Seit vier Tagen beschäftigt der „Fall Claas Relotius“ nicht nur den „Spiegel“, der diese dreiste Fälscherkarriere jetzt auch zum Hauptthema seines gedruckten Magazins gemacht hat. Auch die anderen Großen kommentieren, analysieren und sorgen sich. Man kommt gar nicht hinterher, alles zu lesen. Und hat dennoch das Gefühl: Das eigentliche Problem wird eifrigst umschifft.
Manchmal scheint es aufzutauchen, wenn besonders kritische Kommentatoren die unersättliche Gier nach „schönen Geschichten“ als Problem benennen.
Etwa wenn Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, in einem Beitrag für die „Zeit“ schreibt: „Was sich hier zeigt, nennt man die narrative Verzerrung, den Story Bias. Man hat die Geschichte im Kopf, man weiß, welchen Sound Leser oder Kolleginnen gerne hören wollen. Und man liefert, was funktioniert. Genauso hat es vermutlich auch Claas Relotius gemacht, nur dass sich bei ihm die Verzerrung zur narrativen Verführung steigerte, auf die zahlreiche Medien hereinfielen.“
Er landet am Ende dann beim „fiktionalen Erzählen“ und suggeriert, das, was Claas Relotius gemacht habe, sei eigentlich eher Literatur als Journalismus.
Aber damit macht er es sich zu einfach. Er unterschätzt den Druck der Rezipienten (von den Redaktionschefs bis hin zu den Lesern und Politikern), dass Geschichten ihren Erwartungen entsprechen sollten, dass Journalisten quasi täglich vor allem bestätigen, was man eh schon zu wissen meint.
Selbst beim „Spiegel“ kreist man ziemlich emsig um den alten Augstein-Spruch „Sagen, was ist“. Und man hofft, durch bessere Kontrollmechanismen einen nächsten „Fall Relotius“ verhindern zu können. Denn eines ist ja offenkundig: Man hat die so passend geschriebenen Artikel des umtriebigen Reporters immer gern genommen. Sie „passten“ so schön. So schön, dass man selbst die 2017 aufkommenden Zweifel an einigen Geschichten lieber erstickte und nicht weiter ausermittelte.
Denn die vielen Medienpreise, mit denen Relotius überschüttet wurde, erzählen ja auch von der Blindheit einer Branche, die sich mit „schönen Geschichten“ auch selbst stilisierte. Die „schönen Geschichten“ im Blatt bestätigten scheinbar die eigene Professionalität.
Aber dass etwas Entscheidendes fehlt, das macht gerade die „Zeit“-Analyse zu den sechs Relotius-Artikeln deutlich, die zwischen 2010 und 2012 auf „Zeit Online“ und „Zeit Wissen“ erschienen. Augenfällig wird es in der Analyse des Interviews mit dem Filmemacher Austin Lynch, das am 11. März 2011 erschien. Lynch bereiste mit einem Partner für ein Dokumentarfilmprojekt Deutschland und befragte Menschen auf der Straße nach deren Lebenssituation.
Das Interview hat Relotius nicht direkt geführt, sondern via E-Mail abgefragt.
Im publizierten Interview lautete eine seiner Fragen: „Haben Sie die Menschen in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich wahrgenommen?“
Die Originalantwort aus der E-Mail-Anfrage lautet laut „Zeit“-Recherche: „At this time we have not discerned any significant differences in the geographical regions. This question will be better suited to when we have finished the editing process.“ Von „Zeit“ ins Deutsche übertragen: „Bis jetzt haben wir keine signifikanten Unterschiede zwischen den geografischen Regionen festgestellt. Diese Frage wird besser zu beantworten sein, wenn wir den Schnittprozess abgeschlossen haben.“
Im Interview aber hat Relotius das hier draus gemacht: „Es war seltsam: Als wir in den Osten fuhren, schien sich plötzlich eine dunkle Wolke über uns zu legen – es wollte sich einfach niemand mehr interviewen lassen. Wir dachten schon, die Menschen in Ostdeutschland wären möglicherweise wirklich ganz anders als im Rest des Landes. Aber dann trafen wir irgendwo auf einem Bauernhof eine fröhliche rothaarige Frau namens Heidemarie und wir konnten unseren ersten Eindruck zum Glück wieder über den Haufen werfen. Menschen sind eben doch überall gleich.“
„Aus welchen Quellen Claas Relotius diese Aussage zusammenmontiert hat, können wir nicht mehr nachvollziehen. Klar ist nur, dass sie nicht aus dem schriftlich geführten Originalinterview stammt“, kommentiert das die „Zeit“.
Erwartungshaltung und Realität
Aber wer über Jahre verfolgt hat, wie die großen deutschen Medien über den deutschen Osten berichtet haben, dem schwant natürlich etwas. Denn die Überarbeitung liest sich wie ein markanter Fall von „vorauseilendem Gehorsam“: Eine eigentlich ausgewogene Aussage wird mit den Erwartungen überformt, die ein Journalist hier augenscheinlich übernommen hat: Er liefert, was in den üblichen Mainstream der Erzählmuster passt. Der westdeutschen in diesem Fall.
Und hätte es uns nicht stets geärgert, hätten wir es wohl auch nicht weiter groß registriert, dass auch die „Zeit“ 2015 regelrecht munter wurde und ihren Umgang mit dem Osten spürbar änderte – mit ein paar mehr Kolleg/-innen, die tatsächlich vor Ort unterwegs sind seitdem und direkt aus diesen ostdeutschen Landschaften berichten. Und mit einer vorsichtigen Infragestellung der alten Erzählmuster, die nun einmal west-deutsche Erzählmuster über den Osten waren. Die es nicht nur bei der „Zeit“ in massiver Form gab, sondern bei allen großen deutschen Zeitungen und Magazinen, die allesamt im Westen zu Hause sind.
