Heute stolpern wir einfach mal รผber einen Beitrag von Lenz Jacobsen in der โ€žZeitโ€œ โ€“ โ€žKrasse Meinungen wehen uns mit voller Wucht ins Gesichtโ€œ โ€“ in dem er sich mit dem Overton-Fenster beschรคftigt. Nie gehรถrt vorher. Aber der Sinn der Definition erschlieรŸt sich recht schnell โ€“ zumindest dann, wenn man akzeptiert, dass regierende Politiker immer nur das machen, was drauรŸen in der ร–ffentlichkeit akzeptierte Meinung ist.

Deswegen werden in stabilen Gesellschaften vor allem gemรครŸigte und populรคre Positionen vertreten. Man geht respektvoll miteinander um. Wer radikalere Positionen vertritt, verliert ร–ffentlichkeit und Einfluss.

Im Text von Jacobsen: โ€žDas, so Overton, ist der Bereich, in dem Politik gemacht wird. Weil Politiker nur die Sachen vertreten und umsetzen, die beliebt sind und ihnen Stimmen bringen. In Overtons Konzept muss sich also erst die รถffentliche Meinung verschieben, bevor sich die Politik รคndert.โ€œ

Man merkt aber schon: Das ist nicht nur ein politisches Wahrnehmungsfenster. Es ist zuallererst eines der Medienwahrnehmung. Weshalb sich ja Jacobsen รผberhaupt erst mit dieser von Joseph P. Overton (1960 bis 2003) entwickelten Theorie beschรคftigt. Er spricht zwar beilรคufig von einem Vertreter der neoliberalen Schule. Aber das ist ein wichtiger Hinweis, denn als Vizeprรคsident des Mackinac Center for Public Policy war Overton ein ziemlich einflussreicher Vertreter der neoliberalen Politikschule.

Und zu der gehรถrte schon seit Ronald Reagans Zeit auch die Finanzierung zahlreicher Thinktanks, die die marktradikalen Politikansรคtze der Neo-Konservativen in den USA auch mit mehr oder weniger wissenschaftlichem Unterbau versehen sollten. Und mit Werkzeug fรผr die politische Einflussnahme. Denn Neoliberalismus ist nun einmal zuallererst eine Politik der GroรŸkonzerne und Superreichen, um ihren Einfluss auf Politik zu verstรคrken. Was natรผrlich auch Meinungsmache in den Medien bedeutet und die Frage tangiert: Wie kann man eine ganze Gesellschaft zur Akzeptanz marktradikaler Ideen bringen, ohne dass die Bevรถlkerung rebelliert?

Wer in Geschichte nicht geschlafen hat, weiรŸ, dass das seit Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Tony Blair und Gerhard Schrรถder genau so passiert. Wobei es Jacobsen jetzt nicht um diese Salami-Taktik der Wahrnehmungsverschiebung geht, sondern um das, was derzeit in allen westlichen Gesellschaften zu sehen, zu hรถren und zu lesen ist.

โ€žZum anderen gibt es zumindest Hinweise darauf, dass einzelne Akteure aus Overtons Konzept eine Strategie gemacht habenโ€œ, schreibt er. โ€žDer Erfinder selbst war Vizeprรคsident eines Thinktanks, der sich fรผr die Deregulierung der Mรคrkte einsetzte โ€“ eine Forderung, die dann tatsรคchlich immer weiter in die politische Mitte rรผckte. Und einer der Redenschreiber von George W. Bush beschrieb schon vor รผber zehn Jahren, wie rechte Thinktanks und die Republikanische Partei im US-Staat Michigan stรคndig radikale Dinge in der Bildungspolitik thematisierten, um etwas weniger radikale Forderungen erst zu normalisieren und dann durchzusetzen.โ€œ

Und die Regierungszeit von George W. Bush war symptomatisch fรผr die Radikalisierung der Sprache. Damit beginnt es ja. Wer anfรคngt, ganze Staaten verbal zu verteufeln und zu Mรคchten des Bรถsen zu machen, hat das Overton-Fenster schon verlassen. Das ist schon radikal. Ein schรถnes Wort, das ja so gern gegen die kleinen Minderheiten am Rand des politischen Spektrums verwendet wird. Dass es aber die reiche und gutverdienende sogenannte Mitte der Gesellschaft ist, die sich spรคtestens seit 2001 immer weiter radikalisiert hat, wird kaum wahrgenommen.

