LeserclubIn einem großen schwarzen Wagen bogen sie ein in die Trauerweidenallee zum Friedhof, glitten an den verdutzten Blumenverkäuferinnen, den verblüfften Steinmetzen und den blitzenden Scheiben des Sarggeschäftes vorbei. Die Bremsen quietschten nicht. Oleg hatte seinen TSCHAIKA gut in Schuss. Und so schwebte das Fahrzeug geradezu vor die kleine Gastwirtschaft, die nicht mal eine Aufschrift trug. Auch wenn alle Welt wusste, wie sie hieß.

Und dass man hier besser nicht laut „Morjn, allerseits!“ brüllte, wenn man die Tür öffnete. Ein sanftes Glöckchen verkündete sowieso, wenn neue Gäste kamen, in diesem Fall drei – zwei bullige, eindrucksvolle Burschen und ein Hänfling im Mäntelchen. Die zwei Großen setzten sich brav gleich an der Tür an ihr Tischchen. Der Kleine brauchte nicht erst zu suchen. Den Mann am Fenstertisch hatte er gleich entdeckt, auch wenn der mit dem Rücken zur Tür saß. Vor 20 Jahren hätte das L. noch anders interpretiert. Aber seitdem hatte er oft genug mit Polizisten zu tun gehabt. Langgedienten sowieso. Und völlig desillusionierten erst recht. Und solchen, die ihm mit einem gleichgültig zugewandten Rücken zeigen wollten, was sie von Zeitungen im Allgemeinen und neugierigen Reportern im Speziellen hielten, sowieso.

Der hier – naja – der hatte ihn noch als beeindruckenden jungen Hüpfer kennengelernt.

„So so, der Herr klärt jetzt alte Fälle auf, was? Setz dich hin, Jungchen.“

„Ich bin nicht Ihr Jungchen, Herr Kommissar.“

Dafür bekam er einen gelangweilten Blick aus wasserblauen Augen. Der Alte probierte tatsächlich alle seine Tricks noch einmal aus. War er so vergesslich? Oder nur genervt?

„Hast dir aber gleich zwei Kraftpakete mitgebracht. Scheinst ja richtig Bammel zu haben vor einem alten Knaster wie mir.“ Der Alte lächelte nicht. Aber das hatte er wohl in vielen langen Dienstjahren geübt, als lächelnde Vopos nur auf 1.-Mai-Plakaten vorkamen, weil die anderen alle mit dem Kampf gegen Spione, Saboteure und sonstiges feindliches Gesindel beschäftigt waren.

„Du kennst meine Abschussquote?“

„Wir sind immer noch beim Sie, Herr Kommissar. Und die beiden Kraftpakete da, das sind meine Freunde, die mich unbedingt begleiten wollten, weil sie denken, die Russenmafia ist hinter mir her.“

„Die beiden? Mit denen hab ich schon zu tun gehabt, als …“

„Weiß ich.“

„Was darf’s sein, der Herr? Einen Absacker? Einen Absinth? Bloody Mary?“

Die Wirtin war hereingeschwebt wie ein fröhlicher Engel, leicht angehaucht vom Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, aber auf leisen Pantoffeln. Wer hier in aller Stille trauern wollte, der wurde nicht aus seinem Schmerz gerissen. Selbst an den Wänden hingen liebevoll gestickte Bilder mit Sprüchen wie „Ruhe sanft.“ Oder „Ende gut, alles gut.“ Dazwischen lauter Bilder mit Engeln drauf, bei denen man nicht erkennen konnte, ob es Reproduktionen waren und nur dicke Staubschichten dafür sorgten, dass sie wie nachgedunkelte Ölgemälde aussahen.

„Einen großen Schwarzen bitte.“

„Wir hätten auch Espresso“, meinte der schwebende Engel.

„Ich komme aber nicht aus München“, sagte Herr L. Und erntete ein breites Grinsen. Kurz und herzlich bezaubert. So schön kann das Grinsen der Engel sein.

Natürlich bestellten sich die beiden Olegs ein paar flüssigere Sachen und etwas Handfestes zum Beißen, das auf der Speisekarte aber nicht so hieß. Aber wie es hieß, verraten wir hier nicht. Warum auch? Wer im Leben keinen Humor gehabt hat, verirrt sich auch nicht zum Abschiednehmen in diese kleine Gaststätte. Und die anderen kommen gern wieder.

Und der Alte sah ganz so aus, als wäre er noch häufiger hier.

