Eigentlich hätte diesmal ein Foto souverän kampflustiger Lehrer/-innen aufs Titelbild gehört. Nicht unbedingt, weil die neue „Leipziger Zeitung“ sich besonders großflächig dem Schulbeginn am 31. August gewidmet hätte. Das hätten wir machen können – und es wäre auch wieder eine Zeitung geworden, die alles gegen den Strich bürstet, was unsere ratlosen Kolleg/-innen in großen und kleinen Zeitungen zum Thema verzapft haben. Reicht es da, dass Ulrike Gastmann das in ihrer Kolumne aufgegriffen hat?

Wer die LZ kennt, weiß, dass man diese Kolumne immer ganz unten auf der letzten Seite findet, unter der Schwarwel-Karikatur und den bissigen Sätzen von Ilse Schnickenfittich. Ulrike Gastmann ist selbst Lehrerin. Und mindestens einmal im Monat wünsche ich mir, sie wäre auch meine Lehrerin gewesen. Aber dann denk ich über meine Lehrerinnen und Lehrer nach, die ich in Vorzeiten wirklich hatte, und bin bescheiden.

Denn einige waren ganz ähnlich – ermutigend, trocken, bissig, aber sichtlich bemüht etwas zu sein, was in den landläufigen Vorstellungen vom Lehrer-Sein in Deutschland nicht vorkommt: Sie verstanden sich als Trainer/-in und Motivator/-in. Weil sie verinnerlicht hatten, was auch Ulrike Gastmann schreibt: Es geht nicht um die Eltern, nicht um PISA-Tests oder das Gequengel in den Medien, sondern immer um das „Wichtigste – das Kind“, für das man arbeiten will.

Sonst wird man nämlich keine Lehrerin und kein Lehrer. Sonst kann man es bleiben lassen.

Der Satz steht mitten im Text, da, wo ihn heutzutage viele gar nicht mehr finden, weil sie an 400-Zeichen-Häppchen trainiert sind. Nach einigen Absätzen, in denen Ulrike Gastmann erst einmal erzählt hat, wie sich ihr Kollegium am ersten Arbeitstag nach den Ferien zusammenfand. Nämlich nicht viel anders, als es im letzten Schuljahr auseinanderging.

Damals für die Autorin sogar mit einer gewissen Überraschung, weil sie gesehen hat, dass sich sogar Kolleginnen und Kollegen, von denen sie es nicht erwartet hätte, gerade in der Homeschooling-Zeit besonders intensiv um ihre Schüler/-innen bemüht hatten, damit sie das Schuljahr erfolgreich beenden konnten.

Und jetzt waren sie alle wieder da: „Niemand wehrte sich dagegen, nächste Woche anzutreten, niemand äußerte Riesenbedenken.“

Nur so am Rande: Auch unsere Lehrer/-innen sind systemrelevant. Viel relevanter, als Bildungspolitiker und Blattmacher überhaupt verstehen. Sie sind die Trainer, die auch den Schwachen, etwas Dicklichen, Unsicheren, Zweifelnden und Ängstlichen beibringen, wie man was machen kann aus seinen Talenten und mit ein bisschen Mühe und Fleiß und Konzentration.

Geschrieben hat sie die Kolumne aber, weil sie in dieser einen, noch immer als Platzhirsch geltenden Zeitung diesen Blödsinn als Titelzeile gelesen hat: Große Anspannung unter Lehrern“.

Eine Überschrift, die sehr viel darüber erzählt, wie in dieser Zeitung Text und Stimmung gemacht wird. Hochgeschriebene „Pseudo-Ängste“, nennt es Ulrike Gastmann

Ja, das trifft es wohl auf den Punkt. Denn das, was dann trotzdem auf Seite 1 der „Leipziger Zeitung“ gelandet ist, hat genau damit zu tun. Mit einer Medienwelt, die gar nicht erst 2015 angefangen hat damit, Pseudo-Ängste zu schüren, Besorgnisse zu Problemen aufzublasen, die gar keine sind. Der Besorgnis-Journalismus in Leipzig feiert heuer auch seinen 30. Geburtstag.

Aber dafür gibt es keine Torte, kein Lob und auch keine Extra-Geschichte zum „Letzten, verrückten Jahr der DDR“. Teil 6 dieser Serie findet man in dieser Ausgabe. Er handelt vom eigentlich zentralen Ereignis des Jahres 1990, ohne das alles andere nie und nimmer möglich gewesen wäre: dem Zwei-plus-Vier-Vertrag.

Selber lesen. Ich muss ja nicht alles verraten.

Olav Amende thematisiert diese Zeit übrigens in einem Interview, in dem er mit Ralf Donis über „The Cure“ und „Love Is Colder Than Death“ spricht. Das wird einigen waschechten Leipziger/-innen noch eine Menge sagen. Da kommen Gefühle auf. Denn da war was drin in dieser Wunderpackung, die heute die meisten mit dem blöden Krenz-Wort von der „Wende“ bezeichnen.

Was ich auch schon für Framing halte. Wer über „Wende“ schwadroniert, muss nicht über Neuanfänge sprechen. Und über vergeigte Nicht-Anfänge und Zeitungen, die sich einfach nur „wendeten“ und dann 30 Jahre lang lauter Besorgnis-Journalismus produzierten. Für ein gedachtes Publikum, das man sich immer daheim auf der Couch (oder hinter der Gardine: Vorsicht, wachsamer Nachbar!) vorstellen konnte, unzufrieden mit allem, ängstlich wie eine Hausmaus und für jede Schwarzmalerei zu haben.

Den typischen besorgten Bürger, der 2014 auf einmal entdeckte, dass er sich auch als alter Bürgerrechtler verkaufen und mit Fahnen aller Art demonstrieren konnte. Denn das ist ungefährlich in Deutschland, du glaubst es nicht! Irgendwo in diesem ganzen Besorgtsein schnappte so ein abgestandener Hauch von 1990 mit dem unverdauten Habitus des eingeborenen Deutschen (der seine Vergangenheit gern als Vogelschiss betrachtet) zusammen.

So wie die „Bewegten Bürger“ auch heute wieder von einem „Sturm auf Berlin“ träumen und nicht mal merken, dass sie damit endgültig im Vokabular der Nationalsozialisten gelandet sind. Aber weil etliche dieser Mit-Besorgten so tun, als wären sie nur ganz zufällig neben Reichskriegsflaggen und Reichsbürgern gelandet, erzählt in dieser Ausgabe Michael Freitag einmal ausführlicher über die Leipziger Mobilisierer für den „Sturm auf Berlin“ und die braunen Schatten von „Querdenken“.

Und da im August einmal keine Ratsversammlung stattfand, fragt René Loch die Fraktionen einfach mal ab, was für sie die markantesten Weichenstellungen im vergangenen Jahr waren. Denn wer sich erinnert: Die Stadtratswahlen im Frühjahr 2019 haben die Kräfteverhältnisse im Stadtrat gründlich verändert. Das Ergebnis sind nicht nur immer mehr Stadtratssitzungen und immer längere Debatten (über die die Fraktionen völlig unterschiedlicher Meinung sind), sondern auch reihenweise Beschlüsse, die vorher undenkbar waren – vom ausgerufenen Klimanotstand bis zur Kinder-Charta.

Das Tempo in der Stadtpolitik gibt jetzt tatsächlich immer mehr die Ratsversammlung vor.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 82, Ausgabe August 2020. Foto: Screen LZ
Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 82, Ausgabe August 2020. Foto: Screen LZ

Und die Bürger/-innen merken, dass Geschichte eben doch etwas ist, was hier und jetzt passiert und eigentlich auch vor unseren Augen. Doch während die einen einen auf besorgt machen, debattieren die anderen über vernünftige Lösungen. Das geht leider manchmal unter, wenn alle Spalten mit dem Gequengel der „Besorgten“ gefüllt sind. Als wenn immer nur die im Recht wären, die laut genug quengeln.

Aber wer seine Zeit immer nur mit Besorgtsein verbringt, der ändert nichts, der verhindert nur. Beim Umblättern wird einem eigentlich erst so richtig klar, wie sehr die Lauten und Unzufriedenen die heutigen Diskussionen bestimmen. Von den „Meinungshooligans im Zwiebelsaftkrieg“, wie sie David Gray in seinem Essay nennt, ganz zu schweigen von jenen „Social-Justice-Kriegern“ von ganz rechts und ganz links, mit denen man aus einem simplen Grund nicht diskutieren kann: Sie akzeptieren nur absolute Zustimmung. Wer ihre Position auch nur im mindestens infrage stellt, verwandelt sich flugs in ein zu bekämpfendes Element.

So beginnen Diktaturen: In den Köpfen von Leuten, die in alttestamentarischer Unerbittlichkeit zurückfallen und all ihre Macht nutzen, ihre Unerbittlichkeit zum gesellschaftlichen Mainstream zu machen.

Entwicklung passiert anders. Meist unspektakulär – so wie an der TU Freiberg in der Forschungsabteilung von Dr. Mathias Müller, die sich mit den Problemen heutiger Solarzellen beschäftigt und daran arbeitet, bessere und zukunftsfähige Lösungen zu finden. Im Interview mit Marko Hofmann geht es um Silizium und Eisen und solche Dinge. Ein Stoff, von dem zum Beispiel Physiklehrer schwärmen könnten.

Während drei Mehr-oder-weniger-Reise-Geschichten die Geschichtslehrer animieren könnten, im Unterricht auch mal das Thema „Last der Geschichte“ aufzugreifen. Jens-Uwe Jopp tut das in einer Reiseskizze aus Polen und der Besprechung von Lizzie Dorans Buch „Who the fuck is Kafka“ und Sascha Bethe meldet sich mit seinem zweiten Bericht aus Kambodscha zu Wort.

Und eigentlich gehört auch Pauline Reinhardts Besprechung von Thilo Krauses Buch „Elbwärts“ dazu, in dem er auf literarisch hohem Niveau von der Rückkehr in die ostsächsische Provinz erzählt. Und um Geschichte geht es in gewisser Weise auch, wenn Daniel Thalheim mit Fredéric Bußmann über eine Chemnitzer Ausstellung spricht, in der das einstige „Ruß-Chemnitz“ als unverwechselbare Stadt der Moderne und der modernen Kunst sichtbar wird.

Sebastian Beyer beschäftigt sich ausgiebig mit der Restart-19-Studie in der Arena, mit der Hallenser Forscher herausbekommen wollen, wie eigentlich Großveranstaltungen unter Corona-Bedingungen noch machbar sind. Während Tom Rodig sehr pointiert darüber nachdenkt, warum Eigentum ausgerechnet dann zu nichts verpflichtet, wenn es um bezahlbares Wohnen in der Stadt geht. Wird der ganze Verweis auf das Grundgesetz nur noch zu einer ritualisierten Empörung?

Steht also Besitz über den Grundrechten? Ist also der „Sinn des Lebens“ (über den in dieser Ausgabe Konstanze Caysa schreibt) nur der, Besitz anzuhäufen, zu mehren und andere zur Kasse zu bitten? Kann es sein, dass das die Kehrseite einer zunehmenden Verwahrlosung ist, über die Birthe Kleemann schreibt, wenn sie die Müllsammler am Karl-Heine-Kanal begleitet. Tonnenweise holen sie Jahr für Jahr all das aus dem Kanal und von seinen Ufern, was unsere Zeitgenossen da entsorgen. Zeitgenossen, die unsere Welt als Müllkippe begreifen. Motto: Gehört ja keinem.

Vorschläge für Artikelüberschriften:

„Große Anspannung unter Müllsammlern“

„Große Anspannung unter Immobilienspekulanten“

„Große Anspannung unter besorgten Bürgern“

„Große Anspannung unter Weltreisenden“

„Große Anspannung unter Meinungshooligans“

„Große Anspannung unter Hütchenträgern“

Sie merken es ja selbst: Da stand jemand ganz anderes unter „großer Anspannung“ und musste schnell noch eine ordentlich spannende Geschichte abliefern. Vielleicht mit Lehrern drin. Oder wem auch immer man dieses herrliche Gefühl zuschreiben kann, auf irgendeinen ersten Tag auf Arbeit mit einer Verzweiflung zu warten, die einen an das letzte verunglückte Weihnachten erinnert.

Die neue „Leipziger Zeitung“ (VÖ 28.08.2020) liegt an allen bekannten Verkaufsstellen aus. Alle haben wieder geöffnet – besonders die Szeneläden, die an den Verkäufen direkt beteiligt werden. Oder die LZ einfach einfach abonnieren und zukünftig direkt im Briefkasten vorfinden.

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