Denn deren Politiker standen ja immer im Mittelpunkt der Berichterstattung. Und wenn Medien รผber deren Tun so ungerรผhrt berichten, wie sie es vorher รผber gemรครŸigte und abwรคgende Politiker getan haben, dann verschiebt sich nicht nur das Overton-Fenster, dann verschiebt sich auch die Wahrnehmung der Mehrheit, was als Norm, Normalitรคt und Mitte verstanden wird.

Auf einmal gelten Typen wie Bush als โ€žnormalโ€œ, ihre Radikalitรคt und Exzentrik fรคllt nicht mehr auf.

Und in den USA hat das dazu gefรผhrt, was Jacobsen auch benennt: In dem Willen, ihre politischen Wรผnsche durchzusetzen, haben gerade die Republikaner ihre politische Sprache immer weiter radikalisiert. Was schon fรผr gelindes Entsetzen sorgte, als die Tea-Party-Bewegung auf einmal die Meinungsmehrheit innerhalb der konservativen Partei bekam. Und 2016 war die Partei schon so weit aus dem einst bรผrgerlichen MรครŸigungsfeld geschoben, dass zuvor als radikal empfundene Akteure wie Paul Ryan jetzt auf einmal als schwach wahrgenommen wurden, weil die Radikalisierung der Sprache natรผrlich lรคngst Folgen zeitigte.

Es waren die neoliberalen Politiker selbst, die das Overton-Fenster immer weiter nach rechts geschoben haben, denn das liegt ja in der Logik der Theorie: marktradikale Politik ist eine gnadenlose Wettbewerbs- und Ausgrenzungspolitik. Sie betrachtet Wirtschaft wie den โ€“ falsch verstandenen โ€“ โ€žstruggle for lifeโ€œ. Und das kommt natรผrlich genau so auch in die Kรถpfe โ€“ einerseits als die Heilsversprechen, die allen mehr Wohlstand versprechen, wenn man die Mรคrkte dereguliert, Staatseigentum privatisiert und die Steuern senkt, und damit gleichzeitig suggerieren, dass jeder, der dann nicht seinen Reibach macht, unfรคhig ist, nicht wettbewerbsfรคhig und letztlich nicht wert, mitgenommen zu werden.

Dass Wettbewerb aber schon aus simpler mathematischer Logik immer Verlierer produziert, wird negiert.

Und nach der Tea-Party-Bewegung kam, wie alle wissen, Donald Trump, der eine noch viel radikalere politische Strรถmung hoffรคhig machte: die Altright-Bewegung, also das, was wir hier in Europa oft Neue Rechte nennen. Obwohl es eine uralte Rechte ist. Die Vordenker sind alle im spรคten 19. Jahrhundert zu Hause. Und sie waren allesamt damit auch die geistigen Brandstifter fรผr die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und fรผr den Faschismus.

Neue Rechte klingt harmlos. Aber die Ziele sind dieselben. Und man erreicht sie natรผrlich genau mit den Mitteln, mit denen die Neocons das Feld politischer โ€žNormalitรคtโ€œ deutlich nach rechts gerรผckt haben โ€“ mitsamt einer sich zunehmend radikalisierenden Sprache.

Natรผrlich ist Angela Merkel mit ihrer sanften neoliberalen Politik ganz bestimmt nicht die Bundeskanzlerin, die dem irgendetwas entgegensetzen kann. Im Gegenteil: Seit Jahren erlebt sie ja heftigste Angriffe aus den eigenen Reihen, weil sie diesen machthungrigen Herren nicht radikal genug ist.

Das Gegengewicht hรคtte von anderen kommen mรผssen. Kam es aber nicht. Nicht einmal dann, als die Wahlbรผrger auf ein klares und standfestes โ€žSo nicht!โ€œ gewartet haben โ€“ und dann doch nur Nuschelnuschel bekamen.

