LeserclubWie fühlt man sich, wenn einen eine russische Taigatrommel überfährt? Wahrscheinlich genau so: Erst sieht man die gewaltige Maschine als Gottes Eiserne Faust auf sich zujagen, dann prallt man mit dem Ural zusammen, sieht Sputniks und Lunochods. Dann erwischt einen die potenzielle Energie und verwandelt sich in einen Dampfhammer mit Knockout. Und dann wird Herr L. natürlich noch geohrfeigt.
Dabei war es eben beinahe schön, war L. abgetaucht in eine sirrende Sommerwiese. Die Bienen summsten, die Hummeln brummsten und ein Bächlein plätscherte irgendwo. Man könnte das Reimzeug rausholen und ein schönes russisches Gedicht schreiben …
„Aufwachsen, du Cholzkopf. Warum wolltest du mich umrennen?“
„Ich war nicht die Lok“, stöhnte L. „Ich war das Lamm.“
„Du warst Ochse, aber nicht Lamm.“”
Noch zwei saftige Ohrfeigen. L. war wieder da und schaute einem zu Tode erschrockenen Oleg von unten ins Gesicht. In zwei blassgraue Augen, die ihn musterten wie ein Schmetterlingspräparat. War noch alles dran? Sein Kopf musste noch irgendwo herumtrudeln. Seine Beine waren noch da. Da hockte Oleg mit seinem Zentnergewicht drauf. Die Arme? Auch, obwohl … na ja, wenn sie gebrochen waren, würde ihn sein Schäfchen daheim füttern müssen. Das Kreuz? Das tat eh weh vom vielem Rumlaufen. Warum blieb er eigentlich nicht liegen auf der schönen Sommerwiese?
„Los, hoch du Klops, liegst chier faul herum …“
„Aber vielleicht sollte er erst etwas trinken“, mischte sich der Ressortchef ein. Er hatte auch brav – wie im Erste-Hilfe-Kurs gelernt – ein Glas mit Mineralwasser gefüllt. Still. Etwas abgestanden. Eigentlich für die Blumen gedacht.
„Chast du nichts Richtiges? Bisschen Wodka“, fragte Oleg und stellte Herrn L. beiläufig auf seine Füße. Hielt ihn aber lieber fest, denn mit dem Kopf von L. stimmte irgendwas noch nicht. Das sah auch ein russischer Dampfhammer.
„Bei uns wird nicht …“, hub der Ressortchef an.
„Dafür fallen Leute um wie Fliegen. Arbeitssichercheit Katastrophe. Muss einer mal aufräumen…“
„Bitte nicht“, sagte der Ressortchef schüchtern.
„Oja“, sagte Herr L. und ging in sanften Gleitflug über. Wenn man schon mal so eine schöne Wiese hat, sollte man sich einfach …
„Chiergeblieben, Freundchen, so nicht“, brummte Oleg und verfrachtete L. auf die große rote Couch, die in jeder guten Redaktion steht.
In jeder.
Haben Sie noch nie gesehen? Fragen Sie mal die Leute, was die den lieben langen Tag machen in ihrer Redaktion! Wässerchen trinken, schwatzen, auf roten Couches herumliegen. Und dann den Leuten erzählen, wie das Wetter morgen wird. Auf der Wiese. Wo es nach reifem Weizen roch, Pfefferminze und Löwenzahn. Oder kaltem Kaffee, der so gar nicht in diese Sommerstille passte.
„Trink“!
„Aber den hab ich doch grade…“
„Trink.“
„Bin ich ein Frosch?“
„Nein, nur Dummkopf. Warum rennst du weg, wenn ich sage, dass Russenmafia hinter dir her?“
„Quatsch. Gibt keine …“
„Gibt wohl. Glaubst du mir nicht? Muss ich im Darknet deine Spuren verwischen? Nutzt aber nix?“
„Ich war nie im Darknet.“
„Deswegen bist du auch dumm wie Strohbohne. Weißt nix. Und die schicken Killerauftrag los.“
Bing, machte das eine Augenlid. Bong, das andere. L. war so wach, wie man nur sein kann, wenn Leser einem einen mit Rotstift korrigierten Text aus der letzten Ausgabe zuschicken. Mit der empörten Frage: „WER WAR IHR DEUTSCHLEHRER?!“
Killerauftrag?
„Meinen Sie das ernst“, mischte sich der Ressortchef ein. Immerhin hatte er doch ein bisschen Verantwortung hier. Musste er jetzt den Staatsschutz rufen?
„Chier, kannstu lesen“, sagte Oleg und kramte ein Fetzchen Papier aus der Hosentasche, gab es aber lieber nicht L., sondern dem besorgten Ressortchef, der das Textchen freilich nicht lesen konnte. “Tut mir leid, mein Kyrillisch ist nicht so gut. Sie wissen ja …“
„Weiß ich nix von. Bei uns können alle Russisch. Gib cher.“
Und nun musste L. lesen, dem doch noch zwei drei Hummeln durch den Kopf huschten. Aber soviel begriff er noch aus seinen fern liegenden Tagen trübster Qual mit Pobeda, Mir, Natschalnik und Nu tak dalje – da stand nichts von Mafia. Nicht mal, mit welcher Methode der frevelnde Übeltäter aus der Welt geschafft werden sollte. Auch nichts von seiner schönen Sommerwiese.
„Du und deine Freunde, Oleg …“
„Sie reißen dir Kopf ab. Kannst du lesen?“
„Natürlich kann ich. Aber da steht nicht …“
„Genau das steht da. Soll ich vorlesen? Soll hören dein Chef?“
„Na ja, Chef“, wagte der Ressortchef einzuwenden.
„Sei still. Chör zu: ‚Tschaika an Rohrspatz. MILLER fliegt auf. Schnappt euch den ESEL.‘ Große fette Buchstaben. Fetter geht nicht. Und du liegst hier rum. Esel.“
„Selber .. ach nee“, verbesserte sich L. Auch wenn es in seinem Kopf noch immer summte und brummte. Aber dazu war er ja in diesen blöden Job geraten, nicht ahnend, dass die meiste Arbeit aus Puzzle-Teilen bestehen würde, die nicht zusammenpassten. Und das hier passte nicht. VERSALIEN sorgten immer dafür, dass Menschen auf falsche Fährten geschickt wurden.
„Deine Brüder im Darknet ..“
„Sind nicht meine Brüder. Sind harte Jungs. Böse auch.“
„Na und? Das hat nichts mit mir zu tun, Oleg. Ich bin zwar kein Ganove. Aber ich hab gelernt, zu erkennen, wenn die Ganoven anfangen, unsereins an der Nase rumzuführen …“
„Ist doch ganz leicht …“
„Nicht wirklich. Kann ich vielleicht einen richtigen Kaffee …“
„Ist alle“, sagte der Ressortchef.
Autsch. Die eine Hummel hatte sich in einen schrillen Pfiff verwandelt. Die andere brummte dafür etwas lauter. Wo bekam er jetzt einen Kaffee her?
„Wir müssen los“, sagte er deshalb.
„Nix da“, sagte Oleg. „Du bleibst chier. Die schnappen dich …“
„Tun sie nicht. Ich glaube nicht, dass deine fiesen Kumpel da einfach zwei Worte fett machen, bloß weil irgendwer nun Miller und Esel umbringen will. Also mich. Die kennen mich gar nicht.“
„Natürlich. Hast doch gefragt nach Miller“.
„Hab ich nicht. Ich bin hier in Sachsen, schon vergessen? Man nennt hier keine Namen am Telefon.“
„Aber du chast gesagt ..“
„Ich hab gesagt, dass Miller tot ist. Mausetot. Seit 20 Jahren. Macht’s Klick bei dir, Oleg?“
„Jetzt bitte nicht prügeln“, mischte sich der Ressortchef wieder ein. Gerade als L. den Schrank von einem höchstbesorgten Russen am Schlafittchen packte. Oder an der Krawatte, auch wenn Oleg nie eine trug. L. schon manchmal, an unausstehlichen Tagen, wenn er mit den gelackten Gewinnern aller Geschichten mal wieder zu einem Empfang musste. Wie damals … Die Krawatte hatte er noch. Er hatte sie auch nicht in die Wäsche gegeben. Die lag daheim fein säuberlich im Schrank und wartete auf den Tag, an dem L. sie wieder würde umbinden können. Und er hatte jetzt das schöne hummelige Gefüphl, dass der Tag nicht mehr weit war.
„Und warum schreiben die dann von Miller? Der sitzt jetzt in Schwaben und hat seine Kopfjäger geschickt.“
„Miller hat keine Kopfjäger, Oleg. Miller ist tot.“
„Kannst du nicht beweisen.“
„Vielleicht doch. Aber dazu muss ich jetzt los.“
„Ich komme mit“, sagte der Ressortchef.
„Quatsch“, sagte Oleg.
„Quatsch“, sagte L.
Und dann schauten sie sich an, zwei alte Kumpane ohne Sauf. Aber mit Kopfschmerzen, zumindest der eine.
„Jetzt brauche ich ein Taxi, sonst schaff ich das nicht mehr.“
„Ich rufe Kumpel an. Hastu ruckzuck …“
„Hat er auch Wodka im Auto?“
„Chat er. Kannstu Gift drauf nehmen ..“
„Lieber nicht.“
Und die sich eben noch zu prügeln schienen wie so ein paar richtig ausgebuffte Prügelknaben aus der Ostvorstadt, die wankten jetzt die Treppe runter. Einer schien den anderen zu stützen. Einer hatte Kopfschmerzen. „Und wer ist Esel“, beharrte der andere auf seiner Frage, die der Mann mit dem Brummschädel heute noch nicht beantworten konnte. Aber nachher vielleicht.
Aber dass sein Oleg so langsam Spaß an der Geschichte bekam, merkte er unten: Sein Kumpel war mit einer blank gewienerten TSCHAIKA vorgefahren und hatte, wie es sich gehörte, Sonnenbrille aufgesetzt und Ring im Ohr.
„Darf ich vorstellen: Mein guter Freund Oleg!“
„Was du nicht sagst. Und ich bin Puschkin. Einmal zum Friedhof bitte.“
„Ganz, wir Ihr wünscht“, sagte der Chauffeur, der ihm sogar höflichst die Tür öffnete zum schwarzglänzenden Gefährt.
„Zum Friedhof?“, fragte Oleg verdutzt.
„Natürlich. Was glaubst du denn? Und Karacho bitte, Towarisch.“
„Nichts lieber als das.“
Und dann heulte das Maschinchen auf und glitt in schwarzer Eleganz in die Stadt hinein. Zu dem Ort, auf dem sich alle Wege kreuzen. Alle.
Alle Teile der Serie zum Nachlesen.
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Jetzt hab ich glatt Olegs lustigen Dialekt im Ohr 🙂