Was passiert eigentlich, wenn man sich vom Tempo der renditegetriebenen Social-Media-Konzerne vorgeben lässt, wie Journalismus funktionieren muss? Das ist ja keine ganz neue Frage. Sie beschäftigt Medienhäuser und ihre Inhaber seit ungefähr 2004 massiv, seit Facebook & Co. auch die Grundlagen der klassischen Medien zerstören. Was dann mit Import einer Vokabel aus dem Englischen als Disruption bezeichnet wird.

Das kommt von to disrupt: unterbrechen, zerstören, stören, spalten, zerreißen usw. Die Wurzel des Worts kommt dann wieder aus dem Lateinischen. Aber die Erfinder der Disruption sind in den USA zu Hause. Es sind all jene sogenannten „smarten“ Unternehmen, die die Digitalisierung vor allem nutzen, um die Geschäftsmodelle klassischer Branchen zu zerstören. Nicht einmal durch die Digitalisierung selbst, sondern indem sie zum Beispiel einen riesigen Online-Versand gründen, erst einmal nur für Bücher, was im Gefolge tausenden kleiner Buchhandlunge den Garaus machte. Dann auch für Waren aller Art, was dann gleich noch zehntausende kleinerer Läden mit anderen Angeboten folgen ließ.

Jetzt will dieser Superversender ja auch gleich noch selbst verteilen und die anderen Lieferdienste von den Straßen wegkonkurrieren. Man zerstört nicht nur die Geschäftsgrundlage der anderen, die sich meist schon aufgrund ihrer geringen Größe nicht wehren können, man rafft auch gleich noch so viel vom Markt an sich, bis man ihn quasi monopolistisch beherrscht.

Genau dasselbe gilt auch für die riesigen Netzwerke der „social media“, in denen aus den Profilen und Daten von Milliarden Menschen nicht nur die größten Werbeplattformen aller Zeiten entstanden sind. So nebenbei wurden auch gleich noch die (alten) Medien als zentrale Akteure der Informationsgesellschaft zerstört.

Denn wenn sich Milliarden Menschen ihre Informationen nur noch dort holen, wo sie am schnellsten verfügbar sind, haben die „langsamen“ klassischen Medien kaum noch eine Chance. Erst verlieren sie ihre Werbekunden, dann wird die Redaktion geschrumpft, dann bleiben die Abonnenten weg und das Ganze rechnet sich nicht mehr. Gegen die Cent-Preise, die der Gigant Facebook für Werbeschaltungen berechnet und von denen Leser nichts mitbekommen, haben kleine Zeitungen, die notgedrungen noch richtige Redakteure bezahlen müssen, keine Chance.

Sinkende Aufmerksamkeitsspannen

Bei Facebook kann jeder, der ein Handy besitzt, sofort zum Reporter werden, wenn etwas passiert. Die Videos sind schnell hochgeladen, werden verteilt, rauschen in Sekundenschnelle durchs Netz. Die Nachricht ist schon um die Welt, bevor Redakteure auch nur geprüft haben, was da gerade wirklich passiert ist. Sie kommen also erst später – wenn sie ordentlich arbeiten, meist sogar Stunden später. Aber Facebook hat seine Nutzer auch an immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen gewöhnt. Die fundierten Beiträge zu Ereignissen interessieren nur noch wenige. Jene kritischen Zeitgenossen, die wirklich (noch) wissen wollen, „was Fakt ist“.

Die meisten Menschen interessieren sich gar nicht mehr für die Fakten und die Einordnung. Ihnen genügt die kurze Sensation. Der ja bekanntlich in einer vernetzen Welt schon wenige Minuten später die nächste Sensation folgt, Sekunden später auch schon der erste Kommentar, die Smileys und Daumen.

Und da das Phänomen zuerst in den USA Tritt fasste, hat dort diese Disruption des Medienmarktes schon 1.800 Lokalzeitungen die Existenz gekostet. Und viele von denen, die noch irgendwie versuchen mitzuhalten, haben ihre Papierausgabe eingestellt und beschränken sich auf die Website.

Da der Trend etwas später erst nach Deutschland kam, ist diese Entwicklung hier gerade in ihren Anfängen. Das große Sterben der deutschen Regionalzeitungen beginnt erst. Da geht es dann nicht mehr nur um das Schließen von Druckereien. Da geht es dann auch um die kleine Frage: Hat der Regionaljournalismus dann in Deutschland überhaupt noch eine Chance? Denn wenn die Abonnenten für das Gedruckte wegbleiben, liegt die Zukunft des Regionalen ja doch irgendwie im Netz. Aber welche?

