Demokratie betont zwar die Herrschaft des Volkes. Aber so, wie einige Leute dieser Tage wieder über Volk reden, haben sie sichtlich nicht begriffen, dass das Wort das Gegenteil meint von „Wir sind ein Volk“. Das Arbeitspapier nimmt zwar die Lüge vom „einigen Volk“ nicht auseinander. Zumindest nicht direkt. Aber indirekt. Denn wo Medienwelten zersplittern, leben auch die Menschen in unterschiedlichen Blasen. Echokammer nennen es die Autoren.
Wer sich auch nur ein bisschen mit der Herkunft des Wortes Volk beschäftigt hat, der weiß, dass es ursprünglich nichts anderes meinte als das, was wir heute meinen, wenn wir von „einer Menge Volk“ reden, also von vielen Leute, die zusammen einen großen Haufen bilden. Vielleicht einig und ähnlich in vielen Dingen, aber meist nur im Sinn einer Sache. So wie in Goethes „Volks Getümmel“. Aber nicht so wie in „Volkes Stimme“. Was uns übrigens auch auf Zeitungsnamen wie „Volksstimme“ und „Volkszeitung“ bringt. Beides stammt aus der Urzeit der Sozialdemokratie, als sich die Sozialdemokraten tatsächlich noch als die Partei des einfachen Volkes verstanden – also der Arbeiter und kleinen Angestellten. Volk war nicht jeder. Als Volk bezeichnete man die Leute da unten, die Malocher und kleinen Leute. Volk war ursprünglich mal ein Begriff der Herrschenden für ihre (fleißigen) Untertanen.
Das war lange, bevor die Chauvinisten anfingen, das „Volk“ mythisch und rassistisch aufzuladen, so, wie es die Narren von rechts und rechtsaußen heute tun. Und die Narren, die „Wir sind das Volk“ brüllen, ebenso. Sie glauben vielleicht sogar, Volk sei so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft.
Dabei ist es bestenfalls das, was die Sozis damals noch meinten: Die Masse der Leute, die sich ihren kärglichen Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit erarbeiten mussten, die große Menge, die immer gern ausgebeutet wird und die mit hungrigen Augen zu den Fenstern der Reichen hinaufschaut.
Das Bild passt nicht mehr ganz zur Gegenwart. Da hat sich viel geändert. Die große Menge ist heute einigermaßen auskömmlich versorgt, hat Auto, Fernseher und Einkommen. Und Angst. Denn man ist zwar aufgestiegen in die viel umworbene „Mitte“ der Gesellschaft, quasi zur Leberwurst zwischen den Brotscheiben geworden. Aber seit ein paar Jahren (so ungefähr seit Einführung von „Hartz IV“) geht in dieser Mitte die Angst um, wieder abzustürzen. Man ist zwar schon lange kein Volk mehr, möchte aber gern eins sein. Eines mit Wirkmacht. Nicht ahnend, wie lächerlich es wirkt, wenn Buchhalter, staatliche Richter und Immobilienmakler mit dem Transparent herumlaufen: „Wir sind das Volk!“
Es wäre sogar witzig, wenn es diese Gesellen der Ahnungslosigkeit nicht so ernst meinen würden.
Und sie meinen es ernst. Sie meinen auch das mit dem Volk ernst. Denn das ist ihre Echokammer.
Und da sind wir jetzt bei dem Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung, das sich eigentlich mit der Frage beschäftigt, warum sich der politische Diskurs in den letzten Jahren so radikalisiert hat und warum ausgerechnet die Medien zum verbalen Angriffsziel der rechten Radikalen geworden sind. Haben sie tatsächlich versagt?
Aber so einfach ist auch die Frage nicht.
Denn Demokratie lebt von der Kompetenz zum Diskurs. Nicht die vielbeschworene „Herrschaft des Volkes“ ist ihr Inhalt, sondern die permanente Aushandlung von Politik durch die kompetenten Mitglieder der Gesellschaft. Sie funktioniert nur, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft wissen, worum es geht, wer alles mitredet und wer welche Position vertritt. Das wird eben nicht nur bei Wahlen oder in Parlamenten ausgehandelt. Sondern auch und tagtäglich in „den Medien“: Die Vielzahl der Medien sind der Raum, der gesellschaftliche Meinungsbildung überhaupt erst ermöglicht.
Das setzt Ansprüche – nicht nur an die Journalisten, sondern auch an die Bürger. Wenn sie sich nicht die Arbeit machen, sich über die Vorgänge in ihrer Gesellschaft ein möglichst profundes Bild zu machen, können sie nicht mitreden.
Also braucht es natürlich eine vielfältige Landschaft von Medien, die möglichst breit auch über das politische Geschehen im Land berichten.
Und es braucht noch etwas anderes, stellen die vier Autoren des Arbeitspapiers fest: Den Bürger, der auch noch fähig ist, die nötigen Medien zu rezipieren.
