Am Donnerstagabend, 11. April, ist in Amsterdam von der Stiftung World Press Photo wieder das Pressefoto des Jahres gekürt worden. Kein internationaler Fotowettbewerb zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich. Zum Siegerfoto wurde das an der us-amerikanischen Grenze aufgenommene Foto „Crying Girl on the Border“ von John Moore gekürt, ein Bild, das mehr auf den Punkt bringt als das Ausgeliefertsein des Menschen vor staatlicher Willkür.
Prof. Dr. Alexander Godulla wurde 2009 mit einer Studie zur Arbeit der Stiftung promoviert und hat sie seitdem wissenschaftlich intensiv begleitet. Im Interview mit der Medienredaktion der Universität Leipzig, von der wir das kurze Interview übernommen haben, spricht er über das diesjährige Siegerfoto, die sich oft darum rankenden Diskussionen sowie über die Frage, was ein World Press Photo am Ende ausmacht.
Herr Prof. Godulla, in diesem Jahr ist ein Bild zum Pressefoto des Jahres gewählt worden, das ein weinendes Mädchen aus Honduras zeigt, das gerade zusammen mit seiner Mutter als illegale Immigrantin in Texas verhaftet wird. Warum hat ausgerechnet dieses Foto gewonnen?
Weil es ein hochgradig kontrovers diskutiertes Thema aufgreift und dem Betrachter konkret vor Augen führt, was es für betroffene Menschen bedeutet. Die kleine Yanela Sanchez steht weinend inmitten des Bildes. Sie kann nicht zurückweichen, weil sich direkt hinter ihr ein vergleichsweise riesig wirkendes Auto aufbaut. Vor ihr steht ihre Mutter, die Hände ans Auto gelegt, während sie von hinten von einem Polizisten durchsucht wird. Der Fotograf hat einen tiefen Blickpunkt gewählt und dabei den Kopf der beiden abgeschnitten. Er nimmt uns auf diese Weise mit auf die Augenhöhe eines Kindes, was die Situation besonders bedrohlich erscheinen lässt.
Gewonnen hat das Foto deshalb jedoch noch nicht. Seine Preiswürdigkeit entsteht erst, weil es Bezüge zu vielen aktuellen Diskursen aufweist. Vordergründig ist dies die natürlich die von US-Präsident Donald Trump ausgerufene Null-Toleranz-Politik bei illegalen Grenzübertritten von Mexiko in die USA. Es geht jedoch auch um Migration insgesamt und die sozialen Probleme, die mit der Globalisierung einhergehen. Die Jurymitglieder beschrieben das Bild deshalb mit Worten wie überraschend, einzigartig oder auch relevant. Zugleich wurde die psychologische Komponente von Gewalt hervorgehoben, die auf anderen Pressefotos des Jahres bisher nicht in dieser Form zu sehen war.
Welche Folgen hat diese Entscheidung für den US-Fotografen John Moore, der das Foto im Juni 2018 aufgenommen hat?
Manchmal geht der Preis an Menschen, die sich noch in einem frühen Stadium ihrer Karriere befinden oder gar völlig Unbekannte sind. Da hat die Auszeichnung natürlich eine immense Bedeutung. Bei John Moore ist dies nicht der Fall. Er hat unter anderem bereits den Pulitzer Preis gewonnen sowie die Robert Capa Goldmedallie, die für herausragende Kriegsreportagen verliehen wird. Das Pressefoto des Jahres ist hier also eher die Bestätigung, dass er zu den derzeit führenden Persönlichkeiten im Feld des Fotojournalismus zählt. Der mit der Wahl verbundene Geldpreis von 10.000 Euro fällt dabei kaum ins Gewicht.
Weitaus wichtiger ist, dass Moores Foto sozusagen das Gesicht der weltweiten Ausstellung sein wird, die jedes Jahr aufs Neue von vielen Millionen Menschen gesehen wird. World Press Photo versteckt diese Ausstellung ja nicht in Galerien, sondern zeigt sie ganz bewusst auch an Orten wie Einkaufszentren oder Bahnhöfen. Außerdem wird Moores Foto groß auf das Jahrbuch gedruckt, das vor allem Menschen erreicht, die konkret im Fotojournalismus tätig sind. Er definiert damit einen wahrnehmbaren Standard, der erfahrungsgemäß von jungen Fotografinnen und Fotografen aufgegriffen und in die eigene Arbeit integriert wird.
