Zu jedem Dorf und jeder Stadt gehört der Friedhof. Der Ort, an dem man an all die lieben Verstorbenen denken kann, die das eigene Leben geprägt haben. Menschen, an die wir denken, wenn wir an Heimat denken. Da staunte auch Herausgeber Frank Pasic nicht schlecht, wie selbstverständlich sich das Thema für dieses 19. Heft „Drunter + Drüber“ anbot. Gerade in dieser Zeit, in der sich so viele Menschen heimatlos fühlen.

Dem Gefühl kann man sich nur annähern. Ehrfürchtig. Denn es ist riesengroß – und es wird von manchen Politikern immer wieder missbraucht, eben weil sie wissen, dass dieses Wort etwas ganz Wesentliches in den Menschen anspricht, Gefühle von Geborgenheit, Angenommensein, aber auch eine Sehnsucht danach, so einen Ort im Leben zu finden.

Und dass es schiefgeht, den Heimatbegriff zu überdehnen und in immer irrealere Dimensionen zu steigern, das macht schon Schwarwels Comic mit Herr Tod und Frau Leben deutlich. Denn wenn man anfängt, das ganze Land, gar den Kontinent oder gar den Planeten als Heimat zu bezeichnen, landet man in lauter schönen Phrasen. Aber das alles hat mit dem grundlegenden Gefühl, irgendwo auf der Welt wirklich zu Hause zu sein, nicht viel zu tun. Nein, auch das Land nicht. Egal, wie sehr Nationalisten dieses Märchen beschwören.

Heimat passiert auf einer viel tieferen, viel intimeren Ebene. Und etliche Essays und Interviews in diesem Heft umkreisen diese Frage – und kommen eher selten zu einem eindeutigen Ergebnis. Und das nun einmal auch, weil ein uraltes Selbstverständnis von Heimat schon seit Generationen nicht mehr gilt: Dass man da seine Heimat hat, wo man geboren wurde, gelebt hat und begraben wir.

Ein Normalzustand in Zeiten, als Menschen ihren Geburtsort kaum einmal verließen und ihr ganzes Leben dort verbrachten – und jede Reise, bei der sie diesen Ort verließen, eben auch als eine Reise in die Fremde verstanden. Die Fremde konnte schon die nächste Stadt sein, das nächste Land. Weit genug, dass man zu wichtigen Ereignissen nicht mehr einfach zurückkehren konnte.

Ein Effekt, den heutige Weltbewohner ebenso erleben, wenn sie in anderen Städten oder gar auf anderen Kontinenten einen Job und ein neues Zuhause gefunden haben.

Es geht immer um vertraute Menschen

Und was überall durchschimmert, ist: Die modernen Kommunikationsmittel, die diese Distanzen scheinbar verkürzen, helfen nicht die Bohne. Sie tangieren das Gefühl des Fremdseins überhaupt nicht.

Aber hat das vielleicht etwas mit Religion zu tun? In der Vergangenheit war das eins, das versucht Tobias Prüwer in einem seiner Essays zu erfassen. Da gehörten noch Kirche und Tempel dazu und das Aufgehobensein in einer Gemeinde. Aber das sind alles Dinge von gestern. Längst ist es für die meisten Menschen normal, nicht mehr dort zu leben, wo sie aufgewachsen sind. Manche nehmen ihre Religion mit und finden in ihrer neuen Glaubensgemeinde eine neue Heimat – im Heft zum Beispiel mit Beiträgen über Islam und Judentum vertreten.

Denn eines schält sich auch in jenen Beiträgen heraus, in denen die Autoren ihr persönliches Empfinden von Heimat schildern. Das übrigens nicht immer nur positiv ist, denn dazu gehören eben oft auch Eltern, mit denen man sich zerstritten hat, gewalttätige Kindheitserfahrungen, Mobbing und eine echte Entfremdung, sodass so Mancher mit dem Ort seiner Kindheit so gar nichts mehr anfangen kann. Da werden neue Städte, neue, selbstgewählte menschliche Netzwerke zur neuen Heimat, vermitteln das Gefühl, aufgehoben und verstanden zu werden.

Denn das ist ja eigentlich das stärkste Gefühl, das man mit Heimat verbindet: Niemandem etwas beweisen zu müssen, sondern so angenommen zu werden, wie man ist. Und einfach so auch geliebt zu werden. Was man eben auch wieder mit ganz konkreten Menschen verbindet. Einen Heimatbegriff einfach nur aus Häusern, Bergen, Tälern, Kirchtürmen und Straßen gibt es nicht. Das ist ein falsches Bild, das den Kern verfehlt, dass Heimat ganz konkret mit einem Aufgehobensein unter Menschen zu tun hat.