„Sie sind noch genauso vorlaut.“

„Sie haben den Fall damals nicht gelöst.“

„Weiß ich selber. Kommt vor.“

„Nur wenn der Faden fehlt“, sagte L. „Ich hab Sie doch richtig zitiert? ‚Wenn ich den Faden erst mal hab, krieg ich den Mörder.‘“

DIE Mörder, hab ich gesagt.“

„Stimmt.“

Und beide schauten sich an wie zwei Revolverträger in miesen Filmen. Musik gab’s dazu nicht, auch nicht von Ennio Morricone. Dafür räusperte sich die große Standuhr in der Ecke: „Bong.“

„Sie haben es damals trotzdem richtig zitiert. Ich hab Ihr ganzes Zeugs gelesen dazu.“

„Warum?“

„Ich liebe es, Schreiberlinge anzurufen und sie am Telefon anzuschreien, weil sie alles falsch verstanden haben.“

„Sie haben mich nie angeschrien.“

„Hab ich leider keinen Anlass zu gefunden. Vielleicht holen wir das jetzt nach?“

„Glaub ich nicht. Ich hab einen Faden für Sie.“

„Das glaub ich nun nicht. Wir haben damals nicht mal einen Namen gefunden, keine Adresse, kein Vermisster, nichts.“

„Aber Sie haben vermutet, dass der Bursche aus Russland kam.“

„Wegen der Nase. Aber die Gen…äch …  die Kollegen hatten keinen Vermissten, der so aussah und mit teuren Klamotten aus Mailand rumlief. Fehlanzeige. Europol nix, obwohl wir ein wirklich schmuckes Fahndungsbild zusammengebastelt haben. Aber Sie kennen ja den ganzen Schmonz.“

„Warum will sich ihr Nachfolger nicht mit dem Fall beschäftigen?“

„Der Herr X?“

„Ja, genau der. Früher, da haben einen Kommissare angeschrien, wenn man sie bei der Arbeit gestört hat. Heute sind sie höflich wie …“

„Zahnpasta“, half ihm der Alte weiter.

„Ich dachte mehr so an Haarspray oder Schuhwichse.“

„Haarspray könnte hinkommen.“

„Und warum?“

„Glauben Sie wirklich, dass ich mir die Genehmigung geben lasse und noch mal in die Asservatenkammer komme?“

„Bong“, machte die Uhr. Und die zwei schauten sich an, der eine trainiert auf amtliche Strenge, mit der er kleine Ganoven und brave Bürger in Angst und Schrecken versetzen konnte, wenn ihm danach war und die Uniform nicht genügte. Und der andere – der das auch fleißig geübt hatte, keine Frage – mit der fröhlichen Zuversicht des Ungläubigen, der genau weiß, dass er Petrus am Tor auch mit einer Packung Zigaretten bescheißen konnte, wenn’s drauf ankam. Und wenn man denn unbedingt in den Himmel wollte und nicht doch lieber woandershin.

Und dieser Petrus hier – na ja, der war wohl doch ein bisschen aus der Übung. „Sie müssen gar nicht in die Asservatenkammer, stimmt’s? Sie haben den ganzen Kram in ihrem Vertiko und fragen sich die ganze Zeit, wo der verdammte Faden war.“

„Stimmt n…“

Aber solche Momente genoss L. lieber ganz für sich, nahm lieber einen schönen großen Schluck vom Schwarzen. Wer weiß, wann er heute noch mal einen bekäme. Das Uhrwerk surrte. Und sogar ein Holzwurm war irgendwo am Werk, während die beiden Olegs zufrieden ihre große Fleischportion verzehrten mit lächerlich kleinen Gabeln und Messern. Eilig hatte es hier tatsächlich niemand. Vielleicht war es das, was der Alte hier suchte. Ein bisschen Frieden. Mit sich und seinen unfertig gebliebenen Fällen.

„Der Faden heißt August Miller.“

„Kenn ich nicht. Gehört auch nicht zu den Vermissten. Und von denen gab es damals jede Menge.“

„Ich geb’ Ihnen noch einen Faden: Büro August Miller.“

„Ein Schnüffler?“

„Nein, ein kleiner Immobiliendealer. Und ich geb’ Ihnen noch einen Faden dazu ..“

„Ich glaub’s nicht: Ein spendabler Schreiberling!“

„Nicht spendabler als ein kleiner, grimmiger Kommissar.“

„Kriminalhauptkommissar.“

Befördert hatten sie ihn also auch nicht weiter. Da muss er aber einigen Vorgesetzen gewaltig auf die Füße getreten sein. Was natürlich in L.s Kopf die nächste Schleife anwarf. Und selbst der Alte schien zu stutzen. Klar, war da was. Und auch wenn dieses Gesicht seit 40 Jahren nicht mehr gelacht hatte, die Augen konnten es noch.

Und viel raten musste L. da gar nicht mehr.

„Es war gleich die letzte Akte, stimmt’s? Als sie dem leitenden Staatsanwalt ihre Vermutung mitteilten, zwei Mordfälle in so kurzer Zeit müssten was miteinander zu tun haben, stimmt’s?“

„Sie wissen, dass Sie mich nicht mal zitieren dürften.“

„Weiß ich.“

„Schmeckt der Kaffee wenigstens?“

„Der ist richtig gut, bringt ein paar Gehirnwindungen ins Laufen. Brauch ich manchmal.“

„Und Sie wollen jetzt den Namen?“

„Och, eigentlich“, sagte L., der sich mit dem Koffein im Blut endlich wieder einigermaßen wie ein Mensch fühlte, „eigentlich wünsch ich mir eine richtig fette Geschichte mit einem grimmigen Kommissar, den ich vors Löwengehege stelle, weil er den verzwicktesten Fall seiner ganzen Karriere endlich gelöst hat.“

„Und Sie glauben, dass zwei muskelbepackte Speznaz-Männer reichen, den armen kleinen Kommissar zