Was haben wir da nur angestellt? Kann man eine Zeitung mit einer philosophischen Frage gründen? Und ohne Geld? Eine richtige Zeitung? Eine digitale, nur im Netz? Gab’s das nicht schon? 2004? Die Antwort lautet: Nein. Gab’s nicht. Schon gar nicht auf lokaler Ebene, ganz unten also, wenn man die Hierarchie der Medien so betrachtet. „Bau mir eine Website, die wie eine Tageszeitung funktioniert“, sagte einer von uns zum anderen. „Kannst du das?“ – „Ich versuch’s.“ So fing das an.
Im Juni 2004 ging diese erste reine Online-Zeitung für Leipzig an den Start. Und wer dabei war, weiß, worüber wir damals berichteten, damals, als wir noch klein waren und uns auch als noch-klein definierten, auch aus Erfahrung, denn in der Leipziger Politik war es nicht anders als in der Landespolitik: Politiker interessiert nur, was in den großen, schwergewichtig aussehenden Medien über sie steht.
Es ist ein Wechselspiel. Das, was dort berichtet wurde, galt als wichtig. Und das wussten die Großen auch immer auszunutzen, wissen sie immer noch. Auch wenn sie es manchmal hinter ihrer gepriesenen Riechlust für die „Geschichten, die wichtig“ sind, verstecken. Dabei wissen sie: Wichtig werden Geschichten, wenn viele Medien sie für wichtig erklären und darüber berichten, auch wenn sie alle nur dasselbe berichten.
Leipzigs Berichterstattung sah damals sehr bunt, oberflächlich und einseitig aus.
Mit wem starteten wir eigentlich?
Mit dem am 13. Juni 2004 neu gewählten Stadtrat. Nur so zur Erinnerung: Die SPD wurde damals mit 26,9 Prozent der Stimmen stärkste Kraft, vor der PDS mit 26,1 Prozent und der CDU mit 25,5 Prozent. Das hört sich alles schon wie ferne Geschichte an. Die CDU wurde stärkste Fraktion, weil noch ein einsamer DSU-Mann zur Fraktion stieß.
Wollten wir eigentlich über Politik schreiben? Nicht lieber nur über lauter bekannte und unbekannte Leipziger? Über Kunst und Kultur? Wäre das nicht das Schönere und weniger Anstrengende gewesen? Hatten wir vielleicht in einer fröhlichen Minute gesagt, dass wir es gern heiter und einfach gehabt hätten?
Hatten wir nicht.
Denn die philosophische Frage lautete: Wo kriegt man eigentlich heraus, wie unsere seltsame Menschenwelt funktioniert? Und wie?
Das klingt nicht nach Lokaljournalismus. Aber das ist die elementare Frage, die man sich als Lokaljournalist stellen kann. Und darf. Und sollte. Fanden wir jedenfalls. Und schauten uns auch regionale Zeitungen anderswo an, nicht nur die im Peterssteinweg, die uns damals noch nicht einmal wahrzunehmen geruhte. Warum auch. Wir waren noch klein. Hätte ja auch ein Spaßprojekt sein können, einer von den vielen hundert kleinen und großen Blogs, die auch in Leipzig aufploppen, eine Zeit lang mit Energie betrieben werden und dann einfach einschlafen wie Dornröschen.
Denn schön ist schön. Aber ernst genommen wird man erst, wenn man wehtut. Wenn man jeden Tag losgeht und sich das kleine Theaterchen, das sich Leipziger Stadtpolitik nennt, genauer beschaut. Wie ein Imker, der seine Bienen beschaut. Oder ein Gärtner, so wie in Karel Capek „Das Jahr des Gärtners“. Oder wie einer, der sich von einem Gärtner anstecken lässt: „Und sobald er einem wieder begegnet, sagt er: ,Sie müssen mich besuchen kommen; bei mir blüht eine Rose, so etwas haben Sie noch nicht gesehen. Also Sie kommen? Aber bestimmt.‘ – Nun gut: besuchen wir ihn, um zu sehen, wie das Jahr vergeht.“
So fängt das an. Im Kleinen. Mit Neugier auf die stolzen Gärtner. Und die nicht so stolzen. Den Obergärtner und seine Untergärtner und die Leute, die einfach nur Zwiebeln und Petersilie anbauen wollen. Aber dann kommt der Maulwurf. Oder die Stare plündern den Kirschbaum. Oder gar keiner kommt, nicht mal Herr Schmetterling.
Man merkt schnell: Wer aus der Fernsicht meint, da unten im Lokalen ginge es nur um Stadtfeste, die Kür des schönsten Hundes oder das Wetter, zeigt, dass er nicht richtig hingeschaut hat. Kann man ja auch nicht, so aus der Fernsicht. Von Türmen, auf denen schon alle Meinungen fertig sind und nur noch die Mord- und Verratsdramen auf der Großen Bühne von Interesse.
Die Gärtner wissen es: Im richtigen Leben wird es immer konkret. Da muss man sich um die Quecke kümmern und um die Mäuse in den Radieschen. Und ums Wetter sorgt man sich sowieso. Und um die Bienen. Sie wissen ja: Seit 2017 wissen es alle. So lange kann das dauern.
Was auch daran liegt, dass der Lokaljournalismus löcherig ist. Schon lange. Schon kurz hinter Leipzig erreichen uns die Hilferufe: Könnt ihr nicht auch über uns ..?
Wir würden ja schon gern verkünden, dass wir schon ganz viele sind. Aber das sind wir nicht. Da, wo ganz viele neugierige Lokalreporter gebraucht werden, gibt es nur (noch) ganz wenige. Auch anderswo. Obwohl sie gar nicht viel tun müssten jeden Tag, als einfach nach den Äpfeln zu schauen. Oder den Birnen. Den Schlaglöchern, Dorfärzten und den Fröschen im Bach. Einfach nur neugierige Leute, die (wieder) gelernt haben, dass man nur hinschauen muss, sich interessieren muss. Für die Sorgen des Gastwirts und die seiner Gäste. Für die Mühsal des Bäckers und die Kopfschmerzen des Mannes, der die Rechnungen der Gemeinde bezahlen muss, ohne dass hinterher ein Loch in der Kasse ist.
Braucht man da den berühmten Riecher für „Geschichten“?
Nein. Diesen jedenfalls nicht. Denn es ist keiner. Es ist pure Eitelkeit und Tamtam. So, als wäre jeden Tag großes Böllerschießen, Jahrmarkt und Zirkus zugleich.
Die Gärtner wissen es: Was geschieht, geschieht im Kleinen, ohne großes Tamtam. Und wer unaufmerksam war, guckt hinterher verdutzt aus der Wäsche oder auf die zerwühlten Beete: Wie hätte man das denn sehen sollen?
Lokalreporter sind wie Gärtner. Sie gehen auf die Parzelle und berichten, was wächst und gedeiht – und was mickert und welkt. So entsteht ein Bild des Gartens. Da dürfen die Ameisen unter der Veranda nicht fehlen, nicht der Igel in der Hecke und schon gar nicht die Regenwürmer.
So ungefähr haben wir das die ganze Zeit gemacht.
Als wir schon ein bisschen ernst genommen wurden, haben wir die „Lizzy“ weggelassen und nur noch L-IZ geschrieben. Als in Leipzig darüber diskutiert wurde, es bräuchte doch unbedingt noch eine andere auf Papier gedruckte Zeitung, waren wir dabei. 2015 war das schon. Es hat ganz schön gerumpelt, denn auf Papier gedruckt wird man natürlich noch ernster genommen. Das andere sind ja nur Pixel im Netz. Aber zur Wahrheit gehört auch: Die meisten Leipziger lesen heute lieber Pixel. Es ist eine kleine, interessierte Minderheit, die auch gern noch eine Zeitung aus Papier liest. Die Träume vom Wachstum in diesem Segment waren also begrenzt. Schön wär’s gewesen, wir hätten mit so vielen Leuten mal richtig den ganzen Garten aufräumen können.
Aber der Journalismus im Lokalen beginnt und endet mit dem Geld. Auch neugierige Reporter brauchen morgens ihr hartgekochtes Ei und ein Tässchen Muckefuck und mittags wenigstens eine Graupensuppe. Vielleicht mit Rübchen drin. Das kostet. Das muss man erwirtschaften. Ernst genommen zu werden hilft. Es schafft auch einen kleinen Respekt bei Werbetreibenden: Oha, so was lesen die da?
So was lesen die hier. Denn unsere Leser wissen ja längst wo das hinführt, wenn man auf Ameisen, Mäuse und Raupen achtet: Am Ende steht immer ein Drama, Fluchen, Schwitzen und Schlagzeilen. Nur halt mit Ansage. Weil man, wenn man die ganze Zeit herumläuft und sich alles mit ernsthafter Neugier betrachtet, so eine Ahnung bekommt, wie die Dinge so laufen – unter der Erde, in den Bäumen oder sogar hinter der Laube. Das ist keine Arbeit für Flanellanzugträger. Eher eine für Gummistiefel, grüne Schürze und Strohhut. Mit all der freundlichen Aufmerksamkeit, die Karel Capek in „Das Jahr des Gärtners“ beschreibt. Auch ein bisschen freuen darf man sich – über das Erwartete und das Unerwartete: „Und indessen sind im Garten, ohne daß man es geahnt oder sich darum bemüht hätte, die Krokusse und Schneeglöckchen aufgeblüht.“
Schau an. So ist das also mit dem Dabeibleiben und Sich-nicht-einschüchtern lassen. Denn die Aufmerksamkeit färbt ab. Wenn man erst mal erzählt hat, wie spannend das ist, bekommen auch andere Lust, genauer hinzuschauen. Und siehe da: Auf einmal geht es um Bäume, Radfahrer, Bienen und Schmetterlinge.
Haben wir gesagt, dass das sensationell ist?
Haben wir nicht.
Ist es aber.
