Nach den Gewalttaten beim G20-Gipfel in Hamburg haben Medien und Politiker den โ€žLinksextremismusโ€œ wieder fรผr sich entdeckt. Wรคhrend einige Journalisten um einen differenzierten Blick bemรผht sind โ€“ sowohl im โ€žSpiegelโ€œ als auch im Fernsehmagazin โ€žPanoramaโ€œ fanden sich beispielsweise sachliche Beitrรคge โ€“ gehen die Regierenden einen anderen Weg. Dieser fรผhrt so weit, dass die Innenminister der Union mittlerweile fordern, die Strafbarkeit des Landfriedensbruchs zu erweitern. So sollen kรผnftig auch jene Personen strafrechtlich verfolgt werden, die Gewalttรคtern โ€žSchutz in der Menge bietenโ€œ.

Soll heiรŸen: Schaulustige, Unbeteiligte und Gegendemonstranten, die bei eskalierenden Auseinandersetzungen nicht die Flucht ergreifen, landen demnรคchst vielleicht auch vor Gericht. Anwรคlte kritisieren dieses Vorhaben als Einschrรคnkung des Demonstrationsrechts und weisen darauf hin, dass der Landfriedensbruch-Paragraph schon jetzt schwammig formuliert sei. Dass in Wurzen am 2. September eine SEK-Einheit die Teilnehmenden einer Antifa-Demo am Bahnhof begrรผรŸte, zeigt, dass das Demonstrationsrecht schon jetzt im Fokus des Staates steht.

Einen weiteren Beitrag zum Thema lieferte nun der Journalist Rainer Fromm mit einer 45-minรผtigen ZDF-Dokumentation unter dem Titel โ€žRadikale von Linksโ€œ. Diese gewรคhrt zwar einen durchaus tiefen Einblick, indem sie zahlreiche Aktivisten zu Wort kommen lรคsst. Doch falsche Zahlen und Orte, wenig Differenzierung sowie fragwรผrdige Experten hinterlassen im Ergebnis einen seltsamen Eindruck.

Auch Connewitz steht mal wieder im Fokus. Dreh- und Angelpunkt der Bilder jedoch sind die G20-Proteste in Hamburg, Proteste in Frankfurt a. Main und 1. Mai-Krawalle in Berlin.

Das erste Problem: die Zahlen

Zentrale These der Dokumentation ist eine angeblich zunehmende Gefahr durch โ€žLinksextremistenโ€œ. Um diese zu untermauern, prรคsentiert der Autor gleich zu Beginn ein Sรคulendiagramm, in dem ein deutlicher Anstieg โ€žlinksextremer Gewaltโ€œ zu erkennen ist: Waren es noch 862 Taten im Jahr 2007, stiegen die Gewalttaten im Jahr 2016 auf 1.702. Nach einem Zwischenhoch im Jahr 2011 gingen die Straftaten 2012 zwar deutlich zurรผck, steigen seitdem jedoch kontinuierlich an und machen von 2015 auf 2016 einen besonders groรŸen Sprung. So suggeriert es zumindest das Diagramm.

Allerdings entspricht das nicht den Fakten. Die Zahlen des BKA zeigen einen deutlichen Rรผckgang von 2.246 Taten im Jahr 2015 auf 1.702 Taten im Jahr 2016. Zumindest einen statistischen Beleg fรผr zunehmend gewalttรคtige โ€žLinksextremistenโ€œ gibt es derzeit also nicht. Da hilft auch der eher bemรผht wirkende Rรผckgriff auf die RAF der Dokumentation nicht wirklich weiter.

Spรคter ist ein zweites Sรคulendiagramm zu sehen: Seit der Wiedervereinigung habe es sechs politisch links und 76 politisch rechts motivierte Morde gegeben. Bereits diese Statistik zeigt schon, dass die Gewalt aus beiden Lagern nicht gleichgesetzt werden kann. Hinzu kommt, dass die Zahlen รคuรŸerst fragwรผrdig sind.

Im Falle der angeblich sechs linken Morde beruft sich der Autor offenbar auf Angaben aus der โ€žBibliolinXโ€œ-Chronik des Extremismusforschers Karsten Dustin Hoffmann, der auch als Experte in der Doku vorkommt. Dabei treten drei Schwierigkeiten auf: Erstens enthรคlt diese Liste keine Mord-, sondern Todesopfer. Der Unterschied wird im jรผngsten Fall, eines im Juli 2014 im Nรผrnberger Hauptbahnhof ins Gesicht geschlagenen Neonazis deutlich, der danach zu Boden ging, ins Koma fiel und spรคter verstarb. Laut Gericht kein Mord, sondern eine Kรถrperverletzung mit Todesfolge. Zweitens enthรคlt diese Liste einen Fall aus dem Jahr 2001, als ein Anarchist nach einer Leistungskรผrzung den Direktor eines Arbeitsamtes tรถtete.

Das Gericht sah hier eine psychische Erkrankung als ursรคchlich. Drittens ergibt sich aus den beiden vorherigen Todesfรคllen: Rechnet man diese beiden Fรคlle heraus, datiert der letzte zweifelsfrei politisch links motivierte Mord somit aus dem Jahr 1993. In einer Doku, die รผber neuen โ€žlinken Terrorโ€œ spekuliert und versucht eine Klammer hin zur RAF zu bauen, sollte dieser Fakt eigentlich erwรคhnt werden.

Kritikwรผrdig ist aber auch die Zahl 76 auf der rechten Seite. Diese stammt vom BKA. Andere Zahlen liegen deutlich darรผber. Die Amadeu-Antonio-Stiftung spricht von 179 Todesopfern und 21 Verdachtsfรคllen. Auch Journalisten des โ€žTagesspiegelโ€œ und der โ€žZeitโ€œ kamen bei ihren Recherchen auf mehr als 150 Fรคlle. Der Hauptgrund ist, dass in vielen Fรคllen rassistische Motivationen oder menschenfeindliche Einstellungen vor Gericht nicht in das Urteil einbezogen werden.

Der Autor der Doku traut den Zahlen des BKA, das sich bereits einmal deutlich nach oben korrigieren musste, offenbar mehr als denen seiner Kollegen.

Das zweite Problem: die Orte

Nach etwa 20 Minuten heiรŸt es: โ€žImmer wieder kommt es in Connewitz zu StraรŸenschlachten mit angereisten Rechtsextremen.โ€œ Beispiele fรผr diese Behauptung werden allerdings nicht genannt. Zwar verortet der Autor den Neonaziaufmarsch am 18. Mรคrz dieses Jahres in jenem Stadtteil โ€“ doch gehรถren Kurt-Eisner-StraรŸe und StraรŸe des 18. Oktober nicht dazu. Falsch ist demzufolge auch die Behauptung, dass die Gegenkundgebung neben der Deutschen Nationalbibliothek in Connewitz stattgefunden hรคtte.

Offenbar um darzulegen, wie gefรคhrlich es mit den โ€žLinksextremistenโ€œ in โ€žConnewitzโ€œ ist, zeigt man eine Rangelei zwischen Polizei und Gegendemonstranten mit den Worten: โ€žEs kommt zur Eskalation. Der Schwarze Block versucht, die Polizeikette zu durchbrechen.โ€œ Viel mehr als zwei Demonstranten, die einen Schritt nach vorne gehen, und ein Polizist, der daraufhin in die Menge tritt, sind aber nicht zu sehen. Und viel mehr fand an diesem Tag auch nicht statt.

Auch die Ausschreitungen am 12. Dezember 2015 hingegen, die in der Doku zwar nicht erwรคhnt werden, aber wohl mit den angeblich wiederholten StraรŸenschlachten mit Rechtsextremen gemeint sind, fanden nicht in Connewitz statt, sondern nahezu ausschlieรŸlich in der Sรผdvorstadt. Hinzu kommt: Das Angriffsziel an diesem Tag war die Polizei.

