Der Monat verfliegt. Kaum hat man das neue Kalenderblatt umgeschlagen, merkt man verdattert, dass gleich der nächste Monat anfängt. Und der eben noch neu war, ist weg, als hätte ihn jemand gemaust. Die Katze vielleicht. Aber die schaut so unschuldig, als könnte sie keiner Maus was zuleide tun. Wer also dann? Der DHL-Bote? Oder der Sockenfresser aus der Waschmaschine? Wer war's?
Eine Zeitung kann wie ein memento mori sein. Und meistens funktioniert sie auch so. Man holt sie aus dem Briefkasten, freut sich wie über einen kleinen Blumenstrauß am Morgen, brüht sich seinen Kaffee auf und macht es sich gemütlich in Opas altem Sessel. Nur da kann man sie lesen. Und siehe da: Schon gleich auf Seite eins, fein platziert am rechten Rand, empfängt einen das freundliche „Guten Morgen“, das, was die Schlaumeier in der Redaktion so gern Editorial nennen, auch wenn es keines ist.Ein richtig gutes Editorial ist ein freundliches „Hallo! Schön, dass Sie da sind.“ Und dann erzählt mir der Bursche, den ich manchmal beim Bäcker treffe, wo er sich seine drei Semmeln holt, warum das eine Thema im Blatt diesmal wichtig ist. Das will ich schon gern wissen.
Denn eine Zeitung ist – heute erst recht – ein kleiner Wegweiser. Sie sagt mir nicht, dass wieder unheimlich viel passiert ist. Das weiß ich selbst. Sondern, was vielleicht wichtig ist, dass wir es uns merken. Und später wieder nachlesen können. Weil wir es vergessen haben. Oder nicht bemerkt haben, dass es wichtig war. Oder überhaupt nichts gemerkt haben. Siehe oben: Monat vorbei – und es ist, als wäre nichts geschehen. Dabei ist ganz viel geschehen. Manchmal auch Unerhörtes. Oder Witziges.
Am 1. April zum Beispiel gab es die Sondersitzung im Landtag zum Munitionsdiebstahl beim LKA. Und Valentin Lippmann von den Grünen sagte: „Nach der heutigen Sitzung des Innenausschusses gilt es zu konstatieren, dass dies definitiv nicht die letzte Sitzung des Innenausschusses zum Munitionsdiebstahl sein wird. Wir stehen gerade erst am Anfang der Aufklärung eines weiteren Polizeiskandals. Die Sitzung hat erhebliche Defizite bei der Kontrolle der Spezialeinheiten im Freistaat Sachsen offenbart, insbesondere bei der Verwendung von Munition. Es ist erschütternd, wie einfach es offenbar ist, tausende Schuss Munition zu entwenden.“ Das sollte man sich schon merken.
Am 2. April meldete der Landkreis Leipzig Corona-Testungen im Minutentakt: „Auch am Karfreitag stand morgens eine kleine Schlange vor dem Corona-Testzentrum des Gesundheitsamtes in der Bornaer Brauhausstraße. Die meisten Testwilligen wollten die Familienbegegnungen zu Ostern mit einem negativen Schnelltest absichern. Andere wurden zu Kontrolltests am Ende der Quarantäne eingeladen oder um positive Schnelltests durch einen PCR-Test zu überprüfen.“
Am 3. April meldete der Flughafen Dresden: „Nach rund sechsmonatiger Unterbrechung gibt es am Flughafen Dresden wieder Urlaubsflüge nach Mallorca. In den Osterferien verbindet Ryanair die sächsische Landeshauptstadt mit der Baleareninsel. Eine Boeing 737 hob an diesem Sonnabend, 3. April, um 15:43 Uhr nach Palma de Mallorca ab. Einen zweiten Flug plant Ryanair für den 10. April.“ Wer erinnert sich später noch daran, dass Corona die Billigflüge nach Mallorca monatelang unmöglich gemacht hat?
