Kann man eigentlich messen, wie ausgewogen Fernsehsender über das politische Geschehen im Land berichten? Immerhin war das ein gewaltiges Thema zur Bundestagswahl 2017. Nach der Bundestagswahl 2017 gerieten die öffentlich-rechtlichen Sender einmal wieder stark in die Kritik. Diesmal von der anderen Seite, vehementen Kritikern, die die thematische Ausgewogenheit im Wahlkampf vermissten. Eine Leipziger Studie versucht dem jetzt auf den Grund zu gehen. Und scheitert.
„Themensetzung von rechts“ kritisierten Kommentatoren und Kommentatorinnen über die Gewichtung in den politischen Sendungen, insbesondere im TV-Duell Merkel/Schulz. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, ging mit den Polit-Talkshows von ARD und ZDF noch härter ins Gericht. Durch ihre einseitige Fokussierung auf Themen wie „Flüchtlinge“ und „Islam“ hätten die Sender dazu beigetragen, „die AfD bundestagsfähig zu machen“. Ist dieser Vorwurf von Agenda-Setting berechtigt? Welchen Raum nahm das Thema Migration vor der Bundestagswahl tatsächlich ein?
Leipziger Forscher suchen nach Fakten zur Versachlichung der Debatte
Die Medienwissenschaftler Prof. Marc Liesching und Prof. Gabriele Hooffacker von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) haben in einer unabhängigen Studie für die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung nun erstmals eine Kategorisierung aller Erstsendeminuten der politischen Fernsehbeiträge von ARD und ZDF im Monat vor der Bundestagswahl 2017 versucht.
Die Einschränkung ist wichtig: Nur das politische Programm der Öffentlich-Rechtlichen im Monat vor der Wahl wurde untersucht.
Der erste Befund überrascht also nicht wirklich: Über alle 56 untersuchten Sendungen hinweg zeigt sich eine vielfältige Themenpräsenz mit – aus Sicht der Autoren – weitgehend ausgeglichener Gewichtung. Dabei rangiert der Themenkomplex „Migration“ mit knapp 12 Prozent der Sendeminuten hinter „Arbeit/Familie/Soziales“ (15 Prozent) und nur knapp vor „Außenpolitik“ (11 Prozent). Die restlichen Sendeminuten verteilen sich auf weitere elf Sachgebiete, darunter beispielsweise „Umwelt“, „Bildung/Digitalisierung“ oder „Steuer/Finanzen“.
Dementgegen war „Migration“ das Thema Nummer eins in den fünf meistgesehenen politischen Sendungen vor der Bundestagswahl, über ein Fünftel der Sendezeit kreiste um diesen Sachverhalt. Beim TV-Duell Merkel/Schulz, der Sendung mit den höchsten Einschaltquoten, fokussierten sogar 34 Prozent der Sendezeit das Thema „Migration“, weitere 20 Prozent handelten von „Außenpolitik“. Mit niedrigeren Anteilen schließen sich die nahezu gleich gewichteten Themen „Umwelt“ (9 Prozent), „Innere Sicherheit“ (7 Prozent) und „Arbeit/Familie/Soziales“ (7 Prozent) an.
An der Stelle wird freilich auch deutlich, dass das Raster der Autoren nicht wirklich genügt. Denn es fehlt die Frage: Welche Themen wurden eigentlich viel zu wenig berücksichtigt, also durch solche „Sensationsthemen“ wie Migration verdrängt? Man erinnere sich an den fast verzweifelten Ausspruch von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nach der verlorenen Wahl, er hätte – entgegen allen Ratschlägen – das Thema EU viel stärker in den Wahlkampf tragen müssen.
Denn welche Themen im Wahlkampf diskutiert werden, das bestimmen auch die angetretenen Parteien und Kandidaten. Und während über Migration in 12 Prozent der Sendezeit berichtet wurde, taucht das Thema Europa nur mit 0,5 Prozent in der Berichterstattung auf.
Und die Gewichtung im TV-Duell macht es ja noch deutlicher: 34 Prozent der Sendezeit allein für das Thema Migration? Da haben wohl die Kritiker dennoch recht. Sie haben selbst dem Spitzenduell der Kanzlerkandidaten die Themen der AfD aufgedrückt.
Und das kann man bei anderen Themen fortführen. Über 17 Prozent der Sendezeit wurde den eher oberflächlichen Themen „Politiker“ und „Wahlkampf“ gewidmet, während das Mega-Thema „Steuern und Finanzen“, mit dem ja nun einmal bestimmt wird, was in Deutschland politisch in die Wege geleitet wird, nur lächerliche 2,49 Prozent der Sendezeit bekam.
Sind die Moderatoren der Sendungen eigentlich neutral?
Die detaillierten Ergebnisse der Studie erlauben eigene Auswertungen, beispielsweise nach Einschaltquoten oder nach Sendeformaten. Um das Bild für die Leser abzurunden, haben die beiden Wissenschaftler mehrere Journalisten zu den Abläufen und dem journalistischen Selbstverständnis ihrer Redaktion befragt. Zusätzlich führten Medienstudierende der HTWK Leipzig eine qualitative Analyse durch, bei der die Neutralität der Fragen von Fernsehmoderatoren an Politikerinnen und Politikern im Fokus stand.
„Bisher wurde in den Debatten viel mit ‚gefühlten‘ Fakten und Häufigkeiten gearbeitet“, so Medientheorie-Professor Marc Liesching. „Wir wollen die Debatten auf ein sichereres Fundament stellen – sodass nun über die Interpretation der Zahlen und auch über methodische Fragen ihres Zustandekommens sachlich fundiert diskutiert werden kann.“
„Agenda-Setting“ und „Framing“ als Begleiter des Journalismus
Liesching und Hooffacker stellen ihre Forschungsergebnisse in den Kontext der Debatten um „Agenda-Setting“ und „Framing“. Die Ausgangsthese: Eine häufige Themensetzung („Agenda-Setting“) kann die Wahrnehmung der Zuschauer beeinflussen. Ebenso kann die Rahmung (das „Framing“) des Themas „Migration“, beispielsweise mit dem Thema „Kriminalität“, Verknüpfungen in den Köpfen des Fernsehpublikums erzeugen und festigen. Eine mögliche Erklärung für die unzutreffende Wahrnehmung der Themenverteilung kann zudem der Hostile-Media-Effekt liefern, wonach Personen mit einer gefestigten Meinung eine ausgewogene Berichterstattung als verzerrend erleben.
„Die qualitativen Befragungen haben gezeigt, dass die allgemein anerkannten journalistischen Qualitätsstandards wie Aktualität, Neutralität und Meinungsvielfalt in allen untersuchten Redaktionen eine wichtige Rolle spielen“, meint Gabriele Hooffacker, die an der HTWK das Gebiet „Medienadäquate Inhalteaufbereitung“ betreut. „Zudem konnten die TV-Redakteure Effekte wie den Hostile-Media-Effekt aus der Praxis bestätigen.“
Das mit den „qualitativen Befragungen“ hat freilich seine Tücken: Tatsächlich gelang es, nur drei Redakteure für Politiksendungen bei ARD und ZDF zu gewinnen. Die meisten angefragten Redaktionen winkten ab. Deswegen sind die Aussagen zu anerkannten journalistischen Qualitätsstandards eher mit Vorsicht zu genießen. Nicht weil die befragten Redakteure diese Standards nicht verinnerlicht hätten, sondern weil die fachliche Außensicht fehlt. Ist das, was die sendereigenen Redaktionen seit Jahren als Standard pflegen, tatsächlich das, was die Vielfalt und das Gewicht der aktuellen politischen Themen abbildet, oder zeichnet sich die wahrgenommene Vielfalt nicht auch durch Fehlstellen aus, die eben nicht thematisiert werden?
Da fehlt eine Menge
Also genau da, wo emsig über Migration debattiert wurde, elementare Themen aber einfach nicht benannt wurden – man nehme nur das Thema Demografie mit allen seinen Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung bis hin zum immer stärkeren Auseinanderklaffen von Stadt und Land. Und wo blieb eigentlich das Thema Bildung ab? Oder das ebenso drängende Thema Mobilität? Eine echte Fehlstelle, denn nach der Bundestagswahl wird ja ständig über die „Dieselaffäre“ und den unzureichenden Nah- und Fernverkehr diskutiert. Hat man das Thema im Wahlkampf einfach verschlafen? Und 2,29 Prozent Anteil für die Gesundheitspolitik sind eben auch eher nur lächerlich, verglichen mit 5,61 Prozent für den türkischen Störenfried Erdogan.
Man merkt sehr wohl, dass die Redaktionen viele Themen vor allem wegen ihres Sensationseffektes ausgewählt haben, nicht nach der Wichtigkeit in der politischen Richtungsentscheidung. Das heißt: Einfach nur eine scheinbar ausgewogene Vielfalt festzustellen, reicht nicht, wenn dabei zentrale Themen einfach unsichtbar bleiben oder die Redaktionen die Wichtigkeit falsch einschätzen, weil sie sich noch nach einem ganz anderen Effekt richten, nämlich dem: Welche Themen werden denn schon in den Medien sonst so heftig diskutiert? Womit kann man problemlos Quote machen?
Da wird es erst spannend.
Aber die fehlenden Themen tauchen ja auch auf – nur halt nicht in den „ernsthaften“ politischen Sendungen, sondern in den spätabendlichen Satiresendungen wie „Die Anstalt“, „quer“, „extra 3“ oder der „heute show“. Das nenne ich wirklich eine falsche Gewichtung und ein falsches Framing. Und die Vermutung steht in Raum, dass das alle die Redaktionen, die eine Befragung abgelehnt haben, sehr genau wissen.
Die Studie „Agenda-Setting bei ARD und ZDF? Analyse politischer Sendungen vor der Bundestagswahl 2017“ wurde von der Otto Brenner Stiftung gefördert und erscheint am 23. April 2019 als OBS-Arbeitspapier 35.
Das Arbeitspapier wird im Rahmen der „Münchener Mediengespräche“ am 26. April 2019 im Bayernforum der Friedrich-Ebert-Stiftung (Herzog-Wilhelm-Straße 1, 80331 München) vorgestellt. Eintritt frei.
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