Aber das ist die politische Ebene. Und es sieht ganz so aus, dass gerade die liberalen und sozialen Parteien aus ihrer eigenen Denkfalle nicht herauskommen. Denn sie wollen ja genauso wie die Konservativen dem Bรผrger mรถglichst alles recht machen, also im erwรคhnten Overton-Fenster bleiben. Nur dass sie auf das Overton-Fenster keinen Einfluss nehmen, sondern nur reagieren. Und dann blรถderweise mitwandern, wenn sich das Fenster immer weiter nach rechts verschiebt.

Und natรผrlich hat Jacobsen recht, wenn er schreibt, dass einige Leute sehr intensiv daran arbeiten, das Fenster immer weiter zu verschieben. Ob es wirklich grรถรŸer wird, bezweifle ich, denn dann gibt es zwar mehr und heftigeren Streit โ€“ aber es hรถrt kaum noch einer zu. Es gibt keine gesellschaftliche Verstรคndigung mehr. Politik wird quasi unmรถglich.

Aber das fรผhrt in eine andere Debatte.

Aber wie ist das mit den Medien? Zerflattern die auch? Rutschen die einfach mit, weil alle nach rechts rutschen?

Oder versagen die einfach, wenn sie diese Zerstรถrung der demokratischen Debattenkultur als normal darstellen?

Eine verzwickte Frage. Stimmt. Gerade in einer Zeit, in der Leute wie Marc Zuckerberg meinen, faschistisches Gedankengut sei von der Meinungsfreiheit gedeckt, die Darstellung nackter Menschenkรถrper aber nicht.

Natรผrlich ist der Mann ein Ignorant. Er tickt eigentlich genauso wie Donald Trump: Er macht mit Aufregung, Hetze und um sich greifender (Massen-)Panik in seinem Netzwerk prima Geschรคfte. Wenn man damit Milliarden scheffeln kann, muss man ja nichts regulieren.

Kein Netzwerk ist so marktradikal (und deshalb auch moralisch blind) wie Facebook. Auch das gehรถrt zur Dramatik der Zeit.

Aber das lassen sich nicht alle gefallen.

Und weil es einfach zu schรถn ist, was sich Flandern mit seiner groรŸen Malerei-Geschichte und den weltberรผhmten Nackten in den Gemรคlden des Peter Paul Rubens hat einfallen lassen, packen wir den Clip einfach hier drunter.

Denn alle Overton-Fenster sind natรผrlich schรถne Theorie (die wahrscheinlich hunderte Politikwissenschaftsstudenten zur Flucht animiert), aber sie verkennen eins: Dass es auch gut gebildete Menschen gibt, die sich von dieser anschwellenden Hysterie nicht anstecken lassen und ihren Menschenverstand dagegensetzen und diesen ganzen neoliberalen und neurechten Unfug infrage stellen und gar nicht bereit sind, sich auf dieses unwissenschaftliche Denkniveau zu begeben.

Sie tun es oft mit herrlichem Humor und schรถnster Satire.

Wobei mir auch gleich mal Don Caron mit seinem herrlichen Parody Project einfรคllt. Fast im Wochenrhythmus verรถffentlicht er herrliche Parodien auf berรผhmte Songs der Musikgeschichte, den neuesten am 18. Juli โ€“ eine Parodie auf โ€žHave You Ever Seen the Rainโ€œ von Creedence Clearwater Revival.

Natรผrlich geht es ihm immer wieder um den neuesten Unfug, den Donald Trump angerichtet hat, ein Unfug, den man eigentlich nur noch satirisch berichten kann. Aber wenn man dann an die Overton-Verschiebung denkt, wird einem schon mulmig, denn augenscheinlich sind Millionen Menschen nur zu gern bereit, jeden Blรถdsinn mitzumachen, wenn oben nur ein radikaler GroรŸsprecher ist, der so tut, als wisse er ganz genau, wo man am Ende rauskommt, wenn man nur rabiat und radikal genug ist.

Serie โ€žMedien machen in Fakenews-Zeitenโ€œ

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