LZ/Ausgabe 47Je näher der Termin der Bundestagswahl rückt, umso dichter tackern die Wahlumfragen, servieren allerlei Medien immer neue Umfrageergebnisse, die immer mehr ein Ergebnis suggerieren, das dem tapferen Wahlbürger am 24. September eigentlich nur noch eine Wahl lässt: zu Hause zu bleiben. Der Überdruss ist überall spürbar.

Und Medien, die all diese immer langweiligeren Ergebnisse verkünden, tun mit ihrer Berichterstattung darüber alles, um auch noch den letzten Funken von Hoffnung zu ersticken. Etwa so wie die „Frankfurter Rundschau“, die man eine Zeit lang noch als besonnen und klug betrachten konnte unter allerlei aufgeregten Newsmakern. Aber irgendetwas ist auch dort in der Redaktion anders geworden. Irgendjemand verteilt wohl Aufputschmittel, damit die Kommentare süffiger werden und eine neue Wahlumfrage vermeldet wird, als wäre es das furiose Ergebnis eines Bundesligaspiels.

So wie diesmal eine Umfrage von der ARD, am 7. September präsentiert mit dem Einstieg: „SPD droht historisches Debakel. Laut ARD-Deutschlandtrend droht das schlechteste SPD-Ergebnis bei einer Bundestagswahl in der Geschichte der Bundesrepublik. Nach den Prognosen gäbe es zwei mögliche Koalitionsoptionen …“

Journalisten, die bei solchen Meldungen das Wort „historisch“ benutzen, sollten sowieso einmal nachschauen, ob ihnen jemand etwas in den Kaffee gestreut hat. Ob etwas wirklich einmal historisch wird, das entscheidet ganz allein die Geschichte.

Von einer Vorsicht den Ergebnissen solcher Umfragen gegenüber und ihrer Belastbarkeit dann bei der richtigen Wahl, ist in diesem Beitrag nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Man hat das Gefühl, das Wissen um die Fragwürdigkeit von solchen Stimmungsabfragen ist völlig verloren gegangen. Man verkauft eine Umfrage wie einen reellen Stimmungswandel. Und man vergisst völlig, wie sehr man mit solchen Verlautbarungen selbst dafür sorgt, dass sich die Sicht auf den eigentlich noch gar nicht beendeten Wahlkampf ändert.

Das ist ein Thema, mit dem sich am 4. September ein Beitrag in der „Zeit“ beschäftigt hat, einer Zeitung, die sich seit ein paar Monaten sichtlich Mühe gibt, wieder mehr Vielfalt journalistischer Sichtweisen zurückzugewinnen, die früher einmal große Zeitungen ausgezeichnet hat. Und auch die Vorsicht, die zu solchen Verlautbarungen aus dem Wahlkampf gehört, der auch deshalb Wahlkampf heißt, weil es eine Phase ist, in der eigentlich alle Parteien mit gleichen Chancen um die Köpfe der Wähler kämpfen dürfen oder dürfen sollten.

Aber der Kommentar in der „Frankfurter Rundschau“ ist nicht der einzige, der dem Herausforderer der SPD jetzt schon völlige Chancenlosigkeit attestiert und dem Leser einredet, es lohne sich nicht mehr, auf dieses Pferd zu setzen.

Meinungsumfragen machen selbst Meinung

Das weiß kaum einer besser als Gerd Bosbach, Statistiker, Mathematiker und Autor des Buches „Lügen mit Zahlen“, der in der „Zeit“ am 4. September entsprechend zum Thema geschrieben hat. „Meinungsforschung macht auch selbst Meinung“, sagte er dort. „Sie kann, ob gewollt oder nicht, Wahlen beeinflussen. Dafür gibt es jede Menge Beispiele. Wird eine Partei dauerhaft auf unter drei Prozent geschätzt, liegt es für den taktisch denkenden Wähler nahe, die Stimme einer größeren Partei zu geben, um sie nicht zu verschenken.“

Ein nicht unwichtiger Aspekt. Aber er impliziert auch noch etwas anderes, denn der Wähler möchte ja, dass seine Stimme auch Einfluss auf die Politik der nächsten vier, fünf Jahre hat. Bosbach nennt es taktisches Wählen.

„Nun kann man sagen, dass gegen taktisches Wählen wenig einzuwenden ist – abgesehen davon, dass die Wahl einer Partei, die man eigentlich nicht bevorzugt, kein Ruhmesblatt für die Demokratie ist“, erklärte er. „Doch die Orientierung des Wählers an Umfragen hat auch schon schwerwiegendere Folgen gehabt. Etwa beim Brexit. Viele Wähler dürften angesichts der scheinbar klaren Prognosen auf das Wählen verzichtet haben oder sogar gegen ihre Überzeugung für den Brexit gestimmt haben, um der Regierung einen Denkzettel für Versagen auf anderen Feldern verpassen zu wollen. Es verzerrt Wahlergebnisse, wenn viele Menschen zu wissen glauben, wie die Wahl ausgehen wird.“

Die Wähler wählen dann nicht mehr die Partei, die ihren eigenen Vorstellungen von richtigen Entscheidungen am nächsten kommt. Denn wenn die Umfragen suggerieren, dass diese Partei keine Chance hat, an der nächsten Regierung beteiligt zu sein, ist es ja irgendwie besser, die Stimme einer anderen Partei zu geben, die scheinbar eine Chance hat, auch wenn man mit deren Gesamtprogramm nicht ganz so übereinstimmt.

Oder – siehe Brexit – man bleibt zu Hause, weil man glaubt, eh nichts verändern zu können, was in Großbritannien tatsächlich fast 90 Prozent der jungen Wähler taten, genau jene, die künftig die Folgen des Brexit ausbaden müssen.

Meinungsumfragen verstärken augenscheinlich das, was man so landläufig „Wahlmüdigkeit“ nennt

Und die dichte Folge der Wahlumfragen verstärkt ganz unübersehbar auch einen Trend: Je länger Herausforderer Martin Schulz hinter Angela Merkel zurückliegt, umso mehr verfestigt sich der Rückstand der SPD. Kein Streitgespräch im TV ändert etwas daran, kein Klinkenputzen im Wahlkampf, keine Plakatkampagne, nichts.

Und das hat weitere Folgen. Denn wenn Wahlkampf wie ein Fußballspiel inszeniert wird, bei dem der Herausforderer schon mit den ersten Minuten nach dem Anpfiff hinten liegt und nichts mehr passiert, dann beschäftigen sich auch immer weniger Menschen mit dem, was der oder die Herausforderer eigentlich wollen, worin ihre inhaltlichen Unterschiede bestehen. Der Wähler betrachtet das Ganze wie ein Spiel von Fußballprofis, wie eine Show. Aber es gibt keine Diskussion mehr darüber, welche Richtungsentscheidungen eigentlich anstehen, wie die Zukunft des Landes aussehen soll, welche Probleme dringend gelöst werden müssen – und vor allem: wie.

Und das hat nicht nur mit dem sogenannten Merkel-Effekt zu tun, der Kunst der Kanzlerin, sich über Probleme einfach hinwegzulächeln. Das hat auch mit einer Berichterstattung zu tun, die Politik wie ein Fußballspiel darstellt und Wahlumfragen wie Spielergebnisse präsentiert.

Aber Politik ist kein Fußballspiel

Auch Bosbach wählt in seinem Beitrag genau diesen Vergleich. Und Fußballanhänger wissen, wie dröge eine Saison wird, wenn der Meister schon vor Weihnachten feststeht: „Umfragen sind ungenau, Umfragen verzerren Wählerentscheidungen. Und: Umfragen entpolitisieren. Wenn im Zentrum der Aufmerksamkeit der Spielstand zwischen den Spitzenkandidaten steht, dann werden tiefe inhaltliche Debatten schnell als nervtötend und anstrengend empfunden. Wenn ihnen nicht schon vorher die Relevanz verloren geht, weil das Ergebnis ohnehin schon feststeht – laut Umfragen.“

So etwas entmutigt auch den Wähler. Warum soll er sich noch aufraffen, wenn er am absehbaren Wahlergebnis ja doch nichts ändern kann? Es sind nicht nur die agierenden Parteien, die eine Menge dafür getan haben, dass ein Großteil der Nation seit Jahren in tiefer Politikverdrossenheit steckt. Es sind auch die Medien, die Politik fast nur noch als Schlagabtausch austauschbarer Fußballmannschaften darstellen, bei dem die Performance wichtiger ist als der Inhalt.

Das kann nicht gutgehen. Und das wird auch nicht gutgehen. Denn wo diese Verdrossenheit um sich greift, wächst auch das Misstrauen in die Demokratie. Und das ist brandgefährlich.

Zu weiteren Beiträgen & Kandidatenvorstellungen rings um die Bundestagswahl 2017 auf L-IZ.de www.l-iz.de/tag/btw17

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Ein Blitzlicht in einen drögen Wahlkampf, in dem alle ungelösten Probleme unter den Tisch gelächelt werden

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