So geht das los im schรถnsten Sommersonnenschein. Die Ferien haben kaum begonnen. Da erinnern die ersten Kalender fรผrs neue Jahr daran, dass auch das Jahr 2023 endlich ist. Endlich und kurz. Kaum hat man sich an die langen Tage gewรถhnt, beginnen sie schon wieder abzuschmelzen. Da sollte man die Zeit vielleicht doch noch nutzen, sich die schรถnen Seiten der in der Sonne badenden Stadt anzuschauen.
Wobei Wolfgang E. Fischer, der die Fotos fรผr den kleinen Tischkalender aus dem Sax-Verlag diesmal beigesteuert hat, auch zeigt, dass die Stadt auch in anderen Jahreszeiten eindrucksvolle und sogar poetische Seiten hat. Man muss sie nur sehen wollen. Wozu man am besten innehรคlt und nicht mehr eiligst rennt, von Termin zu Termin hetzend. Was natรผrlich Fuรgรคngern viel leichter fรคllt als den armen Leuten, die ihre eng terminierten Wege in der Stadt immerzu mit dem Auto zurรผcklegen mรผssen.
Denn was steckt eigentlich hinter all dem Frust, den die Leipziger Autobesitzer schieben, wenn sie Straรenraum wieder fรผr Radfahrer und Fuรgรคnger abgeben mรผssen? Einfach nur die Verachtung fรผr all diese schwรคcheren Verkehrsteilnehmer, die so ganz ohne dicken Motor trotzdem ihr Recht beanspruchen, auf Leipziger Straรen und Wegen ungehindert und unbedrรคngt vorankommen zu dรผrfen?
Ist es nicht eher dieses Misstrauen in die geringere Geschwindigkeit, hinter der ja noch viel Unheilvolleres lauert: Nรคmlich die Ahnung, dass die ganze Hektik, Eile und Raserei, die die vom Leistungsdruck getriebenen Groรstadtbewohner verinnerlicht haben, falsch sein kรถnnten? Eine vรถllig verkorkste Vorstellung von dem, was im Leben wirklich wichtig ist?
Die Lust am Nachdenken beim Gehen
Aber was ist dann wichtig?
Darรผber lรคsst sich natรผrlich leichter nachdenken, wenn man zu Fuร unterwegs ist und dabei auch noch die Muรe hat, sich die schรถnen Ecken dieser Stadt wieder bewusst zu machen. Nicht einfach durchzueilen ohne Blick fรผr Licht und Pracht und Schรถnheit. Manchmal sieht man sie ja stehen, die verdutzten Groรstadtbewohner, wenn sie die Blรผtenpracht am Mendebrunnen bewundern und sich daran erinnern, dass blรผhendes Kraut und summende Insekten etwas zutiefst Lebendiges und Beruhigendes ausstrahlen.
Eine Erinnerung daran, dass der Mensch eigentlich lieber in blรผhenden Wiesen steht als auf gepflasterten Plรคtzen, die in der Sonne schwitzen.
Und das ist nur das Titelfoto, mit dem Fischer einlรคdt in seinen kleinen Kalender, mit dem man sich einige schรถne Blicke auf die Stadt auf den Schreibtisch holen kann. So etwa die Holzbrรผcke im Johannapark, die von jener ganz besonderen Stille im Januar erzรคhlt, wenn es knackekalt ist und der Park einmal nicht von Vergnรผgungssรผchtigen wimmelt. Selbst das Alte Rathaus im Schnee strahlt eine Stille aus, die man hier am belebten Leipziger Markt eher selten erlebt. Eingefangen an einem der mittlerweile selten gewordenen Schneetage, die Leipzig in Zeiten der permanenten Klimaerwรคrmung noch erlebt.
Im Lauf der Monate
Die Krokuswiese im Johannapark lieben alle, die zu Fuร oder mit dem Rad vorbeikommen. Wenn es hier in den Leipziger Stadtfarben blรผht, dann ist das Frรผhjahr tatsรคchlich im Anmarsch. Oder Anflug. Oder im Aufblรผhen, je nachdem, wonach man sich in diesen noch laublosen Tagen am meisten sehnt. Und so geht das im April munter weiter, wenn die Schneekirschen auf der Thomaswiese blรผhen und jeder sich im dicken Polster trotzdem hinsetzt und die Sonne unter weiรen Blรผten genieรt, auch wenn es noch kalt um die Ohren zieht.
Spรคtestens ab Mai ist es dann endlich so weit, dass man auch in den sich mehrenden Leipziger Freisitzen aushรคlt โ so wie in der zur Fahrradstraรe gewordenen Schillerstraรe. Die Fritz-von-Harck-Anlage fand Fischer genauso fotogen wie den Freisitz des Restaurants Schrebers und die Badestimmung am Kulkwitzer See. Dies alles kommt, bevor ihn im Oktober mit dem Vรถlkerschlachtdenkmal dann die zunehmende Herbstnachdenklichkeit einholte, die in doch sehr zurรผckgenommene Vogelsichtbilder von City und Weihnachtsmarkt im November und Dezember in jene festliche Nachdenklichkeit mรผndete, die das Jahresende fรผr gewรถhnlich begleitet.
Da kann dann meistens keiner mehr der Erkenntnis ausweichen, dass der Kalender bald zu Ende betrachtet und das Jahr auf ein paar wenige Tage zusammengeschmolzen ist, in denen man dann noch lauter Dinge unterzubringen versucht, die man zuvor vor lauter Geschรคftigkeit nicht geschafft hat.
Dabei lรคdt doch alles schon frรผhzeitig im Jahr dazu ein, auf diese ganze Betriebsamkeit zu pfeifen. Sie verschlingt unser Leben, ohne dass wir etwas davon haben. Die Tage verschwinden in vorbeihuschenden Farben. Aber gesehen und genossen haben wir nichts.
Die richtige Zeit also, doch das langsamere Spazieren wieder zu รผben, das wilde Ross zu zรคhmen und sich Zeit zu nehmen, die Stadt wieder zu betrachten wie einen lebenswerten Ort. Und natรผrlich, sich einen Kalender zu besorgen, der einen beim Umblรคttern jedes Mal daran erinnert, dass es Zeit nicht im Supermarkt gibt, sondern nur dann, wenn man sie sich nimmt.
Wolfgang E. Fischer โLeipzig. Tischkalender 2024โ, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2023, 5,95 Euro.
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