Häufig entsteht nach Bekanntgabe der Entscheidung eine mitunter hitzig geführte Diskussion. Woran liegt das?
Zunächst einmal hat das mit der schieren Größe des Wettbewerbs zu tun: Das Pressefoto des Jahres wird aus Zehntausenden von Fotos ausgewählt, die Tausende von professionellen Fotografinnen und Fotografen einsenden. Am Ende ein einziges Bild herauszugreifen, muss angesichts der extrem hohen Qualität des Materials Diskussionen provozieren. Außerdem liegt es an dem Bildinhalt selbst: Das Siegerfoto setzt sich immer mit einem Thema auseinander, das aus Sicht des Journalismus besonders wichtig ist. Mit der Entscheidung der Jury ist also indirekt auch die Aussage verknüpft, dass im vergangenen Jahr ein ganz bestimmtes Problem für die Menschheit von zentraler Bedeutung war.
Meist ist dies ein Krieg, eine Katastrophe oder eben wie dieses Mal ein soziales Problem. Da logischerweise nur ein Foto gewinnen kann, kommen ebenfalls wichtige Themen an dieser Stelle also nicht zum Zug. Außerdem kann Pressefotografie immer nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit zeigen. Wenn dieser Ausschnitt nicht dem Weltbild des Betrachters entspricht, kann dies Verärgerung und Ablehnung provozieren. Und es hat natürlich mit der Art der Vermittlung zu tun: Die genannten Themen manifestieren sich regelmäßig in der Abbildung konkret leidender oder gar toter Menschen, was für das Publikum oft schwer zu ertragen ist und regelmäßig für Empörung sorgt.
Was ist die Ursache dieser Empörung?
In unserer Gesellschaft gibt es eine tief verankerte Norm, nach der Menschen in Not nicht fotografiert werden sollten. Kinder werden meist lachend, aber nur selten weinend abgebildet. Das diesjährige Siegerbild verletzt diesen Standard konsequent, um dem Publikum die Situation an der Grenze bewusst zu machen. Wer bei Autounfällen die Opfer fotografiert, wird zu Recht als Gaffer kritisiert.
Die im späten 19. Jahrhundert noch gebräuchliche Totenfotografie, bei der frisch verstorbene Verwandte oder Prominente portraitiert wurden, würde heute als pietätlos gelten. Die Pressefotografie ignoriert in bestimmten Situationen all diese Konventionen, um stattdessen ihren eigenen beruflichen Normen zu folgen. Sie ist ja eigentlich ein Werkzeug, das Öffentlichkeit herstellen soll und komplexe oder auch abstrakte Themen in konkrete Bildinhalte übersetzt. Das Schicksal von Menschen eignet sich dafür bedauerlicherweise besonders gut, weil wir empathische Wesen sind.
Was macht ein Pressefoto des Jahres aus?
Drei Zutaten lassen sich relativ einfach benennen: Das Thema ist hochrelevant. Die Technik ist einwandfrei. Die Komposition bringt den Bildinhalt perfekt zur Geltung. Aber es kann noch etwas nur schwer zu Greifendes hinzukommen, das beispielsweise der weltberühmte Fotograf Henri Cartier-Bresson als den „entscheidenden Augenblick“ beschrieben hat. Gemeint ist damit, dass ein Foto idealerweise genau den flüchtigen Bruchteil einer Sekunde zeigt, der den Inhalt besser als jeder andere transportiert.
In mitunter zermürbenden Diskussionen sucht eine internationale Jury nach dem einen Foto, das all dies beinhaltet. Zum Einsatz kommen dabei übrigens nur Profis, die selbst in Bildagenturen oder bei bedeutsamen Magazinen arbeiten, beispielsweise als Redakteur oder Fotograf. Wer am Wettbewerb teilnehmen will, muss übrigens selbst auch im Fotojournalismus arbeiten. Das ist ein unumstößliches Prinzip des Wettbewerbs. Es wurde nicht einmal 1969 aufgeweicht, als ein Foto von der Mondlandung eingereicht worden war – Neil Armstrong wurde damals trotz seiner enormen Prominenz nicht als professioneller Fotograf anerkannt.
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