Es gab also auch nie wirklich ein ostdeutsches Medium, das dieser Einseitigkeit hätte widersprechen können. Und die ostdeutschen Medien, die man geneigt war überhaupt wahrzunehmen, sind allesamt keine kritischen. Dem Osten fehlt bis heute ein großes, recherchestarkes Medium. Die Lücke haben auch die öffentlich-rechtlichen Sender nie ausgefüllt, die Regionalzeitungen mit ihren westdeutschen Inhabern erst recht nicht.
Was aber passiert, wenn niemand die einseitigen Urteile und Sehschablonen hinterfragt?
Das hat Folgen. Denn natürlich merken auch die angehenden Journalisten und Reporter sehr schnell, welche Art Geschichten ihnen abgekauft werden, was verantwortliche Redakteure als „passend“ empfinden, wo die Schwerpunktsetzung sein sollte, damit man den Text auch loswird und was am besten drinstehen sollte. Und was nicht.
Denn: Auch Redaktionen haben ihre Schablonen, nach denen sie die Welt filtern. Erst recht dann, wenn sie jahrzehntelang Recherchen unterlassen haben und ein Objekt – wie in diesem Fall diesen wilden deutschen Osten – nicht weiter für erkundenswert hielten. Denn wenn diese Grunderforschung fehlt, neigt so mancher sehr schnell dazu, „das immer Gleiche zu bestellen“, Bestätigungen für das, was man seit Jahren schon zu wissen glaubt. Wer wird sich denn hinterfragen, wenn man so augenscheinlich ja doch nur veröffentlicht, was andere auch veröffentlichen?
Was natürlich einerseits verständlich ist: Auch die großen Zeitungen möchten ja gern „gefallen“. Und das schafft man irgendwie schon, wenn man den Lesern das Gefühl gibt, dass das, was „Alle“ denken, tatsächlich so ungefähr die „Wahrheit“ ist.
Deswegen haben es offene, kantige Geschichten, die zeigen, dass Dinge und Menschen doch nicht so eindeutig und einfach sind, wie man immer glaubte, es schwer in so einem Umfeld. Sie wirken so „unfertig“, als hätte der Autor nicht die Kraft gehabt, sie glattzubügeln und so bestimmt zu schreiben, dass man das Gefühl bekommt: „So ist es!“
Das geht jetzt nicht nur an die Redakteure. Auch nicht nur die westdeutschen. Das betrifft auch die Mediennutzer, die Medien oft wie Bestätigungsinstanzen betrachten, bei denen sie eigentlich nur in knappen Sätzen gesagt bekommen wollen, „dass es so und so ist“, eindeutig, klar, „die reine Wahrheit“.
Aber in der Welt ist nichts „rein“ und auch selten irgendetwas eindeutig. Schon gar nicht, wenn es um Menschen geht, ihr Leben, ihre Motivationen und ihr Verhalten gegenüber Journalisten.
Dass der Topos der „eindeutigen Wahrheit“ trotzdem immer wieder aufrufbar ist, belegen ja all die hysterischen Kampagnen von Rechtsradikalen („Lügenpresse“) oder AfD („Lückenprese“). Sie suggerieren, es gäbe eindeutige Wahrheiten (die sie oft auch gleich noch mit ihrer eigenen Meinung verwechseln), und nur die allein seien zu veröffentlichen.
Und es gibt viel zu viele Medien, die genau diese Erwartung auch versuchen zu erfüllen. Auch mit „schönen Geschichten“. Sie meiden ganz offenkundig das, was sie selbst gern beschwören: die kritische und unabhängige Distanz. Das ist schwer, keine Frage. Amerikanischen Dokumentarfilmern fällt es leichter, die Deutschen einfach ohne Schablone zu betrachten und zu interviewen.
Das Thema hat auch noch ein paar unangenehme Erweiterungen. Denn wenn Redaktionen dann auch noch die Erwartungshaltungen anderer übernehmen, zum Beispiel der jeweiligen Regierungsparteien im Land oder der zahlungskräftigsten Werbekunden, dann entsteht eine ziemlich fatale Echokammer. Dann arbeitet der freundliche Zensor im Kopf ganz stillschweigend schon von vornherein mit, siebt die Themen, „die man anpacken darf“, siebt die Sichtweisen und das, was als opportun gilt.
Es entsteht ein gefälliges Blatt, das dann auch der herrschenden Politik nur noch zurückspiegelt, was die agierenden Politiker erwarten. Eine Art Bestätigungs- und Gefälligkeitsjournalismus, der sich nicht mehr traut, sich drei Schritte neben sich selbst zu stellen (oder mal auf den Tisch zu steigen), um zu sehen, was man vom gemütlichen Schreibtisch aus nicht mehr sieht.
Was viele Redaktionen nicht mehr schaffen, weil ihnen Zeit und Leute fehlen. Lieferanten wie Claas Relotius haben ja auch eine Lücke gefüllt, Texte geliefert aus Bereichen, in die selbst die großen Blätter keine Reporter mehr schicken konnten. Das ist ein Problem – ein Riesenproblem. Eigentlich braucht es wieder viel mehr Reporter, die Tag für Tag ausschwärmen und schauen, was „da draußen“ los ist. Und mit Ergebnissen zurückkommen, die das felsenfest Gewusste immer wieder infrage stellen.
Wissend, dass es „die Wahrheit“ nicht gibt. Und dass das Leben der Menschen viel komplexer und widersprüchlicher ist, als es uns Sonntagsreden und „schöne Geschichten“ weiszumachen versuchen.
Die Serie „Medien machen in Fakenews-Zeiten“.
Ich glaub‘, mich streift das Glück … Die Weihnachts-LZ ist da
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