Falsches Denken führt zu falschen Ergebnissen. Das ist in der Weltpolitik genauso wie beim Absagen einer Buchmesse. Meist stellt sich erst hinterher heraus, wie falsch man vorher gedacht hat. Es hat doch so prima geklappt. Keiner hat widersprochen. Bis die Großen Tiere beschlossen, ihrer Wege zu gehen. Wer braucht schon Leipzig?
Eine Frage, die man sich schon früher hätte stellen können. Denn seit Jahren war sichtbar, dass nicht das Leipziger Lesefest „Leipzig liest“ von der Leipziger Buchmesse lebt, sondern die Buchmesse von „Leipzig liest“. Was anfangs als Notlösung erfunden wurde, um die kleine Leipziger Buchmesse gegen die große Branchenmesse in Frankfurt am Main abzusetzen, hat sich im Lauf der Jahre zum eigentlichen Leipziger Zugpferd entwickelt.Auch die großen Verlagsimperien kamen vor allem deshalb nach Leipzig, weil sie hier ihre Autoren und Bestseller an unterschiedlichsten Orten vor interessiertem Publikum präsentieren konnten. Das Messegeschäft selbst stand dabei nie im Mittelpunkt. Die großen Geschäfte wurden und werden in Frankfurt gemacht.
Das seltsame Wesen Buch
Aber das Buch ist ein eigenartiges Ding. Das liest man zwar meistens allein, zu Hause oder im Garten, auf der Couch, im Lesesessel, im Zug, am Strand. Aber kaum ein Konsument ist so gesellig wie der Leser. Er will seine Autorinnen auch mal kennenlernen, sehen, wie sie wirklich sind. Im richtigen Leben. Will sie lesen hören oder ihnen einfach mit strahlenden Augen vorstammeln, wie einen ihr Buch hin- und weggerissen hat.
Wenn über die Leipziger Buchmesse vor der Wiedervereinigung erzählt wird, erinnern sich die üblichen Selbstdarsteller fast alle nur daran, wie sie dort Bücher aus Westverlagen klauten. Als wäre das ein besonderer Akt der Widerständigkeit gewesen.
Aber das sind die Märchen der Strolche, die auch mit Renteneintritt nicht erwachsen geworden sind. Wir anderen haben Schlange gestanden, um unsere Autoren und Autorinnen zu sehen. Und wenn auch nur von ganz hinten im vollgepropften Saal. Auch die „alte“ Leipziger Buchmesse lebte vor allem davon, dass man all die Schriftstellerinnen und Dichter endlich mal in echt erleben konnte, nach deren Büchern man im Buchladen mit zitternder Stimme fragte, weil sie Bückware waren.
Aber Bücher sind ja keine Bückware mehr. Das hätte man sehen können. Auch dass die Säle zu den Lesungen trotzdem voll waren und die Augen der Alten und der Jungen leuchteten, wenn sie ihrem heimlichen Star tatsächlich endlich Auge in Auge gegenüberstehen durften.
Der nicht deshalb ein Star ist, weil er vielleicht mal in irgendeiner Talkshow zu sehen war. Da sieht man diese Wagemutigen nämlich selten, von denen eine ganze Menge verflixt schüchtern, unsicher und gehemmt sind. Denn gute Literatur entsteht aus wilden Zweifeln – auf der Suche nach dem, was uns wirklich aufregt und umtreibt.
Das merkt man beim Lesen.
Und auch deshalb fährt man dann, wenn Bücherfrühling ist, hin und will sie einfach sehen, die da für uns schreiben. Und manchmal auch nur deshalb, weil man mit ihnen fühlt und ihnen sagen will: Ich habe das genauso erlebt.
Eine unüberlegte Absage
Und dann so etwas: Eine Absage wie ein nasser Waschlappen.
Eine Absage, die man so nur macht, wenn man gar nicht mehr weiß, warum all die Leute in den vergangenen Jahren eigentlich nach Leipzig gekommen sind, manche gleich im Lieblingsoutfit ihres Manga-Helden. Warum Literatur eigentlich Menschen so fasziniert und was sie eigentlich auf Buchmessen suchen. Gesucht haben. Gesucht haben werden.
Sie merken schon: Das Thema ist nicht zu Ende erzählt. Und der Sturm, der sich erhob nach dieser flapsigen Absage, der hat sich noch nicht gelegt. Im Gegenteil: Autoren, Locations und Verlage haben sich das nicht gefallen lassen. Haben sich in unterschiedlichsten Zirkeln zusammengetan und alle längst geplanten Lesungen und Veranstaltungen in lauter eigenen Leipzig-liest-weiter-Programmen gesammelt.
Auch die LZ hat das getan und ihren Teil zum Leipziger Lesefrühling im Felsenkeller und in der Moritzbastei zusammengesammelt. Die Stadt hat Geld, das sowieso für „Leipzig liest“ vorgesehen war, bereitgestellt, um diese Veranstaltungen zu unterstützen, die eben keine Ersatzveranstaltungen sind. Das merkt man auch an den Einladungen all der Verlage, die mit ihren Autorinnen im März nach Leipzig kommen. „Leipzig liest“ war das Herz der Leipziger Buchmesse. Und die Zweifel wachsen, ob die Messe 2023 so weitermachen kann wie bisher, wenn sie nicht alles vom Kopf auf die Füße stellt.
Was in der neuen LZ noch so steht
Die neue Ausgabe der LZ widmet sich natürlich erstens dem Drama um die abgesagte Buchmesse und zweitens natürlich dem Programm von weiter:lesen, das am 19. und 20. März mit 40 Lesungen und Party allein schon in den Felsenkeller lockt.
Weitere Informationen, Terminübersicht und Tickets zum „weiter:lesen22“-Festival
Und zweitens auch noch weitere Geschichten, in den die Ungewissheiten der Realität ihren Niederschlag gefunden haben.
Etwa Teil 3 und Finale von Lucas Böhms Geschichte „15 Jahre hinter Gittern – eine Ex-Gefangene erzählt“. Eine Geschichte aus dem realen Leben und ein Blick in eine Welt, die die meisten von uns nie kennenlernen. Weshalb sie auch nicht wissen, wie lang der Weg zurück ins Leben ist. Seite 3
Drei Geschichten auf den Seiten 4 und 5 beschäftigen sich mit dem eigentlichen Leiden in der Corona-Zeit, das öffentlich praktisch nicht sichtbar wurde, weil Menschen in dieser Situation nun mal keine Öffentlichkeit haben: die Einsamkeit. Denn die macht krank. Ohne andere Menschen, die uns verstehen und uns erden, können wir nicht leben. Was da alles mit drinsteckt, thematisiert ein Interview von Antonia Weber mit Pfarrer Andreas Dorn.
Wer nicht mitbekommen hat, was im letzten Stadtrat passierte, findet das in einer Auswahl auf den Seiten 6 und 7.
Auf den Seiten 8 und 9 gibt es das weiter:lesen-Programm.
Auf Seite 11 eine Auswahl von Lucas Böhmes Gerichtsberichten.
Auf Seite 13 versucht Lucas Böhme zu analysiert, wie es eigentlich zu unseren heutigen Krisen und zum Krieg in der Ukraine kommen konnte. Denn der erzählt letztendlich vom falschen Denken in der westlichen Weltpolitik, die viel zu lange blind im Fahrwasser der USA-Außenpolitik mitgeschwommen ist.
Auf Seite 15 machen sich David Gray und Jens-Uwe Jopp auf verschiedene Weise Gedanken über das Funktionieren in der Pandemie-Zeit.
Auf Seite 16 nimmt Jens-Uwe Jopp mit der Rezension von Michael Lüders’ „Die scheinheilige Supermacht“ die Außenpolitik der USA auf andere Weise unter die Lupe, während Constanze Caysa aus philosophischer Perspektive beschreibt, warum Ahnungen mehr sind als nur Ungewissheiten.
Birthe Kleemann interviewt auf Seite 17 Leipzigs „Nachtbürgermeister“ und Felix Heukenkamp aus dem Elipamanoke – ein Doppelinterview übers Leipziger Nachtleben, das sie auf Seite 18 spiegelt, mit einem Text über die fast vergessene Leipziger Clubszene im Jahr zwei der Pandemie.
Sascha Bethe nimmt auf Seite 20 Abschied von einer aufwühlenden Weltreise.
Und wie es bei den L.E. Volleys weitergeht, erzählt Jan Kaefer auf Seite 21.
Warum nun die Scheidungsraten in der Pandemie so hochschnellen, beschäftigt Tom Rodig auf Seite 23. Unter anderem. Denn die Ehe nach bürgerlichem Gesetzbuch ist ja nicht das einzige Sperrgut am Straßenrand, das davon erzählt, dass eine überdrehte Gesellschaft wie die unsere voller falscher Wahrheiten und Selbstverständlichkeiten steckt, die im realen Leben nicht wirklich funktionieren.
Es ist ja nicht nur Möchtegern-Zar Wladimir, über den wir uns so viele falsche Illusionen gemacht haben. Noch viel mehr Illusionen machen wir uns über den Zustand unserer eigenen Gesellschaft. Und über das, was wirklich wichtig ist. Und zukunftsfähig.
Die neue Leipziger Zeitung (LZ), Ausgabe 99, erschien am 25.02.2022, die unsere Abonnenten natürlich im Briefkasten vorfinden. Für alle anderen erhältlich an allen bekannten Verkaufsstellen.
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