LeserclubDas war der Morgen, an dem seine Mascha ihm den Häschenteller hinstellte, ihren Lieblingsteller. Und an dem sie sich lange in die Augen sahen und Herr L. einen Moment lang tatsächlich überlegte, ob er seinen Beruf nicht doch lieber an den Nagel hängte und sich irgendwo als Pizzabote bewarb. Selbst mit den Bildern der wilden Tschaika-Fahrt im Kopf. Er hatte verdammt schlecht geträumt.
Es waren – wie erwartet – sehr viele wilde Tiere vorgekommen in seinen Träumen, die aber allesamt kein großes Interesse daran zeigten, ihn zu fressen. Es war schlimmer, so, wie es in Träumen meistens schlimmer ist. Wenn man sich mitten in einem Gestrüpp gelbäugiger Aufmerksamkeit weiß und die ganze Zeit nach einem Ausweg sucht und trotzdem die ganze Zeit das Gefühl hat, dass es den Bestien völlig gleichgültig ist, was man macht, ob man rennt wie ein Gehetzter oder sich klein macht oder versucht, in ein Loch zu schlüpfen, obwohl keins da ist. Und sie lachen nicht mal, nicht mal dieses schmierige Lachen von Hyänen, die ihre Beute mit hängenden Zungen umschleichen. Nichts. Nur ein großes carnivorisches Wohlwollen in Preußisch Blau, das ihm die ganze Zeit das Gefühl gab, dass er ihnen völlig gleichgültig war. Nicht mal einen Gedanken wert. Wahrscheinlich würde er nicht mal auf ihrem Teller landen.
Sie würden ihn wohl eher schon in der Küche entsorgen lassen. Ab in den Bioabfall.
Er war ihnen völlig egal.
Und das war frustrierender als alles Gejagtwerden.
Und dann gab’s den Häschenteller, nachdem er sich fünf Eimer kaltes Wasser über den Kopf hatte laufen lassen und lange überlegt hatte, ob er heute gleich den schwarzen Anzug anzieht und den Bowler aufsetzt und den Schirm mit dem eingebauten Stilett mitnimmt. Dumm nur, dass er all das gar nicht besaß und sich in London auch nie bestellt hatte.
Wann war er zuletzt in London gewesen? Und in Petersburg?
Aber Möhrchen hatte sie ihm dafür nicht hingelegt. Auch kein Apfelschnitzchen. Und auch keine Häschenwurst. Nur den Teller, den sie sonst nur an ihrem 18. Geburtstag rausholte, dem Tag, an dem er ihr immer einen Apfelkuchen buk.
Aber der war heute nicht.
Heute war ein Tag wie Milchbrühe, großer, wolkenloser Himmel, Wind aus Nordost und das Gefühl, es könnte jederzeit einfach so zu regnen anfangen. Aus heiterer Luft. Oder schlechter Laune.
Hoch oben zog ein Flugzeug seine Bahn, mit Kondensstreifen hinter sich. Vielleicht der Morgenjet nach London. Er würde also doch noch in der Kanzlei des Mammuts anrufen müssen. Irgendwann später, wenn ihm ein guter Spruch eingefallen war, den er aufsagen konnte: „Guten Tag, hier ist Häschen. Ist der Herr Doktor im Haus?“
Nur: Was machte er, wenn man sein Anliegen wissen wollte?
Sollte er fragen, ob die Kanzlei aufgelöst wird? Oder verlegt? Nach London zum Beispiel?
Na gut, die Möhrchen hatte sie ihm in seine Stullenbüchse gepackt. Zusammen mit drei Haselnüssen, drei Häschenschnitten und einem Müsliriegel. Das können nur Frauen. Einem gar nichts zu sagen und trotzdem drei harte Nüsse mitgeben.
Die natürlich klapperten in der Büchse, als er sich aufraffte und sich noch einmal zum Herrmannkai aufmachte. Die Herren mit den Sonnenbrillen machten zwar immer jede Menge Bohei, wenn sie mal irgendwas taten. Aber am nächsten Tag flatterte dann bestenfalls noch ein Absperrband in der Gegend, ein unauffälliger Straßenkehrer drehte seine Runden und in den Radiosendern stritt irgendein zuständiger Staatsanwalt alles ab, was heute in allen Zeitungen stand. Man habe die Stellungnahme des leitenden Oberstaatsanwalts einfach falsch interpretiert und man werde diese Vorgänge nicht kommentieren. Man mache nur seine Arbeit.
Das Häschen in L. lachte mal kurz.
Zwei Jahre lang würde jetzt nichts passieren. Dann würde irgendjemand melden, dass der Fall eingestellt wäre und sich bestimmte Verdachtsmomente nicht erhärtet hätten. Man habe sich mit den Streitparteien geeinigt, auch darüber, dass man weitere Kommentare zu dem Fall nicht geben werde. Und dann würden die ganzen Raubtiere, die mal lieber vorsichtigerweise abgetaucht waren, wieder auftauchen, freundlich und händeschüttelnd wie immer. Es war ja nichts passiert.
Nur dieser Herr L. stand am frühen Morgen am Herrmannkai und schrieb sämtliche Büroschilder und Klingelschilder ab. In der kompletten Straßenzeile, denn so oft über dieses früher mal billige Stück Pflaster berichtet worden war, war immer von einem Komplettverkauf aller Häuser die Rede gewesen. Im Lauf der Jahre wohl drei oder vier Mal. Einmal auch an eine Tiger Foundation, die in der Nummer 4 ein Büro hatte. Wenn man die Anordnung der Schilder richtig interpretierte, zusammen mit einer Rechtsanwaltskanzlei und einer Sh. Corporation.
Dr. Mammut hatte sein Büro im Nachbarhaus. Und in der Nummer 8 gab es von Fuchs Immobilien bis Fox Retail so ungefähr alles, was man sich zu einem kleinen, feinen mittelständischen Unternehmen mit besten Beziehungen ins Hühnergehege so vorstellen konnte. Und das waren am Ende eine Menge Firmenadressen mehr, als heutzutage im immer dünner werdenden Telefonbuch der Stadt zu finden waren. Vom Adressbuch ganz zu schweigen – das letzte war vor zehn Jahren erschienen und dann nie wieder. Es litt unter derselben Auszehrung wie die einst so prachtvollen Telefonbücher: Die Leute, die unbedingt drin stehen wollten, interessierten niemanden – auch Herrn L. nicht. Und die, die ihn interessierten, die standen nicht drin.
Wie macht man da Geschäfte?
Er ahnte es.
Und er war auch schon kurz davor, noch einmal in die Aktenarchive des Rathauses hinabzusteigen.
Aber davor bewahrte ihn sein altmodischer Rechner, den er im Büro mit viel Zureden zum Hochfahren brachte. Denn seine Nachfrage im Rathaus war augenscheinlich noch durch irgendeine Wachsamkeitslücke geschlüpft. Oder er hatte zu konkret gefragt. Oder der Sachbearbeiter hatte keine Lust, sich bei seinem Vorgesetzen lieb Kind zu machen, weil er sich Ausreden ausdachte, warum diese Anfrage nicht beantwortet werden könnte.
Er hatte einfach alle von L. aufgelisteten Adressen bestätigt. Jawohl: Die Akten waren komplett außer Haus gegangen. Jawohl, die Staatsanwaltschaft hatte sie schon am Vortag angefordert. Jawohl, mit dem geäußerten Verdacht der Steuerhinterziehung. Wozu die Stadt keine Stellung zu nehmen hätte. Bei entsprechenden Fragen möge man sich an die Staatsanwaltschaft wenden, die ja bekanntlich schon zwei Meldungen zum Thema veröffentlicht hatte.
Vielleicht war es das, was diese erstaunliche Auskunftsbereitschaft ausgelöst hatte.
Man bestätigte ihm sämtliche Hausnummern am Herrmannkai, bestätigte ihm sogar, dass die Stadt plane, das alte historische Ufer im nächsten Jahr für viele schöne Millionen wieder herzustellen, die originalen Kandelaber und Brückenteile aus Kaiser Wilhelms Tagen wieder hinzustellen und sogar die original nachempfundenen Bänke „Typ Eichenlaub“ aus der damaligen Zeit.
