Es ist keine traurige Zeitung geworden, auch wenn wir ein trauriges Aufmacher-Foto für die neue „Leipziger Zeitung“ gewählt haben. Denn der tragische Unfall am Martin-Luther-Ring hat ja nur gezeigt, wie gefährlich Radfahren in Leipzig ist. Gefährlicher als noch vor wenigen Jahren, denn es sind nicht mehr nur mehr Radfahrerinnen und Radfahrer unterwegs, sondern auch alle anderen Verkehrsarten haben zugelegt. Die Innere Jahnallee ist zum Brennpunkt geworden.
Darüber schreiben wir recht ausführlich in dieser Zeitung. Themen, die danach drängen, endlich ernst genommen zu werden von Stadt- und Landespolitik, gibt es mehr als genug. Die Gründe können wir ja längst im Schlaf herunterbeten: Geldmangel, Personalmangel und … der Satz fiel mir beim Lesen von Marko Hofmanns Interview mit Philipp Bludovsky vom FC Blau-Weiß Leipzig ins Auge: „Immer weniger Menschen übernehmen Verantwortung“.
So ein richtiger Hoppla-Satz. Hier zum Fußball geäußert, der für 99 Prozent aller Kicker ja Freizeit und Hobbysport ist. Auch wenn natürlich die Besten auch bei Blau-Weiß von einer großen Karriere träumen.
Aber bevor einer Karriere macht, bemühen sich erst einmal ganz viele Menschen – die meisten freiwillig und ehrenamtlich – darum, dass überhaupt erst einmal der Anfang gelingt.
Und dann so ein Satz, der uns als Journalisten in immer mehr Themenfeldern begegnet. Und nicht nur in diesem riesigen Bereich Ehrenamt, wo die meisten Vereine und Aktiven Jahr für Jahr um knappe Mittel ringen müssen. Nein, es geht viel weiter. Bis in den Verwaltungs- und den politischen Bereich.
Als hätte da etwas unsere Gesellschaft in den letzten Jahren regelrecht aufgeweicht, irgendeinen Schalter in den Köpfen herumgelegt. Und auf einmal bekommt man es mit lauter Leuten zu tun, die nicht einmal mehr mit einer ordentlichen Bezahlung bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Oder die – obwohl sie sichtlich kaum gefordert sind – vor lauter Überforderung stöhnen. So, als wäre jede Mühe schon zu viel.
Ihre Arbeit machen sie irgendwie. Haben sie ja gelernt. Schon in der Schule lernen Kinder, dass sie nur genau das Nötigste machen müssen, nur Schema F abarbeiten, die richtigen Kästchen ankreuzen und die volle Punktzahl abholen. Die volle Punktzahl gibt es nicht für Kreativität und Verantwortung, sondern für „das Pensum einhalten“. Nur ja nicht mehr machen. Eine Frage, die man immer öfter zu hören bekommt, wenn man auch nur den Wunsch nach ein bisschen mehr Bemühen äußert: „Und wer bezahlt mir das?“
Es ist dieses Nützlichkeitsdenken, das wohl auch seinen Anteil daran hat, dass sich bis in die Sozialen Netzwerke so ein Icke-Ton ausgebreitet hat. Lauter Wütende und Beleidigte und Überforderte. Denen man aber niemals begegnet, wenn es darum geht, sich einmal für eine Sache wirklich einzusetzen. Sie sind zornig und beleidigt – aber packen nicht mehr an. Weil wir augenscheinlich in einer Gesellschaft leben, in der alle glauben, für alles schon bezahlt zu haben. Und jetzt wollen sie nur noch was raus haben.
In so einer überforderten Icke-Gesellschaft.
Ist dieses Stolpern ein Zufall? Natürlich nicht. Nicht zufällig hat sich eine Buchbesprechung von Jens-Uwe Jopp ins Blatt gemogelt, in der er ein Buch von Gregor Gysi zu Karl Marx, diesem rauschebärtigen Geburtstagskind des Jahres, bespricht. Und Gysi ist natürlich einer derjenigen, die Marx noch lesen. So, wie andere Leute die Bibel lesen, weil sie darin Hinweise auf ihr Leben suchen.
Karl Marx hat ja solche Hinweise nie gegeben. Aber er hat die Gesellschaft, in der wir leben, so umfassend analysiert wie kein zweiter. Wenn einem für das, was einem heute so befremdlich vorkommt, ein Wort fehlt, dann findet man bei Karl Marx den Namen dafür. Und es verblüfft schon, dass sich die Großkolumnisten dieser Tage zwar sehr über die Revolutions-Enttäuschung des Philosophen auslassen, aber nicht über seine Grundlagenarbeit zur Entfremdung schreiben, in der er fast alles beschreibt, was Menschen heute nicht nur beim sinnfreien Arbeiten zur Erzeugung völlig überflüssiger Produkte erleben, sondern längst auch im Alltag. Denn wie schon im „Kommunistischen Manifest“ zu lesen steht: Diese Wirtschaftsform durchdringt und verschlingt alles. Heute wissen wir erst so langsam, was dieses „Alles“ alles umfasst.
Und die Schule mit allem, was dazugehört, ist auch längst zum Festmenü der Gier geworden. Dass heute Schulen und Lehrer fehlen und die einschlägigen Parteien trotzdem alles digitalisieren wollen, hat genau damit zu tun – mit einem gedankenlos zu Markte getragenen Bildungssystem. Ein hochnotwendiges Interview mit dem Stadtelternrat.
Es steckt längst in unseren Köpfen. Und was in unsere Köpfe geträufelt wurde, erscheint dann, wenn man es in seiner ganzen gedankenlosen Zerstörung sieht, irgendwie unrettbar – so wie unsere Landwirtschaft, die mittlerweile die Arten in atemberaubendem Tempo aus unseren Landschaften verschwinden lässt: Insekten, Feldlerchen, Rainpflanzen. Bald sehen sie so leblos aus wie unsere Flüsse …
Und wie ist das mit dem Wohnungsmarkt und den durch die Decke gehenden Mieten? Tobias Bernet erklärt, warum ein Wohnungsmarkt kein freier Markt ist und warum Politik hier zwingend ein bisschen – Verantwortung – zeigen sollte.
Aber das hatten wir ja schon.
Und erstmals tauchen wir in unserer Zeitreise jetzt ein in die letzten Monate des Ersten Weltkrieges in Leipzig, als die Stadt schon vielfach litt unter den Auszehrungen dieses unendlichen Krieges. Und noch im Mai 1918 schwadroniert das „Leipziger Tageblatt“ vom „Siegfrieden“ im Westen. Da denkt man dann an die Verantwortung der Journalisten. Auch die haben eine.
Und mit dem Manifest „Der Mensch ist keine Maschine“ sind wir natürlich wieder bei Marx (und bei Orwell und bei Huxley …), denn wenn man alles, was Menschen tun, speichert und sammelt, dann wird der Mensch nicht nur gläsern, sondern auf eine Weise manipulierbar, die sich selbst Marx noch nicht vorstellen konnte. Die Warnung des Leipziger Pädagogen Gottfried Böhme und seiner 23 Mitstreiter, die das Manifest unterschrieben haben, sollte jetzt verstanden werden. Denn noch nie gab es so viel manipulative Macht – und so wenig verstandene Verantwortung auf der anderen Seite.
Und bevor ich gleich eine ganze Zeitung schreibe zur Zeitung: Selber lesen.
Die neue „Leipziger Zeitung“ liegt an allen bekannten Verkaufsstellen aus. Besonders in den Szeneläden, die an den Verkäufen direkt beteiligt werden. Oder einfach abonnieren und direkt im Briefkasten vorfinden.
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