Eigentlich wäre es am 1. Oktober so weit gewesen, denn am 1. Oktober 1894 erschien die erste Ausgabe der Leipziger Volkszeitung. Da hätte man mal wieder eine Jubiläumsausgabe erwartet, vielleicht sogar mal eine andere, die nicht bloß Lobeshymnen abdruckt, sondern auch die eigenen Entwicklungen der Gegenwart reflektiert. Aber vielleicht kommt das ja noch.
Denn wie man so hört, ist die nun ausstehende Jubiläumsausgabe für heute Nacht geplant, also für morgen, den 1. November. Und sie soll erstmals in der Hallenser Druckerei der „Mitteldeutschen Zeitung“ gedruckt werden, denn der Betrieb in der LVZ-Druckerei in Stahmeln geht zu Ende. Was auch Gründe in einem schrumpfenden Zeitungsmarkt hat, dem sich auch die LVZ nicht entziehen kann. Die Auflage schrumpfte von einstmals 330.000 Exemplaren im Jahr 1998 auf gerade noch 151.000 – Tendenz weiter fallend. Im Madsack-Konzern wird schon seit Monaten emsig daran gearbeitet, die Verluste an Print-Reichweite im Internet irgendwie wieder aufzufangen und auch dort Abonnenten zu finden.
Aber das alles wird zentral entschieden in Hannover. Egal, ob es die Zusammenlegung von Online-Redaktionen ist oder die Schließung einer Druckerei zum Jahresende, nach der dann die Drucker auf der Straße stehen, denn Alternativen im Zeitungsdruck gibt es für sie eigentlich nicht.
Aber nicht nur die Drucker betraf dieser Schrumpfungsprozess. Schon unter dem 2013 angekündigten Projekt „Madsack 2018“ wurde die Zahl der Redaktionsmitarbeiter von einstmals 165 auf 90 reduziert. So etwas hinterlässt auch inhaltlich Folgeschäden. Denn eine Lokalzeitung lebt davon, dass sie auf allen wichtigen Gebieten lokale Kompetenz besitzt.
Da denkt man dann doch an jene Zeit zurück, als kurzzeitig auf dem Leipziger Zeitungsmarkt alles möglich schien, als neben den alteingesessenen Parteizeitungen wie „Sächsisches Tageblatt“ (kurzzeitig „Leipziger Tageblatt“) und „Die Union“ auch Neugründungen wie die erste deutsch-deutsche Tageszeitung „Wir in Leipzig“ oder die „DAZ“ als Wochenzeitung für Wirbel sorgten. Für kurze Zeit sah es so aus, als könnte die „Heldenstadt“ tatsächlich eine Zeitungsvielfalt bewahren.
Aber der Traum war bald ausgeträumt. Sie alle verschwanden vom Markt. Übrig blieb die LVZ, die bis 1990 Parteieigentum der SED gewesen war, sich kurzzeitig zu Volkseigentum verwandelte, aber damit auch zum Verkaufsobjekt der Treuhand wurde. Als „Die Andere Zeitung“ (DAZ) im April 1991 ein Interview mit dem damaligen LVZ-Chefredakteur Dr. Wolfgang Tiedke führte, schien schon alles darauf hinauszulaufen, dass die LVZ vom in Hannover ansässigen Madsack-Konzern übernommen werden würde. Da stand das kurze Gastspiel des Springer-Konzerns noch aus, der eigentlich das „Leipziger Tageblatt“ übernehmen wollte, dann aber bis 2009 mit 50 Prozent mit bei der LVZ einstieg.
Denn früh schon kristallisierte sich heraus, dass die eigentlich als liberaler erlebten Zeitungen der bürgerlichen Parteien nicht die hohe Auflage erreichen würden, mit der die alten SED-Bezirksorgane operieren konnten. Und eindeutig ging nach 1991 Masse vor Klasse.
Auch wenn Tiedke, der 1989 erst Chefredakteur wurde und schon 1991 wieder ging, durchaus Hoffnung hatte, aus der linientreuen LVZ quasi mitten im Laufen eine Lokalzeitung zu machen, deren Stil „mit einem demokratischen Staatswesen übereinstimmt“. So jedenfalls der „Spiegel“ in jener Zeit, als aus den alten Bezirksorganen der Partei im ganzen Osten die dominierenden Lokalzeitungen wurden.