Darauf gibt es mehrere Antworten.

Welche Antwort der Madsack-Konzern, zu dem auch die Leipziger Volkszeitung gehört, für sich gefunden zu haben glaubt, ist schon seit geraumer Zeit in Konturen sichtbar. Seit 2013 eigentlich, seit der in Hannover ansässige Zeitungskonzern das Redaktionsnetwerk Deutschland (RND) gründete, um in Hannover und Berlin die Produktion überregionaler Nachrichten und Artikel zu bündeln. Damit werden dann über 40 Zeitungstitel des Konzerns beliefert. Aber es ging dabei nicht nur um das, was Konzernsanierer so gern „Synergien“ nennen. Denn die Zeitungstitel wirken seitdem, seit wichtige politische Themen von Berlin und Hannover aus beschickt werden, regelrecht entkernt. Als gäbe es so gar keine lokale Perspektive mehr auf die große Politik.

Aber Madsack will im Netz mitspielen. Mit einzelnen Regionalzeitungen geht das nicht. Sie haben keine Chance gegen erfahrene Online-Player wie „Spiegel“ oder „Zeit“. Eine Chance hat der Konzern nur, wenn er RND zu einem deutschlandweit wahrgenommenen Recherchenetzwerk macht, das auch im Internet auffällt und Geschichten setzt, die „brennen“, wie die Amerikaner so gern sagen, zu „burnern“ werden.

Und die dann auch noch über die eigenen Zeitungshomepages (oder direkt über die RND-Seite) sofort gelesen werden. Denn in diesem Modell geht es um Tempo. Wer der Erste ist, bekommt die Clicks. Wer die Clicks hat, verdient die Cents mit der Werbung. Und – vielleicht – die Abonnenten.

Sorgenkind bezahlende Netznutzer

Denn bei der Abonenntengewinnung ist Madsack mit seinen bisher gefahrenen Modellen nicht allzu weit gekommen. Auch weil der Inhalt, der für Abonnenten dann extra angeboten wurde, nicht immer besonders frisch oder einzigartig war und ist. Also hat man sich in der Konzernzentrale in Hannover etwas Neues ausgedacht.

Darüber berichtete das Branchenportal „turi2“ bereits am 3. Juli: „Madsack ändert seine Paid-Content-Strategie und schafft das Freemium-Modell zugunsten einer ,Time-Wall‘ ab. Die Artikel der ,Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‘ und der ,Neuen Presse‘ sind in der ersten Stunde nach Veröffentlichung kostenlos. Danach verschwinden sie hinter der Paywall. Das neue Modell führt der Verlag in den kommenden Wochen auch bei allen weiteren Regionalzeitungen, u. a. ,Märkische Allgemeine‘, ,Leipziger Volkszeitung‘ und ,Ostsee-Zeitung‘, ein.“

Ob das gelingen wird, wird man sehen. Es riecht nach der genialen Idee eines Managers, der glaubt, dass es im Internet tatsächlich nur um Tempo geht und dass man die echten News-Freaks damit einfängt, dass man sie in der ersten Stunde nach Erscheinen der Nachricht auf die eigene Seite lockt, hoffend, dass es den Traffic erhöht und die Konkurrenz nicht auch so schnell ist.

Aber das Ganze produzieren immer noch Leute, Menschen aus Fleisch und Blut, mit Bluthochdruck, zerzaustem Haar und dem Einpeitscher hinter sich.

Die eierlegenden Büromitarbeiter

Und was das für hochbegabte, fitte und hyperqualifizierte Leute sein sollen, ist seit ein paar Tagen in den Stellenanzeigen des Madsack-Konzerns zu lesen. Was Madsack da – nicht nur für Hannover – sucht, nennt sich nicht mehr Redakteur, sondern „Editor Plus Ost (m/w/d)“.

Der arme Mensch sollte nicht nur ein abgeschlossenes Volontariat mitbringen und auch noch „Erfahrung als Journalist im Regionalen sowie im Site-Management“, sondern auch noch Erfahrungen mit „Paid Content-Modellen“ haben, außerdem auch noch „gute Kenntnisse im Bereich Social Media, Audience Development und Traffic-Analyse“ haben. So eine echte eierlegende Wollmilchsau, der nicht nur Artikel schreibt und einpflegt ins System, sondern auch noch das Leserforum betreut, die Wirkung der Artikel misst und irgendwas mit dem Publikum anstellt, damit es mehr wird (Audience Development).