Das dritte Problem: wenig Differenzierung

Wer รผber die radikale Linke in Deutschland nichts weiรŸ (und zudem โ€œExtremismusโ€ und โ€œRadikalitรคtโ€ wie die Dokumacher selbst nicht unterscheiden kann), wird nach Sichtung dieser Dokumentation wohl ein ziemlich schiefes Bild von ihr haben. Immer wieder finden sich Aussagen, die komplexe Zusammenhรคnge enorm vereinfachen. So ergibt sich beispielsweise das Bild, dass Stalin und Mao von nahezu allen โ€žLinksextremenโ€œ verehrt wรผrden. รœber die verschiedenen, sich รผber Fragen wie Nation, Nahostkonflikt, Kapitalismuskritik und die Rolle der USA teilweise massiv bekรคmpfenden Strรถmungen innerhalb dieser Szene โ€“ genannt seien exemplarisch Antideutsche und Antiimperialisten โ€“ erfรคhrt man wenig.

Eher entsteht der Eindruck einer homogenen linken Masse. Auch die kontroversen Diskussionen innerhalb der โ€žLinksextremenโ€œ oder โ€œRadikalenโ€ (immer wieder durcheinandergeworfen), ob und gegen wen Gewalt legitim sei, spiegeln sich nicht wieder.

Stattdessen hat alles seinen festen Platz. Auf vielen Demonstrationen wรผrden beispielsweise โ€žkritische Bรผrger, demokratische Organisationen und Linksextremistenโ€œ auftauchen. Es entsteht der Eindruck, als lieรŸe sich das stets klar trennen. Letztere mรถchten angeblich โ€ždas demokratische Systemโ€œ beseitigen, so die Interpretation der Dokumentation. Es entsteht der Eindruck, als wรผrde die Forschung keine anderen demokratischen Systeme als das derzeit in Deutschland real existierende kennen. Die rot-grรผne Bundesregierung unter Gerhard Schrรถder sei eine linke gewesen.

Bedenkt man zum Beispiel den Balkankrieg und Hartz-IV-Gesetze dieser Zeit mit, kann man bereits darรผber lange grรผbeln und die These unhaltbar finden.

Zudem bleiben viele Zusammenhรคnge unerwรคhnt. Zum Beispiel, dass es fรผr linke Gewalt hรคufig konkrete Anlรคsse gibt. Die hohen Zahlen in den vergangenen Jahren erklรคren sich vor allem durch die Vielzahl an rassistischen Demonstrationen. Bei Gegenprotesten kommt es dabei hรคufig zu โ€žWiderstandsdeliktenโ€œ gegen Polizeibeamte, womit bereits eine Weigerung, sich aus einer Sitzblockade heraustragen zu lassen, gemeint sein kann. In der Gewaltstatistik des BKA gibt es zwischen einer solchen Tat und beispielsweise einem massiven kรถrperlichen Angriff eines Neonazis auf einen wehrlosen, minderjรคhrigen Geflรผchteten keinen Unterschied.

Dass die Polizei selbst keine unbeteiligte GrรถรŸe in Gewaltfragen ist, wird zwar durch die befragte Juliane Nagel (Die Linke) angesprochen, doch durch die Dokumentationsmacher als falsch, als extreme Sichtweise zurรผckgewiesen.

Das vierte Problem: fragwรผrdige Experten

Zwar kommen auch zahlreiche Antifa-Aktivisten und Kapitalismusgegner zu Wort, doch jene, die vermeintlich unabhรคngig von auรŸen das Geschehen kommentieren, sind Verfassungsschรผtzer und sogenannte โ€žLinksextremismusโ€œ-Forscher mit problematischem Hintergrund. Zu letzteren zรคhlen in dieser Dokumentation der bereits genannte ehemalige Bereitschaftspolizist Karsten Dustin Hoffmann. Dass dieser seit seiner Promotion bei โ€œHufeisen-Theorieโ€-Erfinder Eckhard Jesse an der TU Chemnitz nicht nur รผber โ€žLinksextremismusโ€œ forscht, sondern auch fรผr die AfD in einem Kreistag sitzt, bleibt unerwรคhnt.

