Einen Effekt beobachteten am Wahlsonntag, 26. Mai, nicht nur L-IZ-Leser: Die groรen Zeitungen und Sender ignorierten die hellblauen Wahlergebnisse im Osten geradezu auffรคllig. Man staunte etwas verblรผfft รผber die Grรผnen und sang ansonsten viele Lieder รผber den โNiedergang der groรen Volksparteienโ. Das erwischte dann auch ein paar Medienprojektanten im schรถnen Westen unverhofft. Auch welche mit ostdeutschem Stallgeruch.
Zum Beispiel auf der Seite der Krautreporter, die eher selten mal durch Reportagen und groรe Recherchen auffallen, dafรผr mit vielen Kommentaren. Denn wenn man nicht vor Ort ist, kann man ja nur kommentieren, was man so irgendwie mitkriegt, so wie Josa Mania-Schlegel, der in Mรผnchen erst so richtig mitkriegte, dass er eigentlich ein Ostdeutscher ist. Woran er das merkte, hat er zwar nicht erzรคhlt, aber dass er sich seitdem irgendwie genรถtigt fรผhlt, zumindest emotional fรผr den Osten nun wieder im Osten lebend Partei zu nehmen.
Was nicht heiรt, dass ihn das dazu animiert hรคtte, mal zur Recherche in den Osten zurรผckzukehren. Rausbekommen zu wollen, woran das liegt, dass im Osten anders gewรคhlt wird. Manchmal frustrierend anders. Und dass ausgerechnet hier Rechtspopulisten und Rechtsextreme eine Bรผhne fรผr ihre Auftritte bekommen haben. Das fรผhrte ja schon 2015 zu westlichem Kopfschรผtteln und nicht unbedingt verborgener Verachtung, die nur leicht kaschierte, dass dortigen Medien der Osten seit 25 Jahren so ziemlich egal gewesen ist. Man hatte ja seine Stereotype.
Und die hat man auch bei den Krautreportern. Was Mania-Schlegel bestรคtigt, wenn er schreibt: โZum zweiten Mal passierte es 2017, als die AfD in vielen Teilen des Ostens stรคrkste Kraft bei der Bundestagswahl wurde. Im Gegensatz zum letzten Mal, als viele ratlos in den Osten guckten, waren die neuen Ossis, also Nachwende-Ostdeutsche wie ich, diesmal erste Ansprechpartner. Man fragte uns: Was ist denn da bei euch los? โ Nach den AfD-Siegen passierte etwas Wunderbares: Die Angst verwandelte sich in eine nuancierte Debatte.โ
Davon kann nicht wirklich die Rede sein. Es gab nur mehr Sightseeings. Etliche Journalistenkollegen bereisten seitdem wie neugierige Touristen die รถstlichen Gefilde. Und die Zahl der โOssiโ-Versteher hat sich โ gefรผhlt โ verzehnfacht. Nur fiel keiner wirklich dadurch auf, dass es ihm gelang, seine Brille abzulegen. Das lernt man nรคmlich nicht mehr heutzutage. Das ist nรคmlich โ vor allen anderen Tugenden โ die schwerste, nicht nur fรผr Journalisten: Wirklich unvoreingenommen an Themen heranzugehen und Fragen zu stellen, die eben nicht das eh schon Vermutete bestรคtigen. Die einfach zulassen, dass Antworten eben nicht ins erwartete Schema passen.
Aber dazu muss man losfahren und offen sein. Auch fรผr das Nicht-Erwartete.
Aber auch Mania-Schlegel wurde nach dieser im Osten hellblauen Europa-Wahl wieder auf dem falschen Fuร erwischt, denn genau das bedeutet es, wenn er schreibt: โMenschen vom Land in Sachsen-Anhalt, wo sich auรer der AfD keine andere Partei mehr die Mรผhe machte, Wahlplakate aufzuhรคngen. Oder ein zugezogener Westdeutscher, der einfach nicht fassen kann, wie rabiat gerade die Braunkohle in der Lausitz dichtgemacht wird. Auch der Comedian Shahak Shapira erzรคhlte, wie in seinem Fuรballverein plรถtzlich Neonazis auftauchten, um ihre Wรคhler schon im Kindesalter zu rekrutieren. Es sind unschรถne Geschichten, die aber alle eines gemeinsam haben: Sie erzรคhlen von einer Generation, deren Eltern zwar schรถn sanierte Marktplรคtze bekamen โ die aber im Prinzip vรถllig unpolitisch blieb (nirgends gibt es so wenige Parteimitglieder und Betriebsrรคte wie in Ostdeutschland) โ und der oft nichts anderes รผbrig blieb, als in eine der sogenannten Leuchtturm-Stรคdte zu ziehen: nach Potsdam, Jena und Leipzig. Dort jubelten gestern auch die Grรผnen.โ
Das Problem steckt in diesem scheinbar allwissenden Satz: โEs sind unschรถne Geschichten, die aber alle eines gemeinsam haben โฆโ
Wer emsig L-IZ liest, weiร, dass keine der von Mania-Schlegel erwรคhnten Geschichten irgendetwas mit der anderen โgemeinsam hatโ, schon gar nicht der โzugezogene Westdeutscheโ, der sich nun ausgerechnet รผber die โrabiatโ dichtgemachte Braunkohle in der Lausitz erregt, die Sachsens regierende CDU aber gern weiter bis mindestens 2042 fรถrdern und verbrennen lassen mรถchte.
Und unpolitisch sind auch Nazis im Fuรballclub nicht. Die scheinbar alles bindende Aussage ist ein โ heftig missglรผckter โ Versuch, als kommentierender Journalist wieder in die allwissende Lehrerrolle zu schlรผpfen. Jetzt gar mit der Unterfรผtterung, der Autor selbst sei ja Ostdeutscher.
Was nicht neu ist bei den Krautreportern, die sich โ gelernt ist gelernt โ gern genauso allwissend gerieren wie die รคlteren Kollegen von F.A.Z. bis BILD. Motto: Wir wissen, was los ist.
Es ist รผbrigens dieselbe Haltung, die die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer eingenommen hat, als das am 22. Mai von Rezo bei Youtube verรถffentlichte Video die komplette CDU-Spitze auf dem falschen Fuร erwischte. Denn an diesem Punkt sind sich die Spitzen unserer alten Volksparteien und die altherrlich kommentierenden Kollegen der Kommentarspalten erstaunlich รคhnlich: Sie sind gern fest davon รผberzeugt zu wissen, was richtig ist. Auch wenn die Wirklichkeit differenzierter und in vielen Fรคllen vรถllig anders aussieht als in den Kommentarspalten.
Wie die einen den anderen hinterhertraben, wenn es um die Einschรคtzung dessen, was โwirklich istโ, geht, hat Sascha Lobo in seiner โSpiegelโ-Kolumne mal hรผbsch auf den Punkt gebracht: โDie Merkel-GroKo hat, fรผr manche รผberraschend, zumindest zu Beginn der Flรผchtlingssituation nicht alles katastrophal falsch gemacht. Zugleich tauchte mit der AfD ein neues Schlimmheitsmaximum auf. Diese beiden Tatsachen รผberstrahlten die seit Jahren zunehmende Pappnasigkeit der Volksparteien. Rezos eigentliches Verdienst ist, dass er uns zeigte, wie erbรคrmlich gering die Ansprรผche an die Politik in den letzten Jahren waren. Dass wir, die Wรคhlenden wie auch die Medienleute, uns damit begnรผgten, dass Union und SPD immerhin nicht die AfD sind.โ
Er hat es immerhin gemerkt, wie die Fokussierung auf die AfD und all ihr Geschnatter in den letzten vier Jahren auch und gerade in den groรen Medien dafรผr gesorgt hat, dass die ganze Republik sich bis zum Wรผrgen รผber eine โFlรผchtlingskriseโ auslieร, wรคhrend alle wichtigen Themen, die nicht nur die Groรe Koalition, sondern jede kleine Landesregierung hรคtte anpacken mรผssen, regelrecht verdrรคngt wurden. Man sprang frรถhlich auf den Polit-Zug mit dem grรถรten Geschrei und รผberlieร die ganzen โuncoolenโ Themen am Ende den Kindern von โFridays for Futureโ.
Wobei das mit dem โSchlimmheitsmaximumโ wieder nur eine westdeutsche Sicht ist, eine Kommentar-Sicht. Denn natรผrlich reist auch Sascha Lobo nicht zu Recherchen durch den Osten. Er kommt nur her, wenn er auf irgendwelchen Schickimicki-Medien-Events coole Reden halten kann. รber die Digitalisierung und die Schnarchnasigkeit der Politik in der Sache.
Und zu welchem schรถnen Schluss kommt Mania-Schlegel? โ โOb sich der Osten auf Dauer blau abhebt, und schon dadurch ein vรถllig anderes Land wird, ist jetzt von zwei Gruppen abhรคngig: dem Westen, der weiter bereit ist zuzuhรถren. Und dem Osten, der die richtigen Forderungen stellt.โ
Wer bitte soll denn jetzt โder Ostenโ sein, der etwas zu fordern hรคtte? Mania-Schlegel behauptet zwar: โEinmal pro Woche schreibe ich dir รผber meine Arbeit und die Geschehnisse in Sachsen โ und im restlichen Osten.โ Aber wirklich Ahnung hat er nicht, wie es ausschaut. Denn dann wรผsste er zumindest, wie vielstimmig und widersprรผchlich โder Ostenโ ist. Und dass es โden Ostenโ gar nicht gibt.
Aber wie will man das einem Burschen, der nur von oben herabschaut, erklรคren?
Und welcher โWestenโ hรถrt denn da so gnรคdig dem Osten zu? Der selbstgerechte Bayern-Westen (ich weiร, ist ein Vorurteil) oder der verstรถrte Bremen-Westen? Oder doch eher die Relotius-Versteher in Hamburg?
Wobei ich zumindest das Gefรผhl habe, den Kern zu streifen. Denn Claas-Hendrik Relotius war ja hier schon einmal Thema. Und beim โSpiegelโ sind sie noch heute verstรถrt รผber die Tatsache, dass ausgerechnet ihnen so etwas passieren konnte. โWir haben uns von Relotius einwickeln lassen und in einem Ausmaร Fehler gemacht, das gemessen an den Maรstรคben dieses Hauses unwรผrdig istโ, heiรt es im โSpiegelโ-Artikel zum Abschlussbericht der Relotius-Affรคre.
Es ist genau derselbe Ton, den zerknirschte Politiker an den Tag legen, wenn sie mit ihrer โWir haben das doch immer so gemachtโ-Masche eine Wahl vor den Baum gefahren haben.
Nein, liebe Kollegen: Ihr habt Relotius bekommen, weil der junge Mann gelernt hat, was fรผr Stoff unsere so aufmerksamen groรen Zeitungen und Magazine und Sender haben wollen. Er hat eure Erwartungshaltungen 100-prozentig erfรผllt und euch bestรคtigt in euren Seh-Schablonen. Da geht es euch nicht anders als den Krautreportern oder AKK: Was nicht ins Bild passt, verschwindet. Der Fokus liegt auf den geradezu erwarteten Sensationen, auf der Bestรคtigung dessen, was man schon immer gewusst haben will.
Das Ergebnis ist eine Schleife: Der Leser liest es, hat das Gefรผhl โso issesโ. Politiker lesen es, sehen sich bestรคtigt. Framing verstรคrkt die Sichtweisen immer weiter. Es macht Themen so groร und fett, bis die meisten glauben, es seien wirklich die wichtigen Themen. Ergebnis? Fata Morganen.
โDer Ostenโ ist auch eine Fata Morgana, um das nur noch mal klarzustellen.
Oder mal noch etwas zugespitzter: Solange weise Kommentatoren glauben, alles zu wissen, was es รผber โden Ostenโ zu wissen gibt, wird sich nichts รคndern, werden die Relotiusse aller Art nach Helmstedt an die Zonengrenze fahren, kurz einen Blick auf die Eingeborenen erhaschen, die mit Pfeil und Bogen auf sie schieรen. Und dann ganz schnell wieder wegfahren mit dem Gefรผhl, alles bestรคtigt gefunden zu haben.
Alles nur Wilde da drรผben.
Zum Abendbrot gibtโs heute fein durchgebratenen Missionar.
Die Serie โMedien machen in Fakenews-Zeitenโ.
Leipzig als grรผnes Leuchtfeuer in lauter Hell- und Dunkelblau
Leipzig als grรผnes Leuchtfeuer in lauter Hell- und Dunkelblau
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Es gibt 2 Kommentare
Unsere Kollegen aus Halle (Hallespektrum.de) waren der festen Meinung, dieses Gericht sei nur als รผberbackene Variante genieรbar. ๐ Der Abstimmungsprozess รผber die genaue Zubereitung lรคuft demnach noch โฆ
โZum Abendbrot gibtโs heute fein durchgebratenen Missionar.โ
Kann ich das Rezept haben, bitte? Es ist wieder Grillsaisonโฆ