Schreiben soll er auch noch können: Stil- und Formulierungssicherheit.

Und wenn schon die Erwartungen an diesen wundersamen Grenzgänger zwischen Redakteur, Verkäufer und Social-Media-Manager nach Einpeitscher klingen, dann tun es die direkten Aufgabenformulierungen erst recht. Denn der Bursche soll nicht nur mögliche „Plus-Beiträge“ finden und optimieren, also jene „Burner“, die geeignet sind, die Leseraufmerksamkeit zu fesseln und Traffic auch hinter die Paywall zu bringen.

Er soll tatsächlich auch noch die Reichweite puschen: „Identifizierung von sublokalen digitalen Wachstumsfeldern im regionalen Verbreitungsgebiet gemeinsam mit den Redakteuren vor Ort („lokale Facebook-Gruppen“), mal von der „Optimierung der Abo-Entwicklung“ ganz zu schweigen.

Und das alles angepriesen mit einem „kreativen Arbeitsumfeld“ und einem „hochmotivierten und aufgeschlossenen Team“.

Mit der Wirklichkeit, über die zu berichten wäre, kämen diese armen Seelen gar nicht mehr in Berührung. Denn das, was hier steht, fesselt sie jeden Tag acht Stunden an den Bildschirm, so wie die anderen armen Seelen, die sich im heutigen News-Journalismus schon zur Galeere verpflichtet haben. Sie sitzen in ihren Büros und müssen hoffen, dass von da draußen – zum Beispiel von den paar übrig gebliebenen „Redakteuren vor Ort“ oder die zentrale RND-Mannschaft – tatsächlich genug Futter hereinkommt, mit dem man „Plus-Geschichten“ herstellen und schnellstens rausjagen kann in den Äther.

Wo man dann hofft, dass andere diese Inhalte nicht haben und sich auch die Facebook-Nutzer alle darauf stürzen. Augenscheinlich ist in der Chefetage von Madsack jemand felsenfest davon überzeugt, dass das funktioniert. Wahrscheinlich Marco Fenske selbst, den Madsack im Januar extra dafür auf den Posten des RND-Chefredakteurs berufen hat.

„Die Finanzierung von Journalismus in einer sich immer schneller digitalisierenden Gesellschaft ist von grundlegender Bedeutung. Marco Fenske hat hierbei schon mehrfach unter Beweis gestellt, dass er entscheidende Impulse setzen kann. Sein Name ist eng verbunden mit der erfolgreichen Entwicklung unserer Verticals und unseres Digital Hubs. Er steht gleichermaßen für journalistische Kompetenz und ausgezeichnete Management- und Führungsfähigkeiten“, schwärmte Thomas Düffert, Vorsitzender der Konzerngeschäftsführung der Madsack Mediengruppe, im Dezember schon mal von dem 34-Jährigen.

Madsack versucht damit sichtlich, das Geldverdienen mit der kurzen Aufmerksamkeitsspanne der News-Süchtigen im Internet zu verknüpfen. Augenscheinlich selbst so aufgeregt über die flotte Idee, dass man tatsächlich glaubt, man könne sowohl die Redakteure (oder Content-Erzeuger) genauso dauerhaft auf Speed halten wie die Leser. Und weil das ja alle so machen, das Tempo gar noch steigern zu können, denn wer zu langsam ist, bekommt ja nicht die gewünschte Click-Zahl.

Journalisten, die wissen, dass man auch mal den Kopf frei haben muss, um herauszufinden, wo der Haken in den meisten Geschichten steckt, werden sich wohl eher nicht als „Editor Plus“ bewerben.

Es sei denn, sie können gar nicht mehr anders, weil das Haus abbezahlt werden muss oder – was wahrscheinlicher ist – die Raten für Kinder und die Geschiedene aufzubringen sind. Wohl wissend, dass bei diesem Tempo nur noch Oberflächliches möglich ist, samt all den Meinungsschnellschüssen, von denen die „social media“ heute schon voll sind. Die Regionalzeitungen freilich auch. Denn die leiden heute schon unter dem Fehlen von genug Redakteuren, die noch einen freien Kopf fürs Recherchieren und Geschichtenfinden haben.

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