Montagabend, 17. Oktober 2022. Jakob Augstein lädt ein zum „radioeins & Freitag Salon“. In der Ankündigung seiner Talk-Reihe heißt es ambitioniert, dass hier die „Erregungsmaschine des Internets verstummt“. Und wo „echte Menschen über echte Themen reden“. Nach Prominenten, wie zuletzt Margot Käßmann und Marcel Fratzscher, hatte der 55jährige Journalist und Buchautor Augstein diese Woche die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk (39), Bachmann- Preisträgerin 2018, in seiner einstündigen Radiosendung zu Gast.
Es war wohl nicht der Altersunterschied, der dieses Gespräch zu einer schwierigen Herausforderung für den Freitag-Verleger werden ließ. Am vorangegangenen Mittwoch, den 12. Oktober, teilte er mir und dem Publikum in einer Podiumsdiskussion in der „Schiller-Akademie“ mehrfach mit, dass ihm vor diesem Gespräch am kommenden Montag „mulmig sei“, er mit gemischten Gefühlen dem Treffen mit Maljartschuk entgegensehe.
Warum? Fragte ich ihn. Tanja Maljartschuk (hier beim Kiepenheuer Verlag) würde „dem Gerede vom `Brudervolk ́, das nirgendwohin führe“ konsequent entgegentreten und eine bis ins 12. Jahrhundert zurückreichende russische Okkupations-Tradition als Beweis für die Unversöhnlichkeit beider Nationen definieren. Dem könne er schwer folgen. Ich glaubte Augstein anzumerken, dass ihm die Personal- und Themenkette der Schriftstellerin, in der Westukraine geboren – die mit ihm über den Krieg und das Ende desselber reden würde, tatsächlich nicht ganz geheuer war.
Ihm, der ansonsten auf der gesamten rhetorischen Klaviatur zu spielen in der Lage ist.
Schon in der „Schillerakademie“ war sein Kurs ambivalent, mäandernd, suchend: Vom ausweichenden Antworten, dann wieder klugen Analysen bis hin zur Koketterie („Warum fragen Sie mich das? Ich trage keine Verantwortung. Das müssen Sie die Politiker fragen.“) Nein, einfach war das fast zweistündige Gespräch mit ihm nicht.
Dennoch habe es ihm Spaß gemacht, mit mir und den Schülern zu sprechen – wie mir Augstein anschließend nach der Veranstaltung am 12. Oktober in Leipzig mitteilte.
Das Berliner Gespräch zur Ukraine
Dann kam er, der 17. Oktober in Berlin (zum Audio des Gespräches), von Augstein mit besagtem „mulmigem Gefühl“ erwartet und auch von Maljartschuk „befürchtet“. Und der Rollentausch. Augstein nun nicht mehr der Befragte, sondern der Journalist, der selbst „ärgerliche“ Fragen im Interview stellen möchte. Und – so viel schon vorab – er sollte in einer mittleren Gesprächs-Katastrophe enden, dieser Berliner Abend.
Vielmehr zeigte er die Unvereinbarkeit zweier Wahrnehmungs- und Befindlichkeits-Welten, die so weit voneinander entfernt waren, wie auch momentan mögliche Auswege aus dem grausamen Kriegsgeschehen zwischen Russland und der Ukraine hin zu einer friedlichen Konfliktlösung kaum erreichbar scheinen.
Für die eine Seite gibt es das Gut-Böse-Schema (Maljartschuk), das Augstein hinterfragen will. Um Nachfragen-Können ringt. Es sollte nur bei Absichtsintentionen bleiben. „Ich bin froh hier zu sein, dann brauche ich mich nicht mehr zu fürchten“, begegnete Maljartschuk dem Versuch Augsteins, mit einer wohltemperierten Eröffnung und Vorstellung der ukrainischen Schriftstellerin die Sendung zu beginnen.
Sofort ist man „in medias res“ – beim Krieg
Tanja Maljartschuks Stimme zittert bei der Erklärung, dass sie seit Februar 2022 aufgehört habe, als Schriftstellerin zu existieren – Augstein: „Aber Sie haben doch erst vor kurzem einen Essayband veröffentlicht?“ – sie entschuldigt sich für ihr österreichisches Deutsch (Maljartschuk lebt seit 2011 in Wien), ziemlich schnell steigen die atmosphärischen Temperaturen im Berliner Literaturhaus, auch das Publikum scheint „bewegt“, so dass Augstein früh eingreifen und darauf hinweisen muss, dass nach der 50minütigen Live-Sendung noch ausreichend Gelegenheit sei, Fragen und Reaktionen loszuwerden. Augstein: „Dann können Sie mich beschimpfen.“ Maljartschuk: „Oder mich.“
Augstein verweist auf seinen letzten Gast, Margot Käßmann, Ex-EKD-Präsidentin. „Wenn ich Ihre Texte, Frau Maljartschuk, lese, dann erübrigt sich die Frage, ob Sie Pazifistin sind. Aber, waren Sie es mal?“
„Vielleicht. Aber jetzt ist Krieg. Die Realität hat sich geändert“, so Maljartschuk. Die gegenseitige Misstrauens-Spirale beginnt sich weiterzudrehen. Augstein, verwundert – das äußerte er auch schon im Gespräch in der Vorwoche – wie viele Ukrainer: innen, aber auch Intellektuelle in Deutschland, Amerika so schnell diesen Krieg befürworteten, keine Zweifel hegten, keine Unsicherheit zeigten, stattdessen jetzt so „kampfesgewiss“ seien.
