. In Leipzig hatte sein mit nur 45 Jahren verstorbener Vorgänger Prof. Dr. phil. Hermann Kuhr 1921 begonnen, ein Gymnastisches Institut an der Universität Leipzig aufzubauen. Nach seinem Tod suchte die Uni einen Nachfolger, der dieses Werk fortführen konnte, ein “Vollakademiker” sollte es laut Uni-Senat sein, der die Turnlehrer-Ausbildung am Institut erweiterte. Altrock war zu der Zeit Dozent für Pädagogik der Leibesübungen an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin-Grunewald und unter den Akademikern seines Fachs längst kein Unbekannter mehr. Der damals 38-Jährige hatte bereits 1908 die Prüfung zum Turnlehrer erfolgreich absolviert und dann ein Studium der Anglistik, Romanistik und Germanistik aufgenommen. 1912 hatte er promoviert, diente im 1. Weltkrieg und war seit 1923 Vorsitzender des Deutschen Turnlehrervereins. In Nebentätigkeiten erkannte er wie Kuhr, dass die deutsche Turnlehrerausbildung einiger Verbesserungen bedurfte.
In Leipzig wurde ihm dazu freie Hand gelassen, 1925 ernannte ihn das Dresdner Ministerium der Volksbildung zum “Universitäts-Turn- und Sportlehrer, Direktor des Gymnastischen Instituts und zum nichtplanmäßigen außerordentlichen Professor für Pädagogik der Leibesübungen an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig”. Deutschland hatte seinen ersten “Sportprofessor”. Übrigens hatte das Berliner Institut für Leibesübungen 1924 eine entsprechende Forderung Altrocks abgelehnt.
Studenten am IfL, das sich damals in der Fichtestraße 38 befand, bezahlten zu der Zeit einen Semesterbeitrag von zwei Reichsmark und konnten aus der erstaunlichen Anzahl von zehn Sportarten (Schwimmen, Fechten, Reiten, Boxen, Ringen und Jiu-Jitsu, Allgemeines Hallenturnen, Spiele-Leichtathletik-Waldlauf, Rhythmische Gymnastik, Trockenschikurse, Tanzkurs) wählen. Wer Reiten, Tennis, Motorradfahren und Kleinkaliberschießen wollte, musste mehr bezahlen. Der neue Professor erweiterte nicht nur das Gelände des Instituts, sondern auch das Angebot Stück für Stück, unter anderem auch um “neuzeitliches Frauenturnen”.
Ebenso setzte er durch, dass ordentlich immatrikulierte Studenten die Uni-Einrichtungen kostenlos nutzen durften. 1929 promovierten die ersten Studenten in Pädagogik der Leibesübungen, was rein praktisch die Anerkennung dieses Forschungsfelds als Wissenschaft war. Binnen vier Jahren war das Institut mit 5.444 eingeschriebenen Studenten zu einem der größten Institute seiner Art in Deutschland geworden, Altrock soll bis zu 64 Stunden wöchentlich gearbeitet haben, das Institut war an die Grenzen seiner räumlichen Möglichkeiten gekommen.
Altrock, dessen Leitbild und Prinzip die Erziehung und Ausbildung im Sinne der Einheit von Körper und Geist war, verlor trotzdem nicht an Beliebtheit. “Alles überstrahlt aber seine tiefe Menschlichkeit, die Güte und rührende Hilfsbereitschaft, die ihm eigen ist. Deshalb ist auch das Band, das ihn mit seinen Schülern und allen, die das große Glück hatten, als seine Helfer am großen Werk tätig sein zu dürfen, so fest”, hieß es in einem Artikel in einer Studentenzeitschrift 1930 über ihn.
1928 war der Professor in die Wissenschaftliche Gesellschaft für körperliche Erziehung aufgenommen worden, die international tätig war. Über Vorträge im Ausland transportierte er sein Wissen in die Welt und passte sich den politisch-gesellschaftlichen Situationen an. Als mit der Weltwirtschaftskrise auch die Zahl der Erwerbslosen wieder stieg, bot Altrock für diese an seinem Institut Sportkurse an, um den gesundheitlichen Zustand zu verbessern. Manche lernten so kostenlos das Schwimmen.
Im Nationalsozialismus passte sich der Professor an, begehrte nicht auf. Wahrscheinlich war Altrock Politik gegenüber indifferent eingestellt, solange er die Leibesübungen in Ruhe voranbringen konnte. So sieht es Hans Joachim Teichler, Experte bei der Erforschung des deutschen Sports im Nationalsozialismus. Laut ihm war “Altrock aus pragmatischen Gründen Nationalsozialist geworden, dem sein Fach wichtiger war als Politik.”
Trotz dieses Flecks auf seiner Weste: Altrock hat sich, wie kein anderer vor ihm, für die Wissenschaft der Leibesübungen eingesetzt, sich auch mit sportmedizinischen Fragestellungen auseinandergesetzt, beratend bei der Entwicklung von Sportgeräten zur Seite gestanden und sich auch für Sozialschwache engagiert.
In Leipzig erinnert nichts an den Professor, weder auf dem Campus der heutigen sportwissenschaftlichen Fakultät, noch am ehemaligen Gebäude des IfL in der Fichtestraße. “Dort hätte es wahrscheinlich am meisten Sinn, wenn die Universität dies anstreben würde”, meinte Dr. Petra Tzschoppe von der sportwissenschaftlichen Fakultät, die als historische Expertin die Verdienste Altrocks schätzt. “Seine besonderen Verdienste liegen sicherlich im Aufbau der Sportwissenschaft in Deutschland. Mit seiner Tätigkeit an der Leipziger Universität entwickelte sich Altrock zum führenden deutschen Sportwissenschaftler. Das IfL bestimmte in Deutschland das fachliche Niveau, und die Altrock-Schule erlangte Weltgeltung.” Braucht es mehr Gründe für eine Ehrung?
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