LeserclubDiesmal tauchte Oleg nicht im gepflegten „Tschaika“ auf. Die Staatskarosse war ja bekanntlich gerade in Behandlung und nicht verfügbar. Auch wenn das Automobil, mit dem L.s Freund die vier nächtlichen Reisenden erwartete, von stillem, sanftem Schwarz war. So wie die Flügel einer Fledermaus.
Und Oleg selbst erschien ebenfalls in edlem Schwarz. „War große Party. Musste ich bleiben in Schale, nix Zeit zum Umziehen, ponimaju“, brummte er, als wenn er sich zumindest vor dieser eindrucksvollen Person entschuldigen musste, die selbst im Straßenlampenlicht leuchtete wie eine verirrte Sternschnuppe.
Eine stille Anmut. Aber auch ein kleines Knistern.
„Kenn ich dich“, hauchte die Diva. Und es war wirklich ein Hauchen, wie man es selten hört in der Stadt, seitdem sie rund um die Uhr von Lärm erfüllt ist, dem Lärmen der Lemuren, den Höllengeistern, wie Herr L. sie für sich nannte, wenn er nächstens vom Fenster aus auf das rötliche Glühen schaute, das immer über der Stadt L. lag. Als brüte sie fortwährend vor sich hin, als würden Scharen unermüdlicher Nachtarbeiter in den riesigen hellen Hallen am Rand der Stadt Ströme von unerfindlichen Dingen bewegen.
Was sie ja auch taten.
Aber in der Mitte, da lag der rote Schein über leeren Straßen. Verschlossenen Büroschluchten, gläsernen Gebirgen, über denen nur Fragmente außerirdischer Namen glühten. Ansonsten Stille. Knistern.
„Fahren wir“, sagte die Diva.
Und wählte dennoch den Fond des dunklen Wagens, schwere dunkle Bezüge auf den Sitzen, die breiter wirkten, als sie tatsächlich waren. Tatsächlich musste sich selbst L. in einen fast zu schmalen Sitz zwängen. Die Federn ächzten. Das Leder schien spröde. Auch Mascha wollte lieber hinten sitzen. So dass L. den Atem der beiden Frauen im Nacken hatte. Manchmal ein „Links“ oder „Rechts“ der Diva im Ohr. Oder ein „Langsamer!“
Die Stille war voller Untertöne. Auch wenn der Motor selbst nur zu schnurren schien. „Gut geölt. Haben wir ganze Woche rund gemacht. Schnurrt wie Katze“, wagte Oleg den kleinen Fischzug nach einem Lob. Und L. wollte ja gern loben.
„Wohl eher ein Raubtier, Herr Oleg“, sagte die Diva. „Sind Sie immer noch in dem Gewerbe?“
Sie kannten sich also. Was hätte L. anderes erwarten sollen.
„Bin ein gefragter Mann, Fräulein Margarita“, kam es kurz angebunden zurück.
Sanft legte sich das schwarze Gefährt in die Kurve.
„Margarita?“, fragte Mascha.
„Alte Geschichte“, sagte Oleg. „Chornalt, wenn ihr mich fragt.“
„Es fragt aber keiner“, sagte die Diva. Ein wenig schärfer. Als wäre da was zu beenden. Ganz schnell, bevor einer fragte. Wollte Herr L. da nicht schnell noch dazwischenfragen und die beiden stören in ihrem kleinen, surrenden Kräftemessen?
„Sollte ich das wissen?“
„Meeglich“, sagte Oleg. Da fuhren sie am dritten, oder vierten Bauschild vorüber. Oh ja, in dieser Stadt wurde wieder gebaut. Wer ein Stückchen vom städtischen Boden besaß, konnte jetzt Geld verdienen. Kräne reckten sich in den glühenden Himmel. An Zäunen flackerten „Betreten verboten“-Schilder.
„Fünf“, sagte die Diva. Und: „Musst du nicht.“
„Warum nicht?“
Die Nacht war, wie es schien, voller grell erleuchteter Baustellen.
„Sechs“, sagte die Diva. „Das ist eine Sache zwischen Herrn Oleg und mir.“
„Und gewissem Herrn Fuchs, musst du wissen. Mädchen vergessen gern, dass große Oleg auch große Elefant mit Gedächtnis wie Pferd. Wer hat aufpassen sollen auf Fräuleinchen Belinda? War doch Oleg, dumme Russe, nix verstehn. Immer im Weg, breites Schrank und zu nix nutze. Wissen ja alles besser, junge Mamsellchen, hab ich Recht, Margarita?”
„Ich heiße nicht Margarita.“
„Aber natürlich nicht. War ja nur Name an Telefon. Kann großes Oleg vielleicht aufpassen ein bisschen auf Fräulein Belinda, war doch so? Ich habe gutes Ohr für Stimme mit – wie sagt man?“
„Wie soll ich das wissen“, meinte Herr L., der zwar den ganzen Sekt in allen Hirnwindungen spürte, aber trotzdem hellwach war. Da knisterte eine Geschichte, die er noch nicht kannte. Die ihm aber irgendwie vertraut vorkam.