Das weiß jeder Gärtner, der im Januar am Fenster sitzt und sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich wieder was machen zu können in seinem Garten. Denn da passiert doch was. Da muss man dabei sein.
Wobei: Man kann auch Karel Capeks „Jahr des Gärtners lesen“. Langsam und aufmerksam. Damit man die Stellen nicht überliest, an denen er zeigt, dass ein Gärtner auch über seinen Gartenzaun schaut. Der Zaun ist ja nur Fiktion, wenn es ums Ganze geht. Oder um Blumen, wie hier:
„Was die Vegetation im Januar betrifft, sind die sogenannten Blumen am Fensterglase die bekanntesten. Damit sie aufblühen, muß die Zimmerluft wenigstens etwas ausgeatmeten Wasserdampf enthalten. Ist die Luft vollkommen trocken, kann man nicht einmal die armseligste Nadel an die Fenster zaubern, geschweige denn Blüten. Dann muß auch das Fenster irgendwo schlecht schließen; in der Richtung, in der es durchs Fenster bläst, wachsen die Eisblumen. Deshalb gedeihen sie auch eher bei armen Leuten als bei reichen, weil bei den Reichen die Fenster besser schließen.“
Medien machen in Fakenews-Zeiten.
Es gibt 2 Kommentare
Oh, so lange gibt’s euch schon, dann hab ich ja gut und gerne die Hälfte verpaßt. Schade eigentlich. Vielen Dank und auch viel Kraft für die nächsten sieben, fünfzehn, ja fünfzig Jahre.
Liebe LIZ-Redaktion! Gut, dass Ihr Euch ernst nehmt und auch mal darüber schreibt: dass das, was Ihr macht, richtig viel Arbeit ist – für wie viele Menschen eigentlich? Dafür möchte ich danken! Auf allen Schau-Plätzen, auf denen Relevantes passiert, seid Ihr zu Gange, nehmt alles auf und zur Kenntnis, recherchiert weiter. Und: legt den Finger auf die Wunden, mal mehr mal weniger, oft immer wieder auf die selbe Stelle – oder sind es in Wirklichkeit immer wieder die gleichen Symptome an unterschiedlichen Stellen des “Körpers” dieser Stadt? Die komplex ist und auch so funktioniert, komplex, wie alle Systeme. Die viel verkraftet an (Selbst-) Zerstörerischem, an malignen Entwicklungen, permanentem Gegenrudern (sic) gegen das, was uns eigentlich am Leben erhält. Die viel kompensieren kann und aushält.
In der Systemtheorie ist die Rede von der kritischen Masse, die, wenn ein System sie erreicht hat, dazu führt, dass die angereicherten Quantitäten in eine neue Qualität kippen, manchmal mit einem Ergebnis, das erschreckt – dass hatte schon Marx erkannt. In Leipzig ist die kritische Masse politisch scheinbar noch nicht erreicht. Scheinbar sind “die Guten” (noch) in der Mehrheit, die Guten, die genau wissen, wer “die Bösen” sind, sich darüber definieren und dann meinen, alles sei in Ordnung, gut eben. Es hat noch nie geholfen, bei den einen nur das Eine, das Gute, sehen zu wollen, und anderen “das Böse” auf die stirn zu kleben. Denn das Gute hat auch immer seine “bösen” Seite, selbst das noch so Gute. Man kann sie lange ignorieren, wegschaun, sich wegducken, sich einreden (lassen), dass doch alles gut sei und immer besser werde zum Nutzen und Frommen aller. Das haben sie schon in der DDR versucht. Wir wissen, mit welchem Ergebnis – das nicht nur gut war, wie wir zunehmend erkennen könn(t)en.
Auch wenn es so scheinen mag, dass Ihr LIZ-Schreiber einsame Rufer in der Wüste sind, auch wenn keiner weiß, wie lange in Leipzig sich die Mehrheit noch gut, und (selbstgerecht) gerecht fühlen kann, ist es wichtig, dass wenigstens einige sich Gedanken machen und Ideen haben über anderes (miteinander Leben, mit der Welt und den Liebsten und den weniger Geliebten umgehen, sich freuen, glücklich sein). Und es ist wichtig, dass Ihr einen Raum zur Verfügung stellt für Fragen, auch solche, auf die es im Moment keine Antworten gibt, schon gar keine einfachen. Raum für das Aushalten von Ambivalenzen, die manchmal unerträglich scheinen, weil sie nur auszuhalten und erst mal nicht abzuschaffen oder aufzulösen sind. Manchmal wünsche ich mir (und Euch) noch, dass Ihr Euch dieser Spannung etwas mehr auszusetzen wagt: ich bin mir sicher, die Mehrheit der LeserInnen weiß es zu schätzen, wenn ihr die Urteilsbildung überlassen wird. Und es ist ja gerade die Kunst, die wir heute so dringend wieder erlernen müss(t)en: inzwischen weiß man sicher, dass uns, die Menschheit, nicht das Recht des Stärkeren vorangebracht hat, sondern die Fähigkeit zur Kooperation.