Wir leben in ungewissen Zeiten. Zeiten, die Menschen verunsichern und nach einer Lösung suchen lassen, die es vielleicht gar nicht gibt. Vielleicht wird die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft dauerhaft verändern. Vielleicht auch noch tiefer spalten, als sie es zuvor schon war. Wer die neue „Leipziger Zeitung“ liest, die seit Freitag, 20. November, im Handel ist, darf sich ruhig wie in einer Redaktionskonferenz fühlen. So, wie sie online durchaus denkbar gewesen wäre.

Da sitzen dann alle vor ihrem kleinen Bildschirm und diskutieren die Themen durch, die unbedingt drängen und so wichtig sind, dass man sie nicht weglassen kann. Denn Journalist/-innen leben wie alle anderen Menschen direkt in derselben Welt wie ihre Leser/-innen. In Leipzig noch viel mehr als etwa in Hamburg oder München.

Denn Leipziger Journalist/-innen gehören weder zur Elite noch zur upper class. Bei LZ und L-IZ schon gar nicht. Hinter uns steht kein schicker großer Medienkonzern. Keine Hausleitlinie sagt uns, was wir recherchieren, nachfragen, für berichtenswert halten sollen. Oder was wir besser bleiben ließen, weil sonst irgendwer in höheren Etagen verschnupft wäre.

Und im nun doch deutlich lichtärmeren Monat November ist das Thema, das uns nun seit März beschäftigt, noch lange nicht vom Tisch. Im Gegenteil: Am 7. November besuchte es uns gleich mal im Schwarm aus westelbischen Landen: 45.000 „Querdenker“, die in Leipzig auf dem Augustusplatz unbedingt gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren wollten.

Worüber nicht nur Michael Freitag in seinem Beitrag „Vergossene Milch“ ausführlich informiert (und die Hintergründe dieser gut organisierten Reise-Demonstration erhellt), sondern auch Ulrike Gastmann in ihrer diesmal deutlich längeren Kolumne „Corona-Demonstration in Leipzig, 7. November 2020“, in der sie das Erlebte als Augenzeugin beschreibt. Sehr anschaulich. „Das Volk, wie es unterschiedlicher nicht sein kann …“

Und auch wenn es „das Volk“ eher nicht war, sondern eine sehr bunte Mischung mit stark schwäbischem Einschlag: Vielleicht ist der so in die Konferenz hineingeworfene Gedanke so falsch nicht: Auch das ist Deutschland. Eines, das wir in unserem Alltag eher selten zu sehen bekommen, auch wenn die Diskussion über Ausmaß und Rechtmäßigkeit der Corona-Verfügungen auch hier in Leipzig mitten durch Familien geht.

Die Frage ist eher: Wie geht man damit um? Geht man raus und demonstriert dagegen? Und wogegen eigentlich? Gegen ein Virus? Eine Gefahr, die man nicht sehen kann? Einen vormundschaftlichen Staat, der erstaunlicherweise überhaupt nicht rabiat handelt, wenn es um die Übertretung von Corona-Festlegungen geht? Denn immer spielt ja das so wertvolle Gut Freiheit eine Rolle dabei.

Und das ist Constanze Caysas Steckenpferd. Sie ist die Philosophin in der Runde und fragt in ihrer Kolumne aus aktuellem Anlass: „Jeden Tag Freiheit?“ Da darf dann auch jeder, der gern ganz laut das Lied der Freiheit singt, nachdenken über seine eigenen Regeln, Gewohnheiten und alltäglichen kleinen Entscheidungen. „Selbstwertsetzung“, schreibt Caysa. Ja, man kann durchaus in den Spiegel schauen: Wie viel von der Freiheit, die wir uns wünschen, ist eigentlich nur der innige Wunsch nach Selbstbehauptung?

Und wo setzen uns andere und äußere Bedingtheiten Grenzen, die wir gar nicht verschieben oder gar niederreißen können?

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 85, Ausgabe November 2020. Foto: Screen LZ

Ein Thema, das Antonia Weber in mehreren Beiträgen rund um das Thema Transsexualität beschreibt. Denn wie viel freies Leben bleibt eigentlich, wenn eine dezidiert heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft die Regeln dafür setzt, was als normal betrachtet wird? Also als Norm. Denken wir, wenn wir so schön über Freiheit reden, eigentlich über die Normen nach, die unsere Gesellschaft stillschweigend definieren?

Oder heimlich, um mal das Thema des Sächsischen Verfassungsschutzes aufzugreifen, der rund um den 7. November augenscheinlich auch keine allzu würdevolle Figur abgegeben hat. Gerade wurde ja auch der „Verfassungsschutzbericht“ für das Jahr 2019 veröffentlicht, der – fast schon gezwungenermaßen – den „Rechtsextremismus in Sachsen weiter auf hohem Niveau“ sieht, wie René Loch schreibt. Gezwungenermaßen deshalb, weil sich dieses so analyseschwache Amt in der Vergangenheit stets auffällig bemühte, rechtsextreme Vorkommnisse eher herunterzudimmen und dafür die wilden Linksradikalen für gefährlicher zu erklären.

Was das Amt auch in diesem Bericht noch versucht, wo auch die sächsische Umwelt- und Anti-Kohle-Bewegung als staatsgefährdend diskriminiert wird. Das Amt hat also noch immer seine rechten Scheuklappen auf und ein sehr, sehr seltsames Verhältnis zur Demokratie und der „geduldeten“ Kritik an staatlichem Handeln.

Das heißt: So ganz aus dem Schneider und der Kritik sind staatliche Instanzen nicht. Auch die Corona-Verordnungen sind kritisierbar. Gerade da, wo sie wichtige Lebensbereiche stören, gar zu zerstören drohen. Michael Billig etwa schreibt über die dramatischen Folgen für die Altenpflege, Antonia Weber über die Probleme der Gastronomie, Luise Mosig über die Sorgen der betroffenen Vereine und Marko Hofmann über ein Thema, das fast untergeht: Wie können eigentlich Schule und Hochschule in so einer Zeit funktionieren?

Natürlich gibt es dazu die technischen Möglichkeiten und an der Uni Leipzig wird auch längst schon das online nutzbare Lehrmaterial entwickelt. Corona ist eine Riesenchance, Schulen und Hochschulen genau da zu digitalisieren, wo es Sinn macht, wo Lehrer/-innen die Mittel in die Hand bekommen, von heute auf morgen wirklich entscheiden zu können: Morgen machen wir alles online.

Was sie heute einfach nicht können, weil die Technik fehlt.

Und wie hart Corona gerade den Kunstbereich trifft, darüber schreiben Antonia Weber und Birthe Kleemann. Während Jan Kaefer natürlich in mehreren Beiträgen zum Sport beschreibt, was dort die ganzen Einschnitte durch Corona bedeuten – vom abgesagten Turnfest über den Fußball bis zu den ins Abseits geschickten Leichtathleten des SV Lindenau 1848.

Und wen wundert’s: Auch Tom Rodig, der sich so gern präsidential gibt, macht sich Gedanken über das, was er am 7. November erlebt hat. Ein bisschen satirisch natürlich. Denn man kann zwar verblüfft sein über die fast verwandtschaftliche Vertrautheit der Leute, die da aus H, S, HH und B extra angereist waren, um in Leipzig Polonaise zu tanzen. Aber das heißt ja nicht, dass man sich mit dieser Kuschelmentalität identifiziert. Auch wenn das sichtlich abfärbte an diesem 7. November und die Polizei geradezu zum Knuddelbären machte. Irgendwie wirkt wohl der Spruch „Seid lieb zueinander“.

Da findet man dann auch Polizisten in Kampfmontur zum Knuddeln. Zumindest für den Moment. Bis zur nächsten Demo, bei der man nicht weiß, ob die Jungs mit dem Blaulicht diesmal die richtige Lageeinschätzung haben. Oder wieder die vom Sächsischen Verfassungsschutz.

Die neue „Leipziger Zeitung“ haben unsere Abonnenten natürlich im Briefkasten. Für alle anderen liegt die neue „Leipziger Zeitung“ (VÖ 20.11.2020) an allen bekannten Verkaufsstellen aus. Alle haben wieder geöffnet – besonders die Szeneläden, die an den Verkäufen direkt beteiligt werden.

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