Leserclub„Hier ist kein Platz mehr!“ – „Dann rückt doch etwas näher zusammen“, heißt es in einem alten und beliebten Klassiker.* – „Na gut, versuchen wir’s!“ Und sie rückten enger zusammen, so dass auch noch der Schmetterling und das Mäuschen unter den Pilz kriechen konnten. Und sogar ein Spatz passte noch drunter. Aber zwei Olegs, breit wie Küchenschränke? Da zweifelte L.
Aber was kann man da sagen, wenn sich zwei testosterongeladene Schränke selbst zur Vesper einladen, höchstens mit seiner Mascha – jawohl, seiner Mascha – darüber stritten, ob es nun spätes Vesper oder frühes Abendbrot oder ganz frühes Nachtmahl war.
„Hauptsache, ihr bringt ihn mir heil zurück“, hörte er seine Mascha noch, denn Oleg hatte sein Mobilini auf Zimmerlautstärke gestellt, damit alle mithören konnten, wie er die ganze rasende Fuhre bei L.s Mascha anmeldete, während die schwarze Limousine scharf nach rechts schleuderte und einen blitzebleichen Pizza-Ausfahrer zur Seite springen ließ samt Moped und Pizza – wie sehr schön zu beobachten war: ganz obendrauf wieder die berühmte Pizza mit den Sardellen.
Die steht zwar auf keiner einzigen Pizza-Bestellkarte. In ganz L. nicht. Das hatte Herr L. ja alles schon ausgekundschaftet in seinen vielen Spätnachts-wir-machen-schnell-noch-eine-Zeitung-Stunden. Aber trotzdem lag immer obendrauf eine Pizza mit Sardellen. Und wenn man auf die gemeinsame Bestellliste schaute, hatte auch irgendjemand eine bestellt. Nur war nie herauszubekommen, wer es gewesen war.
Herr L. hielt das für ein sehr treffendes Beispiel für das Leben mit Druckerschwärze im Speziellen und als ungläubiger und leicht misstrauischer Mensch im Allgemeinen. Und er staunte auch nicht darüber, dass er den Mut gefunden hatte, durchs Rückfenster zu sehen und die Pizza in aerodynamischer Schönheit über die Straße segeln zu sehen, direkt auf einen verwirrt hinter dem Steuer seines hochbeinigen Autos klemmenden älteren Mannes. Ja, genau: mit Jägerhut auf dem Kopf und einer Hornbrille auf der Nase.
Was L. zumindest dem besonderen Zustand dieser hupenden, dampfenden und jetzt doch deutlich zitternden Blechkolonne zuschrieb, an der der „Tschaika“ auf zwei Rädern vorbeihuschte, während der eine Oleg einhändig lenkte und im Handschuhfach nach irgendetwas suchte. Vielleicht nach der CD mit den schönsten Filmsongs von Ennio Morricone.
Aber das einzige, was er im Gewimmel fand, war – wer hätte das gedacht – eine CD von „Queen“.
„Warst du das?“, brummte er den anderen Oleg an.
Aber dieser Oleg war damit beschäftigt, sich mit der einen Hand am Griff unterm Dach festzuhalten, sonst hätte er die Seitentür mit seiner ganzen Masse aufgedrückt. Und mit der anderen presste er das winzige Telefonino ans Ohr, das bestimmt im Laden noch als Normalgröße verkauft worden war. Aber in Olegs Pranken schrumpften auch XXL-Telefone-to-go auf Bikinimaße.
„Und du sagst, ihr seid noch unterwegs? Das klingt mir aber gar nicht so? Was ist das für ein Krach?“
„Ist nur Straßenbahn“, erklärte Oleg.
„Nein, das andere.“
„Feieramdverkehr. Nichts besonders. Leute sind nervös, weil wenig Platz.“
„Und das Quietschen? Was stellt ihr da gerade an?“
„Müssen bisschen Platz machen. Kommt gleich nächste Straßenbahn.“
Und natürlich ging auch dieser Straßenbahnfahrer auf die Klötzer, betätigte Klingel und Bremse gleichzeitig. Und weil er auch den Außenlautsprecher angeschaltet hatte, war auch sein Fluchen für alle zu hören. Und das war wirklich gut. Man merkte, dass der Mann schon ein Leben lang für die Verkehrsbetriebe auf dem Bock saß und schon an vielen Kreuzungen mit vollem Tempo in unverhoffte Blechgewirre gerauscht war. Und Rohrspatzen hätten nicht mithalten können, als der jetzt seinem ganzen Letzte-Tour-ausgerechnet-im-Feierabend-Verkehr-Frust Luft machte und dann sichtlich die Nase voll hatte und nicht mehr auf die Bremse trat, sondern lieber aufs Gaspedal. Nu grade, sagte sein Gesicht, das L. besonders nah zu sehen bekam, weil Oleg die kleine Lücke genutzt hatte, kurz die Reifenpaare zu wechseln und dann wieder scharf in die Rechtskurve ging …
„Ich leg das Nudelholz raus, Oleg. Dass du Bescheid weißt. Wenn er auch nur eine Schramme hat, les ich dir die Leviten.“
„Aber keine Sardellen, bitte“, bettelte Oleg.
„Wie wär’s mit Spinat? Ist mein Süßer noch da? Bist du da, du Unglücksrabe?“
„Bin ich“, presste L. hervor, der durchaus zu tun hatte, die Situation im Fond der windschnittigen Limousine zu genießen. Der Straßenbahnfahrer jedenfalls hatte ihm mit der ganzen Hand gezeigt, was er von ihm hielt. Und L. hatte tapfer das Schild mit dem kleinen Roten Kreuz hochgehalten, das Oleg manchmal an die Scheibe klebte, wenn er in besonderen Diensten unterwegs war.
Hätte vielleicht auch helfen können.
Wenn denn nicht gerade „Medizinskaja Sluschba“ drauf gestanden hätte. Natürlich in hübschen, handgemalten kyrillischen Buchstaben.
Was den Straßenbahnfahrer zu einem weiteren international sehr bekannten Fingergruß animiert hatte und zu einer aussagekräftigen Geste zum Ohr. Was er bestimmt als Drohung verstand. Wenn er jetzt die Leitstelle oder irgendwen anders anrief, würde bestimmt in 15 oder 45 Minuten ein Einsatzfahrzeug mit Blaulicht da sein und die Situation retten.
Die Zeiten hatte Herr L. ebenfalls im Kopf. Er hätte dem Straßenbahnfahrer sogar den Spruch aufsagen können, den man zu hören bekam, wenn man dort anrief: „Wir freuen uns über Ihren Anruf, aber diese Leitung ist gerade besetzt. Bitte gedulden Sie sich ein wenig.“ Und dann gab es ein nettes Klavierstück von Chopin. Das sich beim ersten Anhören ganz nett anhörte.
Also gab er dem wütenden Mann in seiner knappgeschnittenen Dienstweste den Daumen, wurde gleich mal gegen das Seitenfenster gepresst, kurz gegen den Vordersitz und dann mit Schwung in die rechte Ecke, weil Oleg rechterhand eine kleine sich auftuende Lücke entdeckt hatte, in die er hineinrauschte, als wäre er auf einem hübschen Querfeldeinparcours für geländegängige Fahrzeuge. Nur dass es ganz bestimmt keine SUVs und keine Landrover waren, mit denen er das geübt hatte.
„Das klang jetzt aber gar nicht gut. Was war das für ein Krachen, Oleg?“
„Wendemanöver 90 Grad aus voller Fahrt mit Wenden Geschützrohr Richtung Feind. Hab ich immer eine Eins für gekriegt mit alte T 54. War beste Fahrer in Kompanie“, erklärte Oleg am Steuer stolz, während er sein Fahrzeug noch einmal in Feindrichtung drehte und mit einem kurzen Ruck alle 54 Tonnen zum Stehen brachte, knapp hinter einem – nuja – Pizzafahrer mit einem Berg von Kartons auf dem Gepäckträger, der sehr wohl mitbekommen hatte, dass hinter ihm ein schwarzes Ungetüm angerauscht kam. Und weil er dem Fahrer nicht zutraute, 54 Tonnen aus voller Fahrt zum Stehen zu bringen, versuchte er – na ja – was wohl?
Was dann dem „Tschaika“ doch noch die Begegnung mit einer sich sanft entfaltenden Pizza einbrachte.
„Sardellen?“, fragte Oleg, der nichts sah, weil der Karton ihm die Sicht versperrte.
„Sieht eher nach Tomaten aus, so’n roter Matsch, weist du?’
‚Oleg?’, Jetzt klang die Stimme von L.s geliebter Lebensbetreuerin schon etwas besorgt. ‚OLEG!?’
‚Ist alles gut. War nur Pizza mit Tomaten drauf.’
‚WAS MACHT IHR DA!?’
Da spitze dann auch Oleg lieber den Mund und schielte zu L. nach hinten, aber der hatte mit seiner Nase zu tun, die dann doch etwas abbekommen hatte. Eine Art Boxschlag beim kurzen Aufprall auf den Vordersitz. Ein kleiner Wums, der sich nun in ein dumpfes Pochen verwandelt hatte.
„Nu, wir stehen chier in kilometerlange Stau und haben uns schnell noch Pizza besorgt, damit dein Goldstückchen nicht verhungert. Es geht chier nämlich nicht weiter, weistu?“
„ICH GLAUB DIR KEIN WORT, OLEG. Du hast meine Bedingung gehört.“
„Keine Schramme, ich verspreche. Kommt ganz cheile an, dein Mausiputz. Ich pack ihn in Zuckerwatte.“
„Ich warte auf euch.“
Klick. Piepiep. Und ein durchaus ein klein wenig ratloser Oleg, der sein Telefoninochen behutsam in das Etui steckte und in seiner weiträumigen Hosentasche verschwinden ließ.