Verlorene Heimaten

Und da rückt dann auf einmal mit Oskar Ters Beitrag „Beleuchtete Wiesen“ der deutsche Osten ins Bild. Und nicht nur der. Denn aufgewachsen in Bosnien und mit Lebenserfahrungen aus Österreich, Polen und Tschechien, ist ihm dieses Phänomen nur zu gut bekannt, das Menschen erleben, die aus dem Kontext ihrer Kindheitsheimat herausgerissen sind und nun anderswo einen Ort der Geborgenheit suchen.

Ein Gefühl, das die Kehrseite jenes Gefühls ist, das die Dagebliebenen erleben, wenn die Kinder und Enkel fortziehen – wenn also aus den versprochenen „Blühenden Landschaften“ auf einmal leere, beleuchtete Wiesen werden, wo die Träume vom wirtschaftlichen Aufschwung begraben wurden und die Altgewordenen auf einmal ein niederdrückendes Gefühl von Verlust verarbeiten müssen. Und das einer ganz seltsamen Heimatlosigkeit, die entsteht, wenn die Kinder verschwunden sind.

Wenn also auch niemand mehr kommt, das Grab der Gestorbenen zu besuchen, wenn tragende Zusammenhänge einfach zerrissen sind. Und da auch immer Leute am Heft mitschreiben, die selbst mit Trauerkultur zu tun haben, wird natürlich auch emsig erwogen, was Menschen heute eigentlich noch mit den Beerdigungsriten zu tun haben, die für Generationen gültig waren und heute für viele Menschen sogar unbezahlbar geworden sind.

Denn Begrabenwerden ist teuer geworden in Deutschland. Immer mehr Menschen wählen die anonyme Bestattung ihrer Urne im Urnenfeld und rechnen nicht mehr damit, dass sich irgendjemand um die Grabpflege kümmern würde.

Man merkt schon: Mit diesem Thema reißt etwas ganz Wesentliches auf, das viele Menschen in unserer Gegenwart beschäftigt. Und verzagen lässt. Weil sie sich in ihrem Leben fremd und heimatlos fühlen. Heimat steht auch für etwas Stabiles, einen Ort, an den man zurückkehren kann, wenn man draußen in der Welt scheitert. In einem Essay grübelt Tobias Prüwer dann zwar über den „kontaminierten Boden“ Heimat.

Aber das wird er nur, wenn man den Begriff Heimat mit den falschen Inhalten füllt, ihn zu einem Dogma aufbläst, mit dem man Menschen verblöden und zur Schafherde machen kann. Das geht mit dem eigentlich kalten Begriff Nation los und endet auch nicht mit den Kitschpostkarten, die einem Heimat als Idylle von weidenden Kühen und im Tal hockenden Bauernhäusern verkauft. Solche Bilder verstecken nur die oft schäbige und brutale Wirklichkeit.

Weh dem, der keine Heimat hat

Prüwer zitiert am Ende sogar Nietzsche: „Weh dem, der keine Heimat hat“. Womit der Philosoph ja ein Gefühl benannte, dass zu seiner Zeit immer öfter zur Grunderfahrung der Menschen wurde – die zunehmende Mobilität sorgte auch dafür, dass immer mehr Menschen ortlos wurden und sich neue Heimaten erschaffen mussten. Was nicht jedem gegeben ist.

Denn das hat nichts mit Bausparen und Eigenheimbau zu tun, aber sehr viel mit Menschen, die einen aufnehmen, trösten, akzeptieren so, wie man ist. So wie die Oma in Jennifer Sonntags Geschichte „Als sie fortging“, die dem Enkelkind Vertrauen schenkte, obwohl genau das der Oma und der Mutter im Leben nicht gegeben wurde.

Was ja wohl heißt: Wir selbst können Heimat schaffen und geben, wenn wir aufhören, den falschen Heimatbildern anderer Leute nachzutrauern und die Verletzungen unserer Kindheit nicht wieder reproduzieren. Sondern die Menschen um uns so annehmen, wie sie sind.

Womit man bei der Selbstakzeptanz wäre, die viele Menschen irgendwie nicht finden können in sich. Und dann selbst zu Zerstörern von Heimat werden, andere Menschen heimatlos machen. So wie in Tobi Dahmens Comic „Columbusstraße“, der einen eigenen Beitrag im Heft bekommen hat.

Man bekommt also eine Menge Anregungen, sich mit dem eigenen Verortetsein und (Un-)Behaustsein zu beschäftigen. Und der wohl immer aktuellen Frage, was für uns wirklich Heimat ist und wo wir sie suchen. Oder überraschend finden, wenn uns – wie in Christian von Asters Geschichte „Genealprobe“ – alte Kumpel zu ihrer Beerdigungsfeier einladen. Da sollte man auch das Kleingedruckte lesen, um nicht allzu sehr überrascht zu sein.

Frank Pasic (Hrsg.) „Drunter + Drüber. Heimat und Tod“, FUNUS Stiftung, Kabelsketal 2024, 11 Euro.

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