„Sieben und acht“, sagte die Diva. Neben dem Autohaus wurden zwei würfelförmige Häuschen gebaut. Und ein ebenso schwarzes Auto wie das ihre stand davor.
„Ist wieder nur Igor, der hier den Wachchund macht. Richtiges Großauftrag für billiges Geld. Der Chund macht uns alle Preise kaputt in der Stadt. Willst du darüber nicht mal schreiben, Herr L.? Kann ich dir was erzählen …“
Aber L. wollte sich von den beiden nicht ablenken lassen.
„Das gewisse Fräulein Margarita …“
„Es gab keine Margarita“, hauchte es ihm in den Nacken.
„… das es nicht gab …“
„Es gab keins, hörst du mir zu?“
„Aber natürlich“, sagte L. Und genoss diesen warmen Atem im Nacken.
„Natürlich nicht. Und du, Oleg? Hast du den Auftrag abgelehnt? War dir das …“
„Warum gibst du keine Ruhe, L.?“
„Weil ich es entweder weiß oder so ahnungslos sterbe wie der nette Herr Miller. Erinnerst du dich?“
„Der war nicht nett“, versuchte die Diva abzumildern, was eigentlich unübersehbar war. Dazu hatte sie schon längst viel zu viel erzählt an diesem Abend. Auch wenn dieser Awgust Miller wohl verschlossen wirkte wie eine Auster, schien er wohl noch der lebendigste in diesem Haufen von Raubtieren gewesen zu sein, unter die Belinda – und wohl auch die Prinzessin – damals geraten war, angelockt vom Glanz des Geldes. Oder auch nur den Prahlereien dieser Leute, die auf einmal wie Zauberer auftauchten im Rampenlicht. Als wären sie vorher gar nicht da gewesen. Männer ohne Geschichte, ohne Vorleben, als wären sie aus einem unbekannten Land einfach angekommen eines Tages, hätten sich dieses heruntergekommene Städtchen angeschaut und dann geschnappt, was herumlag.
Irgendwann dirigierte die Diva Oleg auf die schmale Auffahrt auf den riesigen Schuttberg, der die Stadt als Einziges überragte. Ein Trümmerberg aus jenen Zeiten, als man in aller Eile die Kriegsreste beiseite schaffen musste, um was Neues hinzubauen. Die Flanken des Hügels waren längst zugewachsen und die schmale, aber beleuchtete Straße, eigentlich nicht mehr für Automobile zugelassen. Verbotsschilder blitzten auf.
„Ist egal, fahr weiter.“
Ein paar Schattenwesen huschten über den Weg. Das Licht der Scheinwerfer glitt über dunkle Baumwände. Um diese Zeit kam ihnen auch kein Spaziergänger entgegen. Niemand hielt sie auf. Und oben auf dem Plateau empfing sie das Leuchten der Stadt. Nicht mehr. Auch hier sah man den Sternenhimmel nicht. Nur das rote Glühen. Die Lemuren arbeiteten. Und Oleg löschte die Lichter des Wagens.
„Acht“, sagte die Diva. Denn draußen am Rand der Stadt leuchteten noch mehr Kräne.
„Jetzt verdienen sie erst richtig Geld.“
„Sie hatten den richtigen Riecher“, sagte Herr L.
„Das glaubst du doch wohl selber nicht.“
„Doch, das glaube ich. Das weiß ich sogar. Das hab ich schwarz auf weiß.“
Hatte er das wirklich gesagt? Oder glaubte Herr L. hinterher nur, dass er es gesagt haben könnte? Denn ob die Dinge in dieser Nacht tatsächlich in dieser Reihenfolge abgelaufen waren, könnte er später nicht mehr sagen. Vielleicht war es auch schon auf der Rückfahrt, als er von Oleg unbedingt wissen wollte, ob er den Job als Bodyguard damals abgelehnt hatte.
Hatte ihn die Diva tatsächlich darum gebeten?
Oder hatte tatsächlich Herr Miller den Anstoß gegeben und etwas gesagt wie: „Wenn sie sich mit denen einlässt, dann schwebt sie in Gefahr.“
Oder gar Lebensgefahr?
„Nein. Natürlich nicht. Wenn ich das wirklich geahnt hätte …“
Aber Oleg war sich sicher. „Ich kann mich schon gut erinnern, Fräulein Diva. Ich habe einen guten Kopf. Der vergisst nichts. Ich sollte auf kleines Belinda aufpassen wie Papa. Immer Auge auf chaben und – wenn Gefahr – eingreifen mit meine große Chände. Hab doch große Chände? Kann kleine Ganove zusammenstauchen, dass Lust vergeht an böse Taten …“
„Und“, hakte L. ein.
„Nichts und“, hauchte die Diva.
