„Nur ein geringer Teil der deutschen Bevölkerung liest regelmäßig in der Bibel, deutlich mehr Menschen finden aber ihre Inhalte interessant“, meldete die Theologische Fakultät der Universität Leipzig am Donnerstag, dem 29. Juni. Es war das Ergebnis einer Studie von Theolog/-innen der Universität Leipzig, die 2022 im Rahmen ihres interdisziplinären Projekts „Multiple Bibelverwendung in der spätmodernen Gesellschaft“ insgesamt 1.209 Menschen mit und ohne kirchliche Bindung befragt haben.
Ihre Untersuchung zur Verbreitung, dem Gebrauch und dem Verständnis der Bibel wurde gerade veröffentlicht. Sie ist die erste repräsentative gesamtdeutsche Studie zu dieser Thematik. Geleitet wurde sie vom Religionssoziologen Prof. Dr. Gert Pickel und Prof. Dr. Alexander Deeg vom Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig.
Aus Sicht der Theologen etwas enttäuschend: „Nur etwa 30 Prozent der Deutschen nutzen die Bibel mindestens einmal jährlich. Täglich lesen in ihr 1,6 Prozent, wöchentlich 3,2 Prozent. Etwas mehr als die Hälfte besitzt ein Druckexemplar des ‚Buches der Bücher‘.“
Wobei der schöne Begriff des „Buches der Bücher“ nicht meint, dass die Bibel das beste und wichtigste alle Bücher wäre, sondern dass sie selbst eine Zusammenstellung mehrerer Bücher ist, angefangen mit den Geschichtsbüchern – darunter den Büchern Mose, Samuel, Rut usw. – bis zu den Büchern des Neuen Testaments. Weshalb die Sammlung dann auf Griechisch „Biblia“ hieß, also Bücher. Auch wenn man das Ganze dann in der Regel in einem einzigen Buch bekommt – oder sich vom Ladentisch schnappt, wie ich meine Bibel-Ausgabe von 1979.
Womit ich nicht allein bin.
„Allerdings finden selbst 40 Prozent der Menschen ohne Konfessionszugehörigkeit biblische Inhalte interessant“, melden die Leipziger Theologen.
Immer weniger lesen in der Bibel
Im Vergleich zu 2014 sei nicht der Anteil der die Bibel Lesenden, allerdings die Häufigkeit der Nutzung gesunken, sagt Alexander Deeg. „Wir sehen, dass die Anzahl der Nichtleser hoch ist“, sagt er.
Gert Pickel fügt hinzu: „Mich hat die relativ geringe Nutzung der Bibel unter Katholiken und Protestanten überrascht.“
Als Grund gaben die Nichtnutzer/-innen meist fehlende persönliche Relevanz der Bibel für ihr Leben an. So antworteten 80 Prozent der Nichtleser/-innen, sie würden keinen Grund sehen, die Bibel zu lesen. Dennoch zeige die Studie, dass „die Bibel als kulturelles Erbe für die Gesellschaft wichtig“ sei, findet zumindest Pickel.
Kann man die Leute wieder neugierig machen auf die Bibel?
Die für Alexander Deeg überraschend hohe Zahl der Menschen mit Interesse an biblischen Inhalten biete die Chance, mit neuen, kreativen Angeboten zur Bibelnutzung jenseits der klassischen Orte wie dem Gottesdienst in der Kirche das allgemeine Interesse an der Bibel zu steigern. Als Beispiel nannte er das 929-Projekt in Israel, bei dem eine große Community jeden Tag eines der 929 Kapitel der Bibel allein liest und sich dann über eine App dazu austauscht.
„Das wäre auch etwas für Deutschland. Ich bin dazu bereits mit der Kirche im Gespräch“, meint Deeg.
Und Gert Pickel hat noch mehr Ideen, wie man vielleicht doch wieder mehr Interesse für die Bibel wecken könnte. So wären etwa die bereits bestehenden und vermehrt von Jüngeren genutzten digitalen Angebote zur Rezeption der Bibel auszubauen. Auch könne er sich beispielsweise in kirchlichen Altenheimen gemeinsame Bibelleserunden vorstellen. Digitale Formate ersetzten die gedruckte Bibel jedoch nicht. Ungefähr 11 Prozent der Bibellesenden nutzen die Bibel der Studie zufolge als E-Book, als App oder auf Webseiten im Internet häufig. Die Hörbibel wird vor allem von älteren Befragten häufig genutzt (9 Prozent).
Aber die Befragung macht eben auch deutlich, dass man – um später irgendwie Interesse an den biblischen Inhalten zu haben – früh in Kontakt kommen muss mit dem, was in der Bibel steht.
Bibelsozialisation im Alter von 4 bis 14 Jahren
Die Bibelsozialisation vollzieht sich nach den Worten Pickels maßgeblich im Alter von 4 bis 14 Jahren. Ein späterer Erstkontakt mit der Bibel ist eher selten. Sozialisationsorte der Bibel sind vorrangig der Religionsunterricht an Schulen, Gottesdienste und Vorbereitungsunterricht für Konfirmation und Firmung, gefolgt von den Eltern und Großeltern. Die Mehrheit der Befragten begegnet der Bibel vorrangig im Gottesdienst, stellen die Theologen fest.
Was eben auch bedeutet: Die Nutzung ist aufs Engste verbunden mit der Nähe der Menschen zur Kirche. Woanders wird ihnen diese Begegnung kaum zugemutet.
Und natürlich ist es eine Zumutung. Es ist nun einmal kein Kochbuch und auch kein Fantasy-Roman, sondern die Geschichtensammlung zweier großer Religionen, bei der selbst Politiker mit dem C im Parteinamen oft nicht wissen, ob sie nun wirklich zu unserer irgendwie diffusen „Leitkultur“ gehören oder vielleicht eher doch nicht.
Die Studie ergab auch, dass mehr Männer als Frauen zur Bibel greifen, stellten die Forscher noch fest.
Und sie merken an: „Bibellesende sind der Studie zufolge überwiegend der Meinung, dass ihnen dieses besondere Buch auch heute noch etwas zu sagen hat und die Ansprüche der Bibel durchaus auf die heutige Zeit übertragen werden können“. Und dann kommt es: „90 Prozent der Bibellesenden und 63 Prozent derjenigen, die nicht in ihr lesen, sind der Ansicht, dass die Bibel zentrale Normen und Werte für die Gesellschaft überliefert.
46 Prozent der Bibellesenden vertreten darüber hinaus die Meinung, dass Politik auf Grundlage der Bibel betrieben werden sollte.“
In der Politik hat die Bibel nichts verloren
An der Stelle steige ich aus. Politik auf Grundlage der Bibel hatten wir mal – und es war eine ungerechte, patriarchalische und moralisch verzopfte Welt. Was nicht immer an dem lag, was wirklich in der Bibel steht, sondern an dem, was mächtige Männer sich zweckweise herausgelesen haben.
Das ist die Gefahr an Büchern, gerade solchen, die mit Gleichnissen und Bildern arbeiten wie die Bücher der Bibel: Sie sind interpretierbar. Und sie können den Leser ermuntern, sich andere und neue Gedanken über sein Leben zu machen. Sie können aber auch zum Dogma gemacht werden. Und genau die Gefahr besteht, wenn Bibeltexte zu Politik gemacht werden. Was meistens genau dann passiert, wenn uralte, längst überholte Vorstellungen von Gesellschaft, Moral und Ehe propagiert werden sollen.
Tut mir leid: Nein, in der Politik hat die Bibel nichts verloren.
An anderer Stelle kann sie bereichernd sein. Das stimmt.
Die Mehrheit der Bibellesenden findet es bereichernd, wenn die Inhalte unterschiedlich ausgelegt werden, stellen die Leipziger Theologen nämlich auch noch fest. „Diese pluralen Deutungen haben mit den unterschiedlichen Lebenssituationen zu tun“, erklärt Deeg etwas einschränkend.
Die unterschiedlichen Deutungen haben auch mit unterschiedlichen Positionen in der Gesellschaft zu tun, mit unterschiedlichen moralischen und intellektuellen Haltungen. Und auch mit dem Anspruch, mit dem man diese Texte liest – als Lebensratgeber, Unterhaltung oder auch mit wissenschaftlichem Interesse.
„Während in den USA regelmäßig Studien zur Nutzung der Bibel veröffentlicht werden, ist darüber in Deutschland relativ wenig bekannt“, stellen die Leipziger Theologen noch fest. „Die letzte Studie zur ‚Bibelfrömmigkeit‘ in Deutschland stammt aus den 1980er Jahren.“
Ende der Frömmigkeit
Schon am Wort Bibelfrömmigkeit merkt man, dass sich in den vergangenen Jahren gewaltig etwas geändert hat. Nicht nur, dass Gläubige scharenweise die beiden großen Kirchen verlassen. Die Menschen empfinden Frömmigkeit ganz und gar nicht mehr als sinnvolle Lebenshaltung. Sie sind kritischer geworden und glauben nicht mehr so schnell, was ihnen vorgebetet wird.
Trotzdem begegnen sie immer wieder biblischen Bezügen. Das lässt die Meldung der Uni Leipzig nämlich weg: Dass viele, sehr, sehr viele Motive der europäischen Kunst und Literatur direkte Bezüge zur Bibel haben, deren Texte aufgreift, ausmalt, in Geschichten, Bildern und Lieder (auch Rock-Songs) verwandelt. Viele Sprüche und Gleichnisse sind Teil der Alltagskultur – auch durch die wortgewaltige Übersetzung Martin Luthers.
Man muss in der Bibel nachschlagen, wenn man wissen will, was gemeint ist, wenn jemand sein Licht unter den Scheffel stellt oder den ersten Stein wirft, was es mit dem Kamel zu tun hat, das leichter durch ein Nadelöhr kommt als ein reicher Mann, oder mit Petrus und dem krähenden Hahn.
Es stecken starke Geschichten darin, die es sich auch heute noch lohnt, zu lesen und zu interpretieren. Selbst dann, wenn man zuvor nichts vom hilfreichen Samariter oder den Leiden des armen Lazarus gehört hat. Wenn man darüber stolpert, kann man nachlesen. Irgendwo in dem dicken Buch steht es dann. Und oft steht es da ein bisschen anders, als es heutige Moralisten so gern behaupten. Auch dafür ist die Bibel gut. Man muss nicht alles glauben, was einem aufgetischt wird. Und ich schätze, das ist auch der Grund, warum auch andere immer wieder zu dem dicken Buch greifen. Um nachzuschauen, was wirklich da drin steht.
Deswegen steht sie auch bei mir in greifbarer Nähe.
Zur Erhebung: Für die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Studie „Multiple Bibelverwendung in der spätmodernen Gesellschaft“ wurden Proband/-innen ab 16 Jahren nach dem Zufallsprinzip ausgesucht und telefonisch oder digital zum Thema befragt. Ein Drittel von ihnen ist konfessionslos, ein weiteres Drittel evangelischen und ein Drittel katholischen Glaubens.
Die Veröffentlichung: „Dimensionen biblischer Relevanz“
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