LeserclubSolche Nächte fürchtete L. Und wich ihnen eigentlich aus, wenn er konnte, ging nicht mehr ans Telefon, ignorierte das Quarren seines elektronischen Flaschengeistes. „Ich bin dein elektronischer Flaschengeist! Du hast gefälligst bei Fuß zu stehen, wenn ich auch nur niese.“ – „Nöö.“ – „Aber doch! Das ist ein Befehl!“ – „Von Flaschengeistern lass ich mir nicht ...“

Haben Sie es schon einmal versucht? Haben sie Ihren Flaschengeist zurück in die grüne Flasche beordert und ihm gesagt, dass er sich für die nächsten 1.000 Jahre einfach einen Bart wachsen lassen soll? Oder was Flaschengeister sonst so treiben? L. hat es versucht. Oft genug.

Er hat dem Geist die Batterie genommen. Das war wagemutig. Dafür gab’s späterenmals eine gewaltige Kopfwäsche von Mascha. Denn manchmal ist ja seine Mascha der Flaschengeist und will einfach nur wissen, ob er noch da ist und sie lieb hat. Manchmal hat sie solche Anwandlungen, da zweifelt sie sogar daran, dass es ihn noch gibt. Zum Beispiel, wenn er sich drei Stunden lang nicht gemeldet hat.

Dann braucht es eine Menge Überzeugungsarbeit, bis sie ihm glaubt. Erstens: Dass es ihn tatsächlich noch gibt. Zweitens: Dass er gerade nicht mit einer anderen Frau in einer Gemäldegalerie steht und sich über die wohlgefälligen Formen der Gioconda unterhält. Gar noch auf französisch. Ach ja: Drittens, dass er sie noch liebt. Wirklich liebt. Was etwas anderes ist, als nur einfach so lieben. Das kann ja jeder und das sagen sie alle.

Richtig also.

Und dazu gehört: DASS ER SEINEN VERDAMMTEN FLASCHENGEIST NIE, NIEMALS AUSSCHALTET!!!

Aber …

(!!!!!!)

Deswegen.

Also lud er brav und regelmäßig die Batterien seines Flaschengeistes auf, ertrug sein Quengeln und bat irgendwann Oleg darum, jedem einzelnen Kummer seines Flaschengeistes eine eigene Melodie zu verpassen. Das soll ja mit der  Menüauswahl ganz einfach sein. Für Leute, die Ahnung von so etwas haben. L. gehörte eindeutig nicht dazu.

Mozarts kleine Nachtmusik bot sich natürlich an für Liebeskummer.

Beethovens Schicksalssinfonie war dann eher etwas für Maschas Gefühl, L. könnte abhandengekommen sein.

Den Donauwalzer programmierte Oleg dann für Oleg, seinen Freund Oleg und für seine Mascha. („Wollte ich erst nehmen Tschaikowski, du weißt ja, Schwanensee mit süße Schwänchen, hat aber Mascha nicht gewollt. Würde jeder denke, da rufe freche Russen aus Moskwa an. Dabei sind wir echte weißt schon.“) Wusste L. ja. Also eben Donauwalzer für Oleg. Der dann mindestens einmal am Tag ertönte („Bist du noch heil? Haben dir beese Russenmafia nix Arm gebrochen! – „Bestimmt nicht …“)

Und dann gab es noch den „Gefangenenchor“ aus Verdis „Nabucco“, schön getragen, schwere Molltöne, Verzweifelung in den Verliesen. Die Melodie hatte Oleg auf das Telefon des Ressortchefs gelegt. Der eigentlich immer nur anrief, wenn er 5 Minuten vor Druckabgabe merkte, dass eine Seite noch zu füllen war. Was eher selten passierte.

Und wenn es passierte, musste die Geschichte in 5 Minuten da sein. („Bild hab ich schon. Schönes Igelbild. Du warst doch vor drei Jahren mal im Igelkrankenhaus…“ – „Gibt’s das noch?“ – „Ist das nicht egal? Schreib irgendwas über Igelkrankheiten oder was die Viecher so fressen und wann sie Schonzeit haben …“ – „Igel sind doch kein Jagdwild.“ – „Bei mir in der Ecke schon. Hast du mal so nen blöden Igel gesehn, der unterm Auto gepennt hat? Und das merkste erst …“)

Solche Geschichten.