Am 4. April war Sonntag. Ostersonntag auch noch. Aber der Basketball-Verein NINERS Chemnitz blickte mal kurz auf die seltsame Corona-Saison zurück: „Die bisherige Saisonausbeute der NINERS von neun Saisonsiegen verdient umso mehr Respekt, da sie bisher von Corona gebeutelt wurden wie kein anderes Team der Liga. Schon dreimal – im Oktober, im November und zuletzt im Februar – wurden die Sachsen durch Quarantänemaßnahmen aus ihrem Rhythmus gebracht. Trainer Rodrigo Pastore entwickelte mit seiner Mannschaft jedoch eine Art Wagenburgmentalität. Am Donnerstag fuhren die NINERS einen souveränen 89:76-Sieg in Frankfurt ein.“
Am 5. April zeigte sich die Kunstplattform Mehrzahl ziemlich sauer darüber, dass einfach nicht klar war, ob man die geplante Ausstellung in der Spinnerei nun öffnen könnte: „Diesen Freitag, den 09.04.2021 eröffnet die studentische Gruppe Mehrzahl die Ausstellung Seasonal Black in der 900 qm großen Werkschauhalle der Baumwollspinnerei Leipzig. Aufgrund der unklaren politischen Ansagen auf Bund- und Länderebene bzgl. der Corona-Beschränkungen ist es bis wenige Tage vor der Eröffnung nicht final geklärt, ob Freitag vor Ort eröffnet werden kann. Mehrzahl hat daher entschieden, trotzdem aufzubauen und zusätzlich virtuelle Formate anzubieten!“
Am 6. April meldete das Leipziger Kulturdezernat: „Einige Museen in Trägerschaft der Stadt Leipzig bereiten sich auf eine Öffnung ab Mittwoch, den 7. April vor. Die Stadt Leipzig hat dazu in Ergänzung zur Sächsischen Corona-Schutzverordnung am 1. April eine Allgemeinverfügung erlassen, die eine schrittweise Öffnung für den Kunst- und Kulturbereich vorsieht. Neu ist, dass ab heute eine Möglichkeit zur inzidenzunabhängigen Öffnung besteht, wenn im Freistaat Sachsen die Zahl von 1.300 mit COVID-19-Patienten belegten Krankenhausbetten auf Normalstationen nicht erreicht ist.“
Warum das mit den Krankenhausbetten dasteht, weiß in einem Jahr kein Mensch mehr.
Usw.
Sie merken schon: Es passiert zwar ständig was. Aber manches wird erst im Nachhinein zu einer Geschichte. Und „Aha!“ sage ich mir in meinem Lesesessel. „Das ist doch geradezu an mir vorbeigerauscht. Wo war ich da eigentlich? Wo hatte ich meinen Kopf?“
Ich könnte auch im Fundbüro anrufen, ob mein Kopf da vielleicht zufällig abgegeben wurde. Dann könnte ich ihn bei Gelegenheit abholen. Aber das ändert nichts daran, dass unser Leben für gewöhnlich in einem atemberaubenden Tempo an uns vorbeifliegt. Ziemlich laut, das stimmt.
Denn immerfort ist irgendeine Affenkapelle dabei, enormen Lärm zu veranstalten. Als wäre immer und überall Zirkus. Was wohl einer der Gründe dafür ist, dass wir uns hinterher an nichts mehr erinnern. Denn wenn alles wichtig und sensationell und unerhört ist, ist gar nichts mehr wichtig. Auch das Wichtige nicht. Dann verschwimmt alles zu einem lauten Rauschen. Und was wirklich wichtig ist, geht uns verloren. Rauscht vorbei. Ungesehen, ungehört.
Und dann wundern wir uns später, warum wir in dem Moment nicht munter geworden sind. Und das Unheil seinen Lauf nehmen konnte. Vor aller Augen. Ich bin jedes Mal verblüfft darüber, was ich gar nicht gemerkt habe. Obwohl ich dabei war. Oder daneben stand.
„Das Phantastischste sind immer die fremden Alltäglichkeiten“, hat Heinz Knobloch einmal geschrieben. Und warum es sich lohnt, eine Zeitung zu träumen, hat er zum Beispiel in „Das Lächeln der Wochenpost“ aufgeschrieben. Und in „Mit beiden Augen“. Er war auch mutiger Kleingärtner und hat darüber so herrliche Feuilletons geschrieben wie Karel Capek in „Das Jahr des Gärtners“.
Kleingärtner wissen, wie das ist, wenn man seinen Garten liest und merkt, dass da ein paar Tierchen ihren Schabernack treiben. Da braucht man nicht nur seine beiden Augen und ein paar wirklich gute Ratschläge, sondern auch zwei Hände und jede Menge Geduld. Das ist wie das Gärtnern in einer Zeitung.
Aber der Wecker klingelt. Nicht schlafen, Leo! Auf, auf! Das Leben brodelt!
Und so schnappt der Bändiger der Wildnis Hacke und Spaten, Block und Bleistift – und geht los, sich mit beiden Augen anzuschauen, was gerade passiert. Ist es wichtig? Ist einer dabei, den ich fragen kann? Einer, der ganz unschuldig guckt, weil er was weiß?
Den interviewe ich dann für Seite 3. Stelle ihm lauter Fragen, damit er merkt, ich weiß nichts. Aber ich will es wissen. Unbedingt. Jetzt. Meistens antworten sie nicht nur freundlich, sondern hocherfreut. Denn die Unscheinbaren fragt meistens keiner …
Leo?
Was trödelst du?
Achdujemine. Steht er immer noch in der Garderobe, halb in den Mantelärmel geschlüpft, die Schuhe nicht zugebunden und unrasiert.
So gehst du mir nicht aus dem Haus!
Denn wer Leute was fragen will, sollte schon gepflegt und gebügelt aussehen. Höchstens ein bisschen zerknautscht, weil die letzte Geschichte so aufregend war.
Zeitungen sind wie aufregende Erinnerungen, von denen wir meistens gar nichts wussten. Bis wir die Seite aufschlagen und uns wundern.
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