Am Ende kennen alle nur noch ein Thema. Das ist tragisch. Aber vielleicht auch normal. Jedenfalls dann, wenn eine Gesellschaft das Denken verlernt hat. Denken ist รผbrigens die Voraussetzung fรผr Querdenken, jedenfalls fรผr das, was man wirklich darunter verstehen sollte und was nichts mit dem zu tun hat, was die sogenannten Querdenker auf unseren StraรŸen treiben. Aber vielleicht fรคllt das alles im auferlegten Alleinzuhausesitzen immer schwerer. Kann sein. Blรคttern wir auf.

Denn diesmal fasst die Titelgeschichte โ€žCorona als Brandbeschleunigerโ€œ recht straff zusammen, was Sie in der neuen โ€žLeipziger Zeitungโ€œ Nr. 88 bekommen: Eine Bestandsaufnahme des aktuellen Befindens einer ganzen Nation im Lockdown. Der eigentlich auch ein geistiger Lockdown ist, weil augenscheinlich alles nur noch mit ร–ffnungen und SchlieรŸungen, Hygienekonzepten, Homeschooling, Homeoffice, zugesperrten Innenstรคdten, geschlossenen Restaurants, Sportlern ohne Publikum und Inzidenzzahlen zu tun hat.Und mit orakelnden Moderatoren, die versuchen, die neuesten Meldungen des RKI zu verstehen. Oder irgendwelche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Und gleich mal wieder รผber die Beschlรผsse der Ministerrunde zu maulen.

Stopp.

Ja. Man ist immer gleich wieder drin in dieser Mรผhle der gegenseitigen Beeinflussung. Man ruft die groรŸen Medien auf, die รถffentlich-selbstgefรคlligen und die privaten. Und es ist egal. Sie haben alle dieselben Schlagzeilen, dieselben Untertรถne. Und seit gut vier Wochen auch noch alle dieselbe jรคmmerliche Melodie, dieses ausgestellte รœberdrรผssigsein der Luxusverwรถhnten in ihren elitรคren Elfenbeintรผrmen.

Ich benutze jetzt mal keine hรคrteren Worte. Wer sich jeden Abend antut, was unsere Sender allesamt anrichten, weiรŸ, wovon ich rede. Und eigentlich wundere ich mich nur, dass die Bildschirme nicht jeden Abend in hohem Schwung aus dem Fenster fliegen.

Aber.

Vielleicht fรผhlen sich ja alle irgendwie wohl in dieser Suppe der Wehleidigkeit. Diesem Lamento miteinander. Kann sein.

Denn das ist der Humus, auf dem das ganze Gemaule der selbst ernannten Querdenker wรคchst. Die mit Querdenken โ€“ wie erwรคhnt โ€“ nichts zu tun haben. Denn das ging ursprรผnglich auf Edward de Bono zurรผck. Es ist eine Denkmethode, besser bekannt als Laterales Denken.

Wobei es im Grunde um die Fรคhigkeit geht, kreativ zu denken, โ€žsystematisch verschiedene Denk- und Wahrnehmungsperspektiven in Bezug auf ein beliebiges Thema einzunehmenโ€œ, wie es Wikipedia kurz zusammenfasst.

So machen kluge Menschen nรคmlich Entdeckungen. Ganz einfach, weil sie die Fรคhigkeit trainieren, aus ausgelatschten und bequemen Denkbahnen auszubrechen und ein Thema, ein Problem, einen Zustand aus einer bewusst verรคnderten Perspektive zu betrachten. Was รผbrigens auch hilft, die Knoten des eigenen Lebens zu lรถsen. Aber das nur am Rande.

Es geht auf jeden Fall nicht um irgendwelche Verschwรถrungstheorien oder โ€žgeheimen Informationenโ€œ.

Auch das Laterale Denken nutzt die bekannten Fakten der Wirklichkeit. Aber es geht davon aus, dass der Mensch ein Gewohnheitswesen ist, das ungern die gewohnten, bequemen und damit natรผrlich auch energiesparenden Denkweisen verlรคsst. Man ist in seinem Trott, wie das so schรถn heiรŸt.