So eine Musik: Gefangenenchor. Und dabei hatte er sich innerlich schon auf Kuscheln mit Mascha eingestellt. Schäfchenzählen und solche Sachen.

„Du gehst doch nicht etwa ran“, fragte Mascha (die natürlich nicht so heißt – aber das wissen nur emsige Leser der vorigen Kapitel), die schon ihre Zöpfchen gebunden hatte fürs Tagausklingenlassen.

Flaschengeist begann noch mal von vorn: Gefangenenchor. L. schaute streng. Flaschengeist blieb hartnäckig: Gefangenenchor.

So kam das, dass seine Nacht zu etwas wurde, was andere Leute mit sauren Gurken und Zwiebeln versuchen zu bereinigen.

22:17 Wusste ich doch, dass du rangehst. Ich hab mir die Sache mit dem Herrmannkai noch mal angeschaut. Heiße Sache. Sag ich dir. Bist du spitz?

22:19 Bin ich nicht.

22:21 Wirst du schon. Kennst du die Grundbuchauszüge?

22:22 Liegen bei Knarrpanti — sorry. Staatsanwalt. Hast du doch mitgekriegt. Hat er alle einkassiert.

22:24 Weißt du, was drinsteht?

22:25 Nein. Ich geh jetzt ..

22:25 Vergiss es. Die Akte ist 10 Seiten dick.

22:26 Was du nicht sagst

22.26 Es gibt vorm großen Schlamassel keine Akten mehr.

22:27 Ach nöö 😉

22:28 Ich hab das schon mal in der Mache gehabt. Weißt du. Ich wollte wissen, warum diese ganzen Häuser da niemals restituiert wurden. Die müssen ja jemandem gehört haben.

22:31 Steht doch im Grundbuch.

22:32 Steht nicht. Die komplette Hausreihe wurde von irgendjemandem, niemand weiß, wem, aus den Akten entfernt. Mutmaßlich in der Zeit des großen Jagens. Es gibt nur noch den Eintrag, dass der große, allwaltende volkseigene Wohnungskonzern diese Häuser am Ende verwaltet hat. Und verkauft hat. Fällt der Groschen?

22:35 Heruntergewirtschaftet, nie was repariert, halbe Ruinen, Birken auf dem Dach, Ratten im Keller, Zecken auf dem Boden. Ja ja … 😉

22:38 Du weißt, wer damals Prokurist war in dem Laden?

22:39 Muss ich das wissen?

22:39 Ja.

22:41 Ich bin jetzt außer Dienst. Erzähl mir das morgen. 🙁

22:44 Morgen? Du Witzbold! Das hab ich heute schon runtergeschrieben und neben deinen Dementi-Artikel gepackt

22:44 WAS HAST DU?!

22:44 Ich hab deiner Geschichte noch ein bisschen Pfeffer gegeben. Ich hab eine uralte Geschichte aus meinem alten Geigenkasten dazugetan, und du wirst sehen – morgen werden sie im Kreis springen.

22:47 Knarrpanti wird mich …

22:48 Weißt du, manchmal hätte ich auch gern so eine Hasengeduld wie du.

22:51 Ich? Geduld? Du kündigst so eine Geschichte an und ich soll jetzt noch ruhig schlafen können?

22:53 Versuch’s einfach. Morgen früh steht dann der Bote vor der Tür. Oder paar Jungs mit dicker Weste – das macht doch das Leben erst – hick

22:55 Säufst du beim Schreiben?

22:57 Nöö. Nur von der Taste gerutscht. Pass also auf, wenn du morgen aus dem Haus kommst. Tschössi.

22:58 Aber das ist doch nicht die ganze Geschichte?

23:00 Türlich nicht. Hab ich alles als Zeitleiste gemacht. Gebaut von Sowieso, war richtig wichtiges Tier, Kaufmann, Kammerpräsident, Musikliebhaber, Förderer. Hat der Stadt schweineviel Geld vermacht. Und sich hier sieben Riesenkästen hingebaut, teuerstes Pflaster. Nobeladresse. Gestorben, vererbt, Erben stolz wie Hanne, Foto mit Bürgermeister, kennst du noch, der Dingsbums. Zwei Jahre später Zwangsverkauf. An den berühmten Baron von X., dem die ganzen Fabriken da draußen beim Marinade Heinrich gehörten. Fällt der Groschen?

23:01 Deswegen Restitution. Aber die Familie wurde doch komplett deportiert? Die haben sie alle umgebracht!!!