„Chab nichts wieder gehört damals. War Sendepause. Fräulein Margarita rief nicht wieder an.“
Sagte die Diva „Neun“ an der Stelle? Oder waren sie da schon auf der Ausfallstraße hinaus in das Wohngebiet mit den gläsernen Villen?
Irgendwann jedenfalls sagte sie: „Da war es schon passiert.“
Ein bisschen dumm durfte er ja sein. Und Dinge einwerfen wie: „Weil sie schwanger war?“
„Sie war bestimmt nicht schwanger.“
„Und wenn …“
Da musste L. nicht einmal nüchtern sein, da kamen ihm die Fragen eine nach der anderen über die Zunge. Die ganze Sektsauferei hatte gar nichts genützt. Der ewig Putzmuntere in ihm war immer wach, immer bereit, seine Arbeit zu tun. Nicht mal in der Nacht gab er Ruhe.
„Und wenn …“
Aber da war es wohl Mascha, die ihn bremste. „Frauen sehen manchmal auch glücklich aus, wenn sie nicht schwanger sind.“
Und für einen Moment roch es nach Flieder in ihrem nächtlichen Gefährt, mit dem sie durch die Nacht schnurrten, als schwebe es. Als wäre die Straße da draußen gar nicht wirklich real. So wie die ganze Nacht nicht.
Oder standen sie noch immer oben auf dem Trümmerberg, der sich über das rote Glühen erhob?
Und die Diva war es, die sagte: „Wir werden ihn heimsuchen. Jetzt, jetzt, sofort.“
Wen? Um diese Zeit? Warum? Was hatte sie vor?
„Meinst du nicht …“
„Doch“, sagte sie. „Jetzt. Es ist immer jetzt, Herr L. Weißt du das nicht?“
Aber in dem Moment hatte er schon so eine Ahnung, dass sich die Diva in diesem Punkt irrte. Dass sie sich alle immer geirrt hatten. Vielleicht stieg ihm auch nur der Alkohol endgültig in die letzten Windungen seines ruhelosen Gehirns, das die ganze Zeit nach einem Faden suchte.
„Du weißt, wer sie umgebracht hat …“
„Nein, das weiß ich nicht“, rief die Diva in den roten Himmel.
Und machte wohl eine kurze, knisternde Pause: „ABER ICH WILL ES VERDAMMT NOCH MAL ENDLICH WISSEN! KAPIERST DU DAS, HERR NEUNMALKLUG?!“
Ja, das muss noch oben auf dem glimmenden Plateau gewesen sein.
Bevor Oleg mit den Schultern zuckte und sich wieder hinters Steuer schob. Und das fast unsichtbare Gefährt wieder zu brummen begann. „Nu dann, die Damen, da werden wir wohl fahren zu Herrn Teufel. Chab ich gewusst? Natierlich. – Ihr wollt es wirklich?“
„JA“, sagte die Diva.
„Na ja“, sagte Herr L.
„Ja“, sagte auch seine Mascha. Und brachte es fertig, es genau so zu sagen, dass L. sich gemeint fühlte. Die Fledermaus fuhr die Flügel aus und sie glitten hinunter in die glühende Stadt.
„Und dann?“
Darauf bekam er keine Antwort mehr. Er hörte nur das Atmen der Beiden im Fond. Irgendwann, das wusste er, würde er die Frauen verstehen. Aber das würde in einem anderen Leben sein. Nicht in diesem.
„Elf“, sagte die Diva. Das war das neue Autohaus neben der Tankstelle.
Waren sie eingebogen, um sich einen neuen Vorrat an Alkohol zu besorgen? Manchmal, wenn L. versuchte, sich zu erinnern, war ihm so. Manchmal aber sah er ihr Fahrzeug auch vorüberschweben, als trüge es ein stiller Wind zum Rand der Stadt. „Ich hab aber Durst.“ – „Ich denke, wir sollten nüchtern bleiben.“ – „Ganz nüchtern?“ – „Ja.“ – „Das halte ich nicht aus.“
Aber wie gesagt. Als er sich tags darauf versuchte, diesen nächtlichen Ausflug zu sortieren, passten einige Stücke nicht zueinander. Und das verstärkte nur seine Kopfschmerzen, als er versuchte, die Augen zu öffnen.
„Erinnern Sie sich, Herr L.?“
„Wer sind Sie?“
Aber das war viel später. Aber was passierte, als das Fahrzeug vor den hell erleuchteten Torweg glitt? War es sofort passiert? Oder war Oleg ausgestiegen, um das Tor aus den Angeln zu heben? Und dann war dieser geifernde Hund auf sie zugesprungen. Woher kam das Fiepen? – „Alkohol ist nicht gut für Ihren Kopf, Herr L.“
„Aber wer sind Sie?“
Aber wie gesagt, das war am nächsten Tag. Und in einem Moment, in dem L. ganz genau wusste, dass man nicht einfach an seinem Schreibtisch aufwachte, wenn man die Nacht in einem Film Noir zugebracht hatte.
Die komplette Serie zum Nachlesen.
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