KommentarFür alle LeipzigerHaben Sie auch so ein vages Gefühl, dass der Oberbürgermeister dieser Stadt in einer völlig anderen Welt lebt als Sie und ich? Ich jedenfalls schon. Schon länger. So ein brausiges. Mit jeder Menge Zucker drin. Seit gestern erst recht. Da schmiss wieder so ein reitender Bote bergeweise Papier in alle Hausflure, auch in unseren. Kann auch ein Springer gewesen sein, ein rasenballiger.
Oder ein Flying Paperman. Ist auch egal. Es passte wie der Gummibär zur Goldlocke, der Kapitän zum Fischstäbchen. Oder der Wolf zum Rotkäppchen. 330.000 für gratis hingeschmissene Werbe-Zeitungen für Leipzigs Fußball-Zirkus-Vorzeigeverein hat der Springer-Konzern produziert. Das ist der, der so gern gegen Facebook klagt, obwohl er eigentlich nix anderes macht: Werbung verkaufen mit bunten Bildchen drumherum und Texthäppchen für Leute, die auf geistige Diät gesetzt sind.
Sie wissen ja: Immer wenn so eine Kraftmischung für PISA-getestete Schwergewichte in Leipziger Hausfluren aufschlägt, muss meinereiner ran und das Zeugs dann lesen. Oder nennt man das zappen? Dieses Zeugs, was man beim Fernsehen macht, wenn der Werbeblock kommt und einen geistig völlig überdrehte Blondinen zum Kauf von Slipeinlagen, Rentenversicherungen und Küchen-Spezial-Häckselmaschinen überreden wollen? Wo der Daumen von ganz allein zum nächsten Sender rutscht, wo dann in der Regel coffeinüberdrehte lachende Senioren einem Pastillen gegen Potenzstörungen und Super-Hosen gegen Inkontinenz und Wässerchen gegen Herzschwächen … Hoppla, da sind wir beim Öffentlich-Rechtlichen gelandet. Sorry. Wollte ich nicht.
Aber wie nennt man das, wenn einem das Zeug in gedruckter Form hingeschmissen wird und drumherum lauter Jubelarien auf einen Fußballclub stehen, von dem alle wissen, dass er eigentlich nur ein Marketing-Gag für einen Bolschenwasser-Produzenten ist, der begriffen hat, dass Sport-Spektakel im Fernsehen mit Sport gar nichts zu tun haben (auch wenn sich Bumm-Bumm-Boris mehr Tennis wünscht), dafür jede Menge mit – ähem – Werbung?
Nein, ich habe die Zeit nicht gestoppt fürs Durchzappen dieser Werbezeitung. Ich hab mich bemüht, irgendwo hängenzubleiben, irgendwo so ein Fädchen zu finden, an dem man zupfen könnte, vielleicht, dass sich ja doch ein ernsthafterer Gedanke in das Blatt geschlichen hat. Aber wie denn, wenn sich diese Zeitung schon vor Jahrzehnten aus der realen Welt verabschiedet hat und sich schmiegsam hineingeschlängelt hat in die Welt der Gutgekämmten und Stromliniengeformten?
Die es auch in Leipzig gibt. Man staunt. Im realen Leben sieht man diese Leute bestenfalls mal bei einem Opernball, einer Grundsteinlegung oder einem Clubtreffen im Nobelautohaus. In diesem quietschfidelen Blättchen für Brause-Liebhaber (und in dem anderen auch) sind sie: DIE Stadt. Man sieht kaum noch andere Leute. Ein Schmuckstück neben dem anderen. Und natürlich werben sie auch hier. Groß und breit. Wer hätte das gedacht?
Wo aber auch sonst? Ich hab extra geguckt: Ist das richtig bissige und mopsfidele Interview mit dem OBM drin? Mit der Frage zum Tage, die ja nun mal den Rest der Stadt beschäftigt, die noch nicht von coffeinhaltigen Überdosen völlig betuttelt ist?
