LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 72, ab 25. Oktober 2019 im HandelTypisch Connewitz. Zu diesem Fazit konnte man gelangen, wenn man am 10. Oktober auf den Webseiten von LVZ, โBildโ und โTag24โ unterwegs war. Dort war zu lesen, dass es โschon wiederโ zu โRandalenโ beziehungsweise โKrawallenโ in dem Stadtteil gekommen sei. Vermummte โChaotenโ hรคtten Bรถller gezรผndet und die Polizei angegriffen. Das Problem an diesen Formulierungen: Die Realitรคt sah wahrscheinlich vollkommen anders aus.
Ausgangspunkt der Berichterstattung war die tรคgliche Medieninformation der Leipziger Polizei. Darin ist von einem Landfriedensbruch am Abend zuvor die Rede. โDer Polizeidirektion Leipzig wurde telefonisch mitgeteilt, dass eine grรถรere Anzahl von teilweise vermummten Personen mit brennender Pyrotechnik und mit einem Transparent vom Connewitzer Kreuz her kommend auf der Karl-Liebknecht-Straรe in stadteinwรคrtiger Richtung lรคuftโ, heiรt es darin.
An der Kreuzung Bernhard-Gรถring-Straรe und Richard-Lehmann-Straรe hรคtten Polizist/-innen die Menschenmenge aufgefordert, stehen zu bleiben. โTeile der circa 80 Personen rannten daraufhin weg. Andere wiederum liefen auf die Beamten zu und versuchten, diese wegzustoรen und schlugen um sich. Dabei wurde ein Beamter leicht verletzt.โ
Die Polizist/-innen konnten nach eigenen Angaben insgesamt acht Tatverdรคchtige festhalten und deren Identitรคten feststellen.
Medien machen aus Polizeimeldung Tatsachen
Die genannten Medien berichteten anschlieรend รผber das Geschehen und stellten die Sichtweise der Polizei als Tatsache dar. Lediglich der MDR verwendete den Konjunktiv. Auรerdem fรผgten die Medien einige Details hinzu, von denen in der Polizeimeldung keine Rede war. So heiรt es beispielsweise bei der LVZ, dass die Polizei mit Pyrotechnik angegriffen worden sei. In mehreren Medien ist auรerdem von Bรถllern, also lauten Knallkรถrpern, die Rede. Die genannten Boulevardmedien interpretierten das Geschehen letztlich als โRandaleโ beziehungsweise โKrawalleโ.
Laut t-online waren es โJugendlicheโ, die Bรถller gezรผndet und Polizist/-innen angegriffen hรคtten. Woher diese Information stammt, ist ebenfalls unklar. Die Polizei nennt in ihrer Medieninformation das Alter der acht Tatverdรคchtigen โ die รคlteste Person war 35, die jรผngste 22.
Gedenkversammlung nach dem antisemitischen Anschlag am 9.10. in Halle
Einen Tag nach der Medieninformation der Polizei und der irrefรผhrenden Berichterstattung verschickte ein anonymes โPresse-Kollektiv 04277โ eine Art Gegendarstellung. Die Bitte um ein persรถnliches Gesprรคch seitens der LEIPZIGER ZEITUNG blieb unbeantwortet. Dennoch war es mรถglich, mit vier Teilnehmer/-innen der Spontanversammlung zu reden.
Diese stellten รผbereinstimmend dar, dass es sich um eine friedliche Gedenkveranstaltung fรผr die Todesopfer des rechten Terroranschlags in Halle gehandelt habe. Die Menschenmenge sei anhand eines Frontbanners, einer Israel-Fahne und der gerufenen Parolen klar als Demonstration erkennbar gewesen. Pyrotechnik in Form eines Bengalos und einer Rauchfackel habe es lediglich zu Beginn der Demonstration am Connewitzer Kreuz gegeben.
Dies ist auf einem auf Twitter verรถffentlichten Foto erkennbar. Bรถller hรคtten die Teilnehmenden hingegen nicht verwendet โ nach den tรถdlichen Schรผssen in Halle wรคren laute Explosionen auf einer Gedenkdemo unangebracht gewesen, so eine Erklรคrung.