Damit beginnt auch die Linie zum Berliner Gespräch: Kein Verstehen und Verständnis auf der Gegenseite. Wie auch, definiert Maljartschuk Volk und Regierung der Ukraine „als eins“ und mit „Das ist so.“ – Mit gesetzten Sätzen. Man hört förmlich Augsteins Kopfschütteln im Radio.
„Sie sind gleich dran. Halten Sie durch, das schaffen sie schon.“ Augstein mahnend-gereizt ins Publikum. Und betont den Zweifel, den er hat, hält ihn für ein unverzichtbares Element eines distanziert-intellektuellen Journalismus. Betont wird von ihm der völkerrechtswidrige Charakter des russischen Angriffskrieges, aber streitet sich mit Maljartschuk anschließend über die auch hierzulande oft betonte Singularität des Ukraine-Krieges. Augstein: „Als würde die Welt neu erfunden werden.“ Und weiter: „Reden Sie auch mit Leuten in der Ukraine, die nicht diesen großen Kampfeswillen zeigen? Die sagen, wir wollen, dass dieser Krieg endet, auch zu Bedingungen, die unser Präsident nicht akzeptiert?“
Maljartschuk: „Nein. Solche Menschen kenne ich nicht.“
Verhandeln? „Sich aufgeben?“ Jetzt ist das Gespräch in der großen Sackgasse. Wie soll man aus diesem Konflikt wieder herauskommen? Frieden – und zu welchen Bedingungen? Maljartschuk führt die Parallele Putin-Hitler an. Augstein fragt nach: „Finden Sie den Vergleich legitim?“ „Nein“, so Maljartschuk. „Warum bringen Sie ihn dann?“ – „Weil wir aus der Geschichte lernen sollten.“
Ein enervierendes Hin und Her bestimmt mehr und mehr das Raumklima, man beginnt durcheinander zu sprechen, lässt sich nicht ausreden. Es habe „zu nichts geführt“, mit Putin zu verhandeln. Die Rollen im Interview scheinen zu wechseln; Maljartschuk wird zunehmend erregter, die Emotionskurve zeigt eindeutig nach oben. Und der dramaturgische Höhepunkt ist erreicht, als Augstein die Ukrainerin fragt, wie dieser Krieg denn anders als mit Friedensverhandlungen – „Denn mit Freunden bräuchte man ja nicht zu verhandeln“ – enden sollte.
Maljartschuks knappe Antwort: „Mit der Kapitulation Russlands.“
Und der Rest?
Der ist nun nicht gleich Schweigen. Vielmehr Eskalation im Gespräch, es gerinnt beinahe zum kommunikativen „Splatter-Movie“, als Maljartschuk Augstein die Rechtfertigung der Krim-Annexion 2014 vorhält, der sich wiederum nicht erinnern kann, vom Publikum hämisch ausgelacht wird. Maljartschuk fühlt sich „in die Ecke gedrängt“, verteidigt sich, indem sie Augstein einen „Putin-Versteher“, unwissend und arrogant nennt. (Er: „Dann bin ich wenigstens in guter Gesellschaft.“)
Letzter Akt. (Augstein nennt das Gespräch in einer Radiopause mittlerweile schon „Gemetzel“.) Stichwort: Atomkrieg. Und der Angst davor. Augstein zitiert den Selenskij-Berater Oleksey Arestowitsch aus einem ZEIT-Interview „Können Sie mir einen Gefallen tun und den Deutschen ausrichten, dass wir Ukrainer keine Angst vor einer atomaren Bedrohung haben.“
Beide sind sich einig, dass wäre das Ende. Immerhin etwas.
Was noch folgt, sind Tränen, eine maßlos enttäuschte Tanja Maljartschuk und ein sichtlich oder besser hörbar ernüchterter – und ebenso enttäuschter? – Jakob Augstein. Beim gegenseitigen Verstehen – kein Weg nirgends.
Auch das macht der Krieg.
Zum Gespräch als Audio auf Radio 1 / RBB im Netz
Keine Kommentare bisher
Vielen Dank für diesen sehr interessanten Bericht. Es scheint der einzige Bericht oder Beitrag im Netz oder auf Twitter zu sein, der sich um eine Mehrperspektiven-Sicht bemüht.
Mich hat Augsteins-Argumentation nicht gestört, aber seinen Tonfall fand ich unpassend.
Interessanter ist aber noch, dass keiner der vielen Kommentatoren im Netz auf die Position von Maljartschuks (z.B. Kapitulation Russlands als Voraussetzung für ein Kriegsende) eingeht. Das ist der Sicht einer Ukrainerin durchaus verständlich. Das eine solche Sichtweise aber bei uns quasi zum Gessler-Hut erhoben wird, finde ich irritierend. Eine Lösung wird man damit sowieso nicht erreichen können.