Sie merken: Wir nähern uns der veränderten Medienrezeption der Gegenwart. Das sagt sich so leicht. Aber wenn neue Medien die „Medienmacht“ übernehmen, verändern sich Rezeptionsgewohnheiten. Menschen lesen weniger Zeitung, haben dafür auch weniger Zeit. Denn andere Medien sind präsenter und verschlingen selbst jede Menge Zeit. Deswegen gab es schon in den 1960er Jahren zum ersten Mal einen deutlichen Bruch – nicht nur in der Medienrezeption, sondern auch in der Fähigkeit der Bundesbürger, die politischen Diskurse noch zu verstehen.
„Ohne kritische Medienrezeption geht es nicht – ohne die Anerkennung der Vielfalt von Positionen aber auch nicht. Den Austausch nur noch mit jenen zu suchen und zu finden, die sowieso schon der gleichen Meinung sind, hat mit kritischer Öffentlichkeit nicht das Geringste zu tun. Und mit dem Aufstieg der Echokammer hat ein erstaunlicher Wandel eingesetzt. Wurde vor einigen Jahren mit dem Internet noch die Hoffnung auf ‚liquid democracy‘ und eine Stärkung der direkten Demokratie verbunden, schlägt diese Hoffnung nun in eine Bedrohung um“, stellen die Autoren fest. „Ein Strukturwandel der Öffentlichkeit ganz eigener Art scheint sich in den letzten zehn Jahren durchgesetzt zu haben. Ein solcher Strukturwandel wurde schon einmal diagnostiziert: In den 1960er Jahren beschrieb der Sozialphilosoph Jürgen Habermas eine fortschreitende Unfähigkeit, zwischen öffentlichen und privaten Interessen zu unterscheiden (Habermas 1962). Das hatte Konsequenzen. Mit der Unfähigkeit, eigene Interessen zu artikulieren, sank auch die Fähigkeit, überhaupt die Vielfalt von Interessen als Bedingung der Demokratie zu sehen.“
Damals war es das neue Medium Fernsehen, das zu diesem Auseinanderklaffen von Sehen und Verstehen führte.
Es geht um Aufmerksamkeitsökonomie. Um Zusammenhänge zu verstehen, muss sich der Rezipient zumindest für ein etwas längeres Weilchen konzentrieren. Vielleicht nicht für die vielen Stunden, die frühere Zeitungsleser noch ihrer Zeitung widmeten. Aber doch für mehr als nur 5 Minuten oder die 20, 30 Sekunden, die die üblichen Nachrichtenschnipsel im Fernsehen umfassen. Fernsehen hat als erstes Medium die Informationstakte deutlich beschleunigt – dafür ging Tiefe und Komplexität verloren.
Und das Internet hat den Kampf um die Sekunde Aufmerksamkeit noch deutlich verschärft.
„Durch den andauernden Beschuss mit neuen, noch aufregenderen Nachrichten verändern sich die EmpfängerInnen. Schnell ist die Aufmerksamkeitsspanne erschöpft, und das Aufmerksamkeitsdefizit wird zum Massenphänomen. Dadurch haben sich Aufmerksamkeitsökonomie und Aufmerksamkeitsdefizit zusätzlich zu gewichtigen Mediatoren der Teilhabe entwickelt – und gerade das bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Demokratie. Die politische Öffentlichkeit leidet darunter“, stellen die Autoren fest.
Dazu kommt: Die „social media“ sorgen dafür, dass Menschen in Echokammern landen. Die Nutzer können sich ihre bevorzugten Inhalte nicht nur zusammensammeln – die berühmten Algorithmen sorgen auch dafür, dass sie nur noch die von ihnen bevorzugten Inhalte bekommen. Die Nutzer landen immer mehr in einem Kosmos, in dem es keine anderslautenden Meinungen und Ansichten mehr gibt. Was natürlich ihre Weltwahrnehmung verändert. Die Gruppeninnensicht verfestigt sich, wird immer homogener. Es entsteht ein scheinbar dichtes Abbild der Gesellschaft, das aber mit der Vielfalt der ganzen Gesellschaft nichts mehr zu tun hat. Menschen mit radikalen Ansichten bleiben unter sich und radikalisieren sich immer weiter.
Logisch, dass das dann in Kontrast gerät zur breiteren Berichterstattung der klassischen Medien.
Dazu kommt: Man teilt in diesen Gruppen nur noch, was die eigene Meinung bestätigt. Alles andere wird ausgefiltert. Andere Medien werden nur noch danach rezipiert, was sie zur Bestätigung des eigenen Innenbildes zu bieten haben. Und danach wird dann gnädig die Glaubwürdigkeit der Medien beurteilt. Die Filtergruppe stellt sich quasi über „die Medien“ und bewertet aus der gefilterten Eigenperspektive, wie gut die Medien aus dieser Warte sind.
„Die Bewertung der Glaubwürdigkeit von Medien hängt aber nicht nur damit zusammen, ob sie tatsächlich wahrheitsgemäß berichten. Bereits das gemeinsame Auftreten von Chauvinismus und einer positiven Bewertung von Tageszeitungen machte deutlich, dass noch etwas anderes hinzutritt“, schreiben die Autoren. „Die wahrgenommene Glaubwürdigkeit hat auch etwas mit sozialen Normen der Eigengruppe zu tun, die in unterschiedlichen Medien unterschiedlich stark geteilt und wiedergefunden werden. In gesellschaftlichen Konfliktsituationen werden häufig die Normen der eigenen Gruppe besonders betont und ihre Einhaltung nachdrücklicher gefordert als unter ‚Schönwetterbedingungen‘ – die Akzeptanz von Pluralität nimmt ab. Diese Beschreibung kennzeichnet die Lage in einigen sozialen Milieus in den letzten zehn Jahren.“
Zehn Jahre? Das ist das „Facebook“-Zeitalter.
Die Gruppenansichten, die sich derart ausfiltern, sind zwar nicht neu. Aber mit den Algorithmen der „social media“ erlangen sie ein Eigenleben, filtern sich selbst regelrecht aus dem großen gesellschaftlichen Diskurs und beginnen dann, die „Mainstream“-Gesellschaft von außen zu kritisieren.
Wenn sich aber Milieus immer mehr absondern und abschotten, ist das fatal für eine demokratische Gesellschaft. Dann redet man nicht mehr miteinander, sondern pöbelt übereinander. Und die Milieus verstärken sich in ihrem Glauben, ganz allein die Dinge richtig zu sehen. Die anderen sind ja alle auf dem Holzweg. Ergebnis: Eine messbare Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft.
„In der Leipziger ‚Mitte‘-Studie 2016 wurde eine starke Polarisierung und Radikalisierung beschrieben. Während in den demokratischen Milieus das Vertrauen in das demokratische Gemeinwesen in den letzten Jahren gewachsen ist, radikalisierten sich die schrumpfenden rechtsautoritären Milieus. Diese Dynamik lässt sich auch bei der Untersuchung der Mediennutzung feststellen“, kann man jetzt auch im Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung lesen. „Wie bei politischen Inhalten und demokratischen Grundwerten so ist auch bei der Glaubwürdigkeit eine starke Polarisierung zwischen den Positionen festzustellen. Während eine Mehrheit der Bevölkerung der medialen Berichterstattung grundsätzlich glaubt und entsprechend auch Vertrauen gegenüber den gesellschaftspolitischen Institutionen zeigt, stellt sich das Bild in den rechtsautoritären politischen Milieus differenzierter dar.“
Freilich hat das Arbeitspapier ein Problem. Ein nicht ganz unwichtiges. Aber die Autoren merken es wenigstens an, während die meisten Statistiker immer noch ganz undifferenziert vom „Internet“ plappern.
„Als Problemanzeige muss darauf hingewiesen werden, dass hinsichtlich der im Internet verfügbaren Quellen nicht differenziert wurde. So kann eingewendet werden, dass eine Nutzung auch von Premiummedien, also redaktionell betreuten Angeboten, oder auch Internetauftritten von ‚klassischen‘ Medien, wie öffentlich-rechtlicher Rundfunk oder Tageszeitungen, nicht von der ausschließlichen Nutzung der Social Media getrennt werden kann.“
Aber aus meiner Sicht kommen die Autoren dabei zum falschen Schluss: „Unserer Einschätzung nach ist diese Trennung mittlerweile nicht mehr sinnvoll. Auch in den Social Media werden redaktionell betreute Angebote eingebunden, allerdings oft selektiv und nach Maßgabe der in den Foren bestehenden politischen Orientierungen. In jedem Fall kommt es bei Intensivnutzern des Internets durch die Social Media verstärkt zu Feedback-Schleifen, auch wenn auf redaktionell betreute Angebote, vermittelt etwa durch Facebook-Gruppen, zurückgegriffen wird.“
Gerade deshalb ist die Trennung zwischen Social-Media-Nutzung und Nutzung klassischer Nachrichtenportale im Internet nicht nur statistisch sinnvoll, sondern eminent wichtig. Denn die zitierten Echokammern entstehen meist nur, wenn Menschen fast ausschließlich in den Social-media-Kanälen unterwegs sind und die klassischen Nachrichtenportale eben nicht reflektierend ansteuern. Auch im Internet sind klassische Nachrichtenangebote essenziell für einen grundierten demokratischen Diskurs.
Und auch dafür, dass eben nicht ganze gesellschaftliche Gruppen in die Filterblase abdriften und gar nicht mehr in der Lage sind, die Komplexität der Gesellschaft zu begreifen.
Was Misstrauen in Medien mit Marktdenken, Ressentiments und gesellschaftlichen Milieus zu tun hat
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