Und jeder Schรผler weiรŸ, dass es erst einmal sehr anstrengend ist, wenn man neue Wissensbereiche kennenlernt und neue Denkwerkzeuge, um Probleme zu lรถsen. Hat man die aber erst mal verinnerlicht, โ€žmacht man sich keinen Kopp mehrโ€œ. Dann geht das Problemlรถsen von ganz allein.

Aber die meisten Menschen gewinnen in ihrer Schulzeit nicht wirklich Lust daran, Probleme zu lรถsen, das als echte freudige Herausforderung fรผr ihren Kopf zu betrachten. Wir leben auch nicht wirklich in einer Gesellschaft, in der das wirklich erwรผnscht ist.

Und der Blick in unseren medialen Hokuspokus zeigt nur zu deutlich, wie eine Gesellschaft dann aussieht. Genau so nรคmlich: voller Vorwรผrfe, Jammerei, Verรคchtlichmachung, Forderungen und Dramatisierung.

Und einer Dauerschleife, aus der all diese รผberbezahlten Moderateusen und -toren nicht mehr herauskommen. Seit Wochen nicht. Das alles hat mit einem ernsthaften, recherchierenden, die Dinge erkundenden Journalismus nichts mehr zu tun. Als hรคtten alle diese Leute schon vor Jahren in ihrem Volontariat die Seiten gewechselt und wรผrden eigentlich nur noch so tun, als wรคren sie Redakteure, obwohl sie sich wie ihr eigenes Publikum benehmen, das die ganze Zeit erwartet, dass irgendwer mal endlich die ganze verdammte Arbeit macht.

Hallo! Ist da wer?

Die neue โ€žLeipziger Zeitung (LZ)โ€œ, Vร– 26.02.2021
Die neue โ€žLeipziger Zeitung (LZ)โ€œ, Vร– 26.02.2021

Meistens natรผrlich nicht. Mittlerweile schreiben ja ratlose Redakteure schon รผber das Wundern anderer Redakteure darรผber, dass sie unverhofft in einer Redaktion gelandet sind.

Heiho, um mal Kurt Vonnegut zu zitieren.

Denn richtige Redakteure wรผrden ihre Mannschaft natรผrlich zusammennehmen, alle ihre nachtverschlafenen Vorschlรคge machen lassen, was man รผber den Corona-Lockdown noch so alles schreiben kรถnnte. Und dann wรผrden sie den ganzen schรถnen Ideenhaufen nehmen und in den Papierkorb schieben. Weg damit. Das ist genau das, was sowieso schon alle denken, gedacht haben โ€“ es ist die Schleife des im Kreis laufenden Denkens, das nicht mehr aus der Spur kommt.

Was รผbrigens nicht nur auf Redaktionsarbeit zutrifft. Was in dieser Ausgabe der LZ Tom Rodig reflektiert, der in seiner Kolumne โ€žPustekuchen fรผr den Jubilarโ€œ auf das eklatante Missverhรคltnis von denkbarer Politik und erlebter Praxis im Leipziger Stadtrat eingeht.

In diesem Fall reflektiert er die Leipziger Machtlosigkeit beim Thema Waffenverbotszone, an der nun einmal auch eklatant sichtbar wird, wie begrenzt unsere Demokratie ist und wie ungleich verteilt die Macht. Und die Macht liegt oft genug bei Leuten, die panische Angst davor haben, ihre Sichtweise auf das real Existierende zu รคndern. Wer aber nicht fรคhig ist, den Blickwinkel zu รคndern, begreift nicht einmal, wie andere Menschen รผber ein Thema denken kรถnnten. Vom Finden anderer, womรถglich besserer Lรถsungen ganz zu schweigen.

Und da Menschen, die ihr Denken nicht รคndern wollen, gern Parteien und Politiker wรคhlen, die ihnen versprechen, dass sie ihr Denken nicht รคndern mรผssen, haben wir genau die Politik, die wir haben. Einheitsbrei mit den Rezepturen von wahlweise 1983 oder 1958. โ€žFahren auf Sichtโ€œ, wie es die wohlmeinenden โ€žSpiegelโ€œ-Kommentatoren mittlerweile nennen.

Tom Rodig ist nicht der Einzige, der sich dabei wie im falschen Film fรผhlt.

Was mich zu Ulrike Gastmann bringt, die mit ihren Kolumnen in der โ€žLeipziger Zeitungโ€œ jedes Mal zeigt, wie leicht und lebendig laterales Denken tatsรคchlich ist, wenn man es sich zur Gewohnheit gemacht hat. Denn wer das gelernt hat โ€“ und fรผr sie ist es eine Lebenshaltung โ€“ der verleppert sich nicht frustriert in sozialen Jammerbuden, der kommentiert nicht den nรคchsten Ministergipfel und versucht die Kumpanei mit einem Publikum, dem man unterstellt, es wolle mit dem frisch gefรถhnten Moderator doch auch nur seinen Frust รผber die Unfรคhigen da oben loswerden.

Der sucht stattdessen die Brรผche, Stรถrungen, krempelt den Tag รผber den Kamm und holt sich eine uralte Doku รผber Falco auf den Bildschirm. Und schaut sich die Interviews mit Falco an und sieht, was fรผr jรคmmerliche Leute da versucht haben, den Unangepassten passend zu machen. Leute, die gelernt haben, dass man mit schรคbiger Anmache irgendwie Kracherjournalismus produziert und โ€“ egal, ob das Bรผcher sind, Theaterstรผcke oder eben Lieder โ€“ man den Kรผnstler nur richtig fertigmachen muss, um zu zeigen, was fรผr ein toller Hecht man ist, wenn man nur das Mikro halten kann.

Es stehen mehrere Sรคtze in Ulrike Gastmanns Kolumne, die anregen, รผber unsere ach so โ€žschwer korrekten, megaangepassten Zeitenโ€œ mit ihren โ€žhypermoralischen, bierernsten Journalistenkรถpfenโ€œ nachzudenken. Die haben schon bis zu seinem frรผhen Unfalltod versucht, Falco das Leben sauer zu machen und ihn โ€žzur Raisonโ€œ zu bringen. Und deren Schรผler und Enkel sind heute genauso. Wo sie keine Inhalte und keine wirklichen Fragen an die Welt haben, blasen sie sich auf in Moral. Und zwar einer sehr kleinkarierten. Als sรครŸe hinter der Bรผhne schon lange keine Redaktionsmannschaft mehr, die den Mumm hรคtte, mal ein paar unbequeme Fragen zu stellen.

Das versuchen in der neuen LZ Luise Mosig, Pia Benthin, Birthe Kleemann, Antonia Weber und Olav Amende durchaus facettenreich, sodass die Zeitung eine Art Bestandsaufnahme รผber den Augenblick wird, den wir alle im Lockdown erleben und manche mit Konflikten, die eigentlich absehbar waren seit Frรผhjahr 2020. Und trotzdem nicht gelรถst und durchdacht wurden. Denn dazu braucht man die Fรคhigkeit, die ausgelatschten Denkweisen zu verlassen. Aber solche Leute haben wir leider nicht gewรคhlt.

Und solange wir sie nicht wรคhlen, bekommen wir diesen mรผden Brei รผberforderter Platzhalter, die sich so durchwursteln bis zur nรคchsten Lotterie.

Oder bis zum โ€žJackpotโ€œ, um mal William Gibson zu zitieren. Denn der steht uns noch ins Haus. Die Pandemien sind nur die Vorzeichen dafรผr, dass sich die โ€žKrone der Schรถpfungโ€œ auch aus lauter Bequemlichkeit ins Aus katapultieren kann. Aber das nur am Rande. Gibson-Leser wissen, wovon ich rede.

Die neue โ€žLeipziger Zeitung (LZ)โ€œ haben unsere Abonnenten natรผrlich im Briefkasten. Fรผr alle anderen liegt die neue LZ (Vร– 26.02.2021) an allen bekannten Verkaufsstellen aus.

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