„Nun ist sie wirklich böse mit mir. Muss ich meine Mascha anrufen, damit sie gut Wind macht.“
„Gut Wind?“, fragte L. durch sein Taschentuch, das er doch lieber unter die pochende Nase hielt. Aber es tropfte kein Blut. Es pochte nur und konzentrierte augenblicklich die Welt auf die Größe seiner Nase. Und darauf hätte er sich in ruhigeren Stunden sicher auch ein Weilchen konzentriert und darüber nachgedacht, wie viele Arten von betörend blödem Schmerz es doch gab in der Welt. Aber dazu kam er nicht. Denn dieser Pitzzabote wollte seine Pizza tatsächlich wiederhaben und hatte sich schon über die Motorhaube gebeugt, als die Fahrzeugschlange endlich anruckte und bei grün über die Kreuzung eilte. Das war natürlich kein guter Moment, um über den Preis zu feilschen. Oleg reichte dem Empörten einen frisch gedruckten 10-Euro-Schein durchs Fenster und ließ einfach los, als der Bursche nur zaghaft zugreifen wollte, denn der andere Oleg brachte die „Medizinskaja Schluschba“ ruckzuck wieder auf Touren, eilte einem Geldtransporter hinterher, schnippelte kurz zwischen zwei Möbeltransporter und hatte an der nächsten Kreuzung gerade noch so viel Restgelb, dass er in eleganter Kurve vor einer anfahrenden Straßenbahn in die Seitenstraße huschen konnte.
Dabei ging natürlich die schöne Pizza verloren und der an der Ampel brav wartende Dackel mit seinem Herrchen hatte nicht wirklich seine Freude an den fliegenden Tomaten.
Und das Ordnungsamt würde auch keine Freude haben, denn als der Blitzer den Blitz auslöste, verdeckte gerade ein Pizzakarton in elegantem Flugversuch die Frontscheibe, während eine Reihe abtrünniger Tomaten das Nummernschild unleserlich machten.
Später würde ein grimmiger Polizeikommissar bei Oleg anrufen, felsenfest überzeugt, dass es in dieser Stadt nur ein einziges Fahrdienstunternehmen mit einem echten „Tschaika“ gab. Aber er würde dabei nur die sardonische Auskunft bekommen, dass an diesem Tag ein hochrangiger russischer Konsulatsangehöriger mit Fahrer und Fahrzeug in der fernen Landeshauptstadt war, um mit Kollegen der russischen Handelsagentur über den Im- oder Export bestimmter Güter zu verhandeln. Ob er die Nummer des Konsulats haben wolle?
Die wollte der Polizeikommissar dann lieber doch nicht. Wonach ein großer Aufruf in allen Zeitungen erschien, Augenzeugen der Straßenrüpelei, die auch noch zufällig Fotos gemacht hätten, mögen sich melden. Aber das Ganze war so schnell gegangen, dass keiner auf die Idee gekommen war, die Sache säuberlich für die Nachwelt zu dokumentieren. Und natürlich hatte auch niemand die im Lande verbotene Bordkamera einmontiert. So wie sich das der deutsche Gesetzgeber ja wünschte. Nur einer: ein gewisser Oleg in seinem Tschaika, was er an diesem Tag lieber nicht verriet, sonst hätte Herr L.s Mascha Beweise fordern können.
Was sie aber vergaß, als alle drei heil vor ihrer Tür standen. Oleg hatte Herrn L. eigentlich noch einen hübschen Verband um den Kopf wickeln wollen, damit der Auftritt eindrucksvoller würde. Aber da erinnerte Herr L. ihn lieber an den Tag, als er mit L. ein bisschen länger durch die Wodkarias von L. gewandelt war und es auch für die so einiges gewöhnte Maschas aus Russland etwas spät geworden war. Da hatte sich Oleg einen Turban um den Kopf gewickelt, um Maschas Herz zu erweichen. Hat er auch geschafft. Nachher. Vorher hat Mascha ihm mit der Bratpfanne eins übergezwiebelt. Und weil sie gesehen hatte, dass Olegs Kopf gut gepolstert war, hatte sie auch richtig Schwung geholt …
Was Herr L. seiner eigenen Mascha lieber ersparte.
Wie der Verband dann trotzdem aufs Bild gekommen ist, müssen Sie Oleg fragen. Nachher, wenn die Arbeit getan ist. Denn jetzt öffnete sich erst mal misstrauisch die Tür zu L.s Wohnung, wo Ls. Mascha mit Nudelholz stand. Und Olegs Mascha mit Bratpfanne.
Gespannt auf das Rezept?
*) Der Klassiker heißt: „Wesjolije Istorii“ von Wladimir Sutejew.
Alle Teile der Serie zum Nachlesen.
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