Eigentlich sind es mehrere Fragen, die so völlig ungeklärt über diesem Neuankömmling im Bundes-Zirkus hängen: Bauen die nun ein Stadion auf dem Acker und sind dann mal weg? Kriegt die Stadt ihr Parkplatzproblem gelöst, wo ja nun augenscheinlich jeder Bierbauchträger mit rotem Schal unbedingt mit seinem Dacia bis vors Stadion fahren will?
Gefragt hat man. Aber augenscheinlich ist nix geklärt. Nicht beim Parken, nicht beim Stadion. Und das 1.500-Stellplätze-Parkhaus steht auch noch drin, obwohl irgendwer kürzlich gesagt hat: Ist eigentlich auch keine Lösung. Geht irgendwie nicht. Und dabei reden die jeden Tag miteinander, die Brause-Vertreter und die Verwalter dieser coffeinhaltigen Stadt.
Die Frage nach dem üppigen Sponsoring hat sich die tapfere „Bild“ dann doch nicht getraut zu stellen. Hätte ja mehr kommen können als jüngst im Stadtrat. Dafür werben unsere kommunalen Schwergewichte ganz schwergewichtig in dieser Werbezeitung. Was will man mehr?
Vielleicht das Gefühl haben, dass es wirklich zwei Leipzigs gibt? Eines mit Zirkus für alle, die dem Zaubertrank aus der Dose nicht widerstehen können? Und eines für uns andere, die mal nicht eben die 10.000 Euro für ein Plätzchen in der ViP-Lounge locker haben? Und auch nicht hätten, wenn wir sie hätten. Dann doch lieber eine ordentliche Dauerkarte beim HC Leipzig. Da wird man nicht ständig mit aufgeblasenen Homestories über stinklangweilige Vorzeige-Ballspieler genervt.
Eigentlich hab ich fürs Noch-mal-Durchzappen doppelt so lange gebraucht wie fürs – ähem – Lesen der Gratis-RB-Werbezeitung. Aber hinterher hatte ich einen Zuckerschock (als hätte ich es nicht geahnt!) und musste erst mal ein Glas Sauerkraut verschlingen, roh natürlich, um wieder runterzukommen. Meine Allerliebste hätte fast die Feuerwehr gerufen. Hat sie aber nicht. Hat mir aber kalte Wickel um den Kopf gemacht. Der natürlich geraucht hat. Wie auch nicht. Sie wissen doch, was mit Nervenzellen passiert, denen man eine volle Ladung Zeitung verspricht – und dann kriegen sie eine aufgeschäumte „Bravo“ im RB-Format. Mit Homestory, Kleidertipp und lauter geschminkten Boys, mit denen ich jedenfalls keine 90 Minuten irgendwo sitzen möchte. Schon gar nicht in einem mit Humidor ausgestatteten Edel-Kabuff im Stadion.
Dann doch lieber am Sonntag in der Kreisklasse auf dem Acker, wo sich der Präsi noch freut, wenn man mit ihm ein ordentliches Bierchen in der Kurve trinkt und danach zum Absacker mit der Mannschaft kommt.
„Leo, das geht nie wieder raus!“
„Ist doch nur Rot.“
„Aber du hast es überall hingeschmiert, guck nur dein Gesicht an.“
Ja, das war dann das Heftigste gestern früh, wie ich da mit einer roten Kriegsbemalung vorm Spiegel stand. Ich hab mich selbst nicht wiedererkannt. Dabei war’s nur Druckerfarbe. Ging auch wieder ab – mit Schrubben und Leiden.
Ob die auch so viel Rot nehmen, wenn der ganze Zirkus wieder absteigt? Gratis?
Ach übrigens: Hab ich schon von den zwei Blondinen erzählt, die jüngst im flotten Röckchen und mit Riesenpackung Brause in unser Büro gehopst kamen?
„Leo!“
Na gut, erzähl ich ein andermal.
„Mir erzählst du das sofort. Jetzt. Auf der Stelle!“
„Gern. Dann hör mal zu …“
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