Der politisch aktive Fotograf Marco Santos gehรถrt zu den โChaotenโ, die sich an der Demonstration beteiligten. Er lief nach eigenen Angaben ganz hinten und entfernte sich beim Eintreffen der Polizei etwas von der Menschenmenge, um das Geschehen zu filmen. Die LEIPZIGER ZEITUNG konnte das Videomaterial einsehen. Die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden sind darin nicht zu sehen.
Gab es Polizeigewalt?
Allerdings versuchte eine Person nach der Auflรถsung eine neue Demonstration anzumelden, wรคhrend die Polizei einige Tatverdรคchtige behandelte und der Groรteil der Teilnehmenden schon verschwunden war. Zumindest in den kurzen Videoausschnitten wirkt es, als ob die Polizei auf dieses Anliegen nicht oder nur zรถgerlich reagierte.
โEs sollte eine ruhige Demo werden, ohne Bรถller und ohne Stress mit der Polizeiโ, sagt einer der drei anderen Teilnehmer/-innen, die anonym bleiben mรถchten. Er widerspricht der Darstellung der Polizei, dass die Teilnehmenden zum Stehenbleiben aufgefordert wurden. โDie Polizei hat gar nichts gesagt.โ Stattdessen sei ein Polizeiauto auf der Karl-Liebknecht-Straรe รผber die Straรenbahngleise gefahren und erst kurz vor der Demo zum Stehen gekommen.
Die Teilnehmenden seien daraufhin in die Fichtestraรe und von dort in die Bernhard-Gรถring-Straรe abgebogen. Die anderen Befragten รคuรerten ebenfalls, seitens der Polizei keine Kommunikation wahrgenommen zu haben. Dabei habe es sogar eine Person gegeben, die mit den Beamten reden und eine Versammlung anmelden wollte. Doch dazu kam es nicht.
Laut Aussage der Teilnehmer/-innen blockierte die Polizei mit ihren Autos die Kreuzung Bernhard-Gรถring-Straรe und Richard-Lehmann-Straรe. Die Beamten seien aus den Autos ausgestiegen und auf die Demonstration zugerannt. Viele seien daraufhin panisch geflohen und mรถglicherweise gegen Polizist/-innen gelaufen, die sich ihnen in den Weg stellten. Gezielte Angriffe habe es jedoch ebenso wenig gegeben wie Sachbeschรคdigungen. Dass es so etwas nicht geben soll, sei Konsens zu Beginn der Demonstration gewesen.
Zum Vorgehen der Polizei รคuรern sich die befragten Teilnehmer/-innen unterschiedlich. Wรคhrend eine Person vermutet, dass die angeblich gezรผckten Schlagstรถcke zum Einsatz kamen, hรคtten die anderen so etwas nicht erkennen kรถnnen. Einer von ihnen sei dennoch brutal zu Boden gestoรen worden. Zudem habe eine Frau etwa eine halbe Minute lang vor Schmerzen geschrien.
Polizei prรผft Polizei
Die Leipziger Polizei mรถchte den Sachverhalt nochmals prรผfen, sagte ein Sprecher dem Boulevardmedium โTag24โ, das รผber die Mitteilung des anonymen โPresse-Kollektivsโ berichtet hatte. Auch die sรคchsische Staatsregierung muss sich mit dem Fall beschรคftigen, da die Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke) zwei Kleine Anfragen eingereicht hat.
Darin geht es unter anderem um die Fragen, ob Beamte die Demoteilnehmer/-innen angesprochen haben, wie lange die eingesetzten Polizist/-innen am Tag des Anschlags und des Lichtfestes bereits im Einsatz waren und ob die Polizei tatsรคchlich โ wie seitens des โPresse-Kollektivsโ und einer von der LEIPZIGER ZEITUNG befragten Person behauptet โ ein parkendes Auto angefahren hat.
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Das lange Polizei-Interview (Teil 1): Lรผckenpresse oder Wie entsteht eine Polizeinachricht?
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