Was den Wert aller Gebäude am Kai natürlich enorm steigern würde.
War das schon beschlossen? Da würde er nachschauen müssen.
Nachher. Denn sie hatten ihm auch bestätigt, dass auch die kompletten Akten zum Fallkomplex „Marinade-Heinrich“ an den Staatsanwalt abgegeben wurden. Aus demselben Grund. Was natürlich hieß: Der Besitzer der Grundstücke war der gleiche. Ein Unternehmen namens Fox Retail mit einer Adresse – na hoppla – in London. Und einem Firmenschild am Herrmannkai. Auch wenn es recht zart geraten war, als wolle da jemand doch nicht allzu sehr protzen mit seiner hübschen Bürolage. Aber auf den Goldton hatte man dann doch nicht verzichten wollen.
Herr L. war gerade dabei, seinen ersten großen Topf Bürokaffee zu genießen, als ihm die immer feuchte Hand des Ressortleiters über die Schulter griff.
„Na L., schon gehört?“
Dabei beugte er sich wie ein Verschwörer über seine Schulter.
„Die Staatsanwaltschaft hat unsere Geschichte dementiert.“
„Wir haben doch noch gar nichts…“
Der Mann roch manchmal ein bisschen staubig, weil er meist viel zu lange im Büro blieb und noch korrigierte und lektorierte, was andere Leute schon als längst veröffentlicht sahen. Aber müde wirkte er nie, als könnte er trotzdem noch schlafen. Vielleicht war das sein Leben: Buchstaben, Kommata, Gänsefüßchen – und literweise Kräutertee.
„Sie haben trotzdem dementiert. Es gab nie eine Hausdurchsuchung am Herrmannkai.“
„Natürlich nicht“, sagte L.
„Wir sollen die Finger davon lassen.“
„Mein Name ist Hase“, sagte Herr L.
„Dann sind wir uns ja einig“, sagte der Ressortchef. „Schreibst du die Richtigstellung?“
„Aber natürlich“, sagte L. Und holte die Möhrchen aus der Büchse. Wenn man schon Hase war, durfte man sich auch wie ein solcher benehmen.
Am Herrmannkai ist gar nichts passiert
Sie haben sich geirrt, liebe Bürger. Sie haben keine Männer in schwarzen Anzügen gesehen, keine großen Staatskarossen mit wachsamen Beamten hinter den Scheiben, keine schwitzenden Aktenträger. Löschen Sie die komischen Fotos auf ihren Mobilfunkgeräten, streichen Sie sich die Bilder von grimmigen Polizisten aus dem Kopf, die einen Tag lang die unbescholtenen Bürgersteige am Herrmannkai 2 bis 10 bewachten. Alles war nur eine Fata Morgana.
Offiziell stellte die Staatsanwaltschaft von L. nun fest: Es ist nie geschehen. Und wenn Sie dort auch ein paar Kollegen der hiesigen Presse gesehen haben, die wie wild Bilder angefertigt haben von grimmigen Männern in Schwarz und einem wenig auskunftsfreudigen Vertreter der Staatsanwaltschaft: Vergessen Sie es. Auch das ist nicht passiert.
Nur der hier schreibende Herr L. ist noch einmal losgezogen, weil er nur zu gern wissen will, was dort nicht passiert sein kann…
„Das schreibst du nicht“, sagte der Ressortchef.
„Natürlich nicht“, sagte L.
Und dann rief er eine Telefonnummer an, die er seit einem Menschenalter nicht mehr angerufen hatte. Und sie stimmte noch. Denn eine unverwechselbar rauchige Stimme sang in der Warteschleife: „Ein Vogel im Winde / Belinde / War so schön …“
Alle Teile der Serie zum Nachlesen.
In eigener Sache – Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“
Leser fragen, wir antworten: Was kostet die Herausgabe der L-IZ.de? Warum 1.500 Abos?
Keine Kommentare bisher