Zudem beruft sich die Dokumentation auf die angebliche Expertise von Klaus Schroeder. Dieser hatte vor zwei Jahren eine Studie verรถffentlicht, der zufolge man des โ€žLinksextremismusโ€œ verdรคchtig ist, wenn man unter anderem folgenden Aussagen zustimmt: โ€žIch sehe die Gefahr eines neuen Faschismus in Deutschlandโ€œ, โ€žEine tief verwurzelte Auslรคnderfeindlichkeit lรคsst sich bei uns in Deutschland รผberall im Alltag beobachtenโ€œ, โ€žDie deutsche Polizei ist auf dem rechten Auge blindโ€œ, โ€žIn unserer Demokratie werden Kritiker schnell als Extremisten abgestempeltโ€œ, โ€žDeutschland sollte prinzipiell alle Personen aufnehmen, die in unserem Land Zuflucht suchenโ€œ und โ€žDie รœberwachung von linken Systemkritikern durch Staat und Polizei nimmt zuโ€œ.

Setzt man diese Definition an, dรผrfte das den Kreis angeblich extremistischer Mitbรผrger deutlich erweitern.

Fast am Ende der 45 Minuten stellt die Doku schlieรŸlich eine massive Frage in den Raum: โ€žWie weit ist es noch zum neuen linken Terrorismus?โ€œ Ausgerechnet bei dieser Frage scheint die Expertise von Klaus Schroeder nicht mehr uneingeschrรคnkt gefragt. Denn wรคhrend dieser antwortet, dass derzeit keine solche Gruppe zu erkennen sei, heiรŸt es auf der Homepage des ZDF im Ankรผndigungstext zu der Sendung: โ€ž2015 tritt der linksextreme Terror brutaler auf als der rechtsextreme.โ€œ

2015 โ€“ das war das Jahr, in dem in Deutschland mehr als 100 Asylunterkรผnfte brannten, in Heidenau der Mob tobte und die rechtsterroristische โ€žGruppe Freitalโ€œ ihre politischen Gegner und Auslรคnder ins Visier nahm. Und wohl auch dem Letzten klar wurde, dass der NSU-Komplex nicht wirklich aufgeklรคrt werden wird.

Die Sendung โ€žRadikale von Linksโ€œ beim ZDF

Nachtrag 12.09.2017: Zumindest zur fehlenden Aufklรคrung รผber die Parteizugehรถrigkeit von Karsten Dustin Hoffmann (AfD) rรคumte ZDF-Sprecher Thomas Hagedorn am 12. September gegenรผber der TAZ ein, dass diese fehlen und man diese nun auf heute.de nachreichen wรผrde.

Das ZDF hatte ihn im Rahmen der Dokumentation als โ€žPolitologenโ€œ vorgestellt und dabei nicht erwรคhnt, dass Hoffmann im Kreistag in Rotenburg an der Wรผmme der Fraktionsvorsitzende der dortigen AfD-Fraktion ist. Zu den weiteren Ungenauigkeiten und teilweisen Falschdarstellungen der Dokumentation gibt keine bislang keine Erklรคrung seitens des ZDF.

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Sehr gut aufgedrรถselt.
Sorry fรผr die Wortwahl, aber kann man das ZDF fรผr diese ScheiรŸe nicht verklagen? Ich hรคtt den Autor schon nach den ersten drei Minuten am liebsten geschรผttelt, der ist doch im besten Fall zu dumm fรผr den Job und im schlimmsten selbst bei der AfD. So einen Blรถdsinn hab ich ja schon lang nicht mehr gesehen (ausser in Propagandafilmen von AfD und NPD).

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