Mit Folgen bis heute. Denn da die Konkurrenz aufgab, einging oder einfach vom Markt gedrückt wurde, kam auf so eine dominante Lokalzeitung eine Aufgabe zu, die kaum zu bewältigen war – nämlich auch all die Leserinteressen mit abzudecken, die für gewöhnlich mit konkurrierenden Zeitungen bedient worden wären. Eine schier unlösbare Aufgabe. Die Pläne unter Tiedke, dem ersten von der Redaktion selbst gewählten Chefredakteur, jedenfalls waren ambitioniert. Aber nach dem Verkauf wurde er schon 1991 wieder abgelöst von dem aus Hannover entsandten Hartwig Hochstein, der ein anderes Zeitungskonzept verfolgte.
Carsten Heller fragte Tiedke 1991 ganz dezidiert danach, warum im Zeitungskopf der LVZ die Worte „unabhängig“ und „überparteilich“ nicht zu finden seien, stattdessen der Hinweis auf das Gründungsdatum 1894.
Und Tiedke antwortete: „Auf die Adjektive ,unabhängig‘ und ,überparteilich‘ verzichten wir, weil wir der Meinung sind, wenn es nicht aus dem Blatt hervorgeht, braucht man es auch nicht drüberzuschreiben.“
Meiner Ansicht nach war hier ein „nicht“ zu viel im Satz.
Aber die Ambitionen steckten in dieser Aussage: „Wir müssen über alle Dinge von öffentlichem Interesse informieren, seriös, sachlich, fair, so objektiv wie möglich. Dazu zählt, dass informiert wird über die Absichten aller am politischen Prozess Beteiligten. Dazu zählt auch, dass Minderheiten eine Chance erhalten, ihre Interessen über die Zeitung zu artikulieren. Mehrheitsentscheidungen, sofern sie demokratisch zustande gekommen sind, sollen respektiert werden, müssen aber im Lichte besserer Gründe ständig kritisierbar bleiben.“
Man merkte schon, dass das Bemühen da war, in Distanz zur Macht, auch der demokratisch legitimierten, zu gehen. Was nicht gerade einfach ist. Schon gar nicht als ehemals meinungsbildender Monopolist in einer ganzen Region.
„Dabei sollten wir eine Erfahrung nicht vergessen“, sagte Tiedke noch: „Wahrheit und Mehrheit müssen nicht zwangsläufig zusammenfallen.“
Aber er hatte auch so eine Ahnung, dass das Experiment einer wirklich unabhängigen LVZ-Redaktion bald enden könnte. Denn aus Hannover war ja schon zu hören, dass man auch gern die eigenen Rezepte in Leipzig anwenden würde, auch wenn man mit Hartwig Hochstein jemanden fand, der – wie er selbst sagte – kein Besserwessi sein wollte, und der am Ende seiner Chefredakteurszeit 2003 zumindest bei den im Haus verblieben Redakteuren hoch anerkannt war.
„Die Zeitung wird zunehmend akzeptiert“, hatte Tiedke noch gesagt. „Welchen Sinn soll es für einen Verlag machen, an einem Konzept, das eine gute Chance hat, etwas zu ändern?“
Gute Frage. Diese Frage aber beantworten Geschäftsleitungen auch in Medienunternehmen in der Regel nie. Sie ändern einfach, weil Akzeptanz bei ihnen immer nur die dritte Geige spielt. Die erste Geige spielte damals jedenfalls die Reichweite für die Werbevermarktung und die zweite Geige spielte noch bis in jüngste Zeit die gesicherte Monopolstellung, die man zum Teil auch mit harten Bandagen durchsetzte und verteidigte.
Dazu muss man wohl Redakteur sein, um zu sehen, dass die dritte Geige so unwichtig nicht ist. Wolfgang Tiedkes letzter Satz in dem Interview mit der DAZ: „Ich sehe nur eine Möglichkeit, die zur Änderung des Konzepts zwingen könnte: wenn die Leser mit der Zeitung nicht mehr einverstanden sind.“
Aber wie misst man das Einverständnis der Leser?
Und das der Mitarbeiter? Auch so eine schöne Frage.
Und wer entwickelt noch Konzepte, wenn so eine Zeitung jetzt sichtlich seit zehn Jahren nicht mehr aus den Umstrukturierungen herauskommt? Die von vielen Betroffenen vor Ort als Zentralisierungen made in Hannover empfunden werden. Schon wieder geht so ein blödes Gefühl um, dass die Entscheidungen schon lange nicht mehr vor Ort getroffen werden, sondern „irgendwo da oben“.
Gibt es auch die LVZ bald nur noch online?
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