23:02 Genau deshalb. 45 haben sie den Baron enteignet, der war natürlich spurlos verschwunden. Alteigentümer verschwunden. Häuser werden Volksbesitz. Oder Parteibesitz. Oder irgendein VEB …

23:05 Muss doch in den Grundbüchern …

23:06 Wenn es keine gibt?

23:07 Aber der Dings hat sie doch verkauft …

23:08 Hat er sie wirklich verkauft? Ich hab da ein paar kleine Verdachtsmomente …

Und dann hatte Herr Gefangenenchor einfach das Schreiben eingestellt. Hatte auch auf einen Anruf nicht reagiert.

Und so hatte L., was er so sehr verabscheute: wieder den ganzen wirren Haufen an halben, viertel und achtel Teilen eines blödsinnigen Puzzles im Kopf, wusste genau, dass sein armes, aufs Apportieren trainierte Gehirn nun die ganze Nacht mahlen würde und versuchen würde, die ganze Geschichte neu zusammenzustückeln.

Und seine Mascha war verstimmt. Vielleicht schlief sie auch schon, auch wenn sich dieses leise Atmen im Dunkeln eher wie stilles Wütendsein anhörte, als L. sich in seine Hälfte schlich. Die ungewärmte. Logisch, dass er diesmal nicht nur in einem Traum mit lauter Haifischen landete, die den Gefangenenchor sangen („Und zwar ziemlich schlecht“), während Herr Knarrpanti ihn belehrte, was für ein faules Stück Mensch er doch war. Todfaul, der Herr L. Warum hat er sich noch nicht auf die Socken gemacht. Was ist das für eine Einstellung? Hier auf der faulen Haut zu liegen, während seine Arbeit mal wieder unfertig war. Was sei er für ein Stück Mensch, ein mordsfaules? Zu nichts zu gebrauchen? Wenigstens ein schlechtes Gewissen, der Herr? Alle warteten auf ihn? Wo er nur bleibe? Er solle sich sputen. Aber dalli, mordsfaules Subjekt.

Und irgendwie sputete er sich auch, lief im Kopf herum wie ein Hase im Rausch, mit bleischweren Füßen, Hämmern in den Ohren und einem schrillen Orchester, das die Melodie nicht halten konnte, sondern schräg durcheinander fidelte, Gefangenenchor und Donauwalzer: und als der Donauwalzer den Gefangenenchor überschwemmte, wachte er auf und schaute einer blassen und wütenden Mascha ins Gesicht.

„Du alpträumst wieder! Ich halt das nicht aus.“

„Tschuldigung“, sagte L. „Ich geh ins Wohnzimmer …“

„Vergiss es“, sagte Mascha. „Du solltest die verdammte Geschichte bleiben lassen.“

„Aber ich …“

„Schreib über Schafe. Oder Kaninchen. Oder lustige Zwerge im Kindergarten …“

„Aber …“

„Was denn aber? Das geht jetzt die dritte Nacht so. Du schleppst deine blöde Arbeit in MEIN BETT!“

„In unser …“

„In MEINS, du Dummkopf!“, sagte Mascha.

Und weil sie über ihm lag, konnte er nicht ausweichen. Kein bisschen. Sie hatte ihn am Schlafittchen.

„Aber ich kann doch nichts da…“

„Das ist mein Bett, du Mistkerl. Meins! Ich will darin schlafen …“

„Ja, aber ..“

„Und ich will, dass alle ANDEREN, die sonst noch darin herumliegen …“

„ … ähem …“

„Verdammt noch mal zufrieden und froh und glücklich sind, dass sie darin liegen dürfen! Bei mir! Neben mir! In meinem Bett! Hast du verstanden?”

„Ja“, piepste L.

Und es wäre bestimmt noch alles gut geworden in diesem Stück von der Nacht.

Na ja, wenn nicht in dem Moment der Lärm auf der Straße eingesetzt hätte, Krachen und Splittern. Und dann spielte der Flaschengeist neben dem Bett auch noch den Donauwalzer. Und wenn es nicht der Donauwalzer gewesen wäre, hätte L. den Flaschengeist an die Wand gepfeffert. Aber es war der Donauwalzer. Und damit war die Nacht zu Ende.

Die komplette Serie zum Lesen.

In eigener Sache: Für freien Journalismus aus und in Leipzig suchen wir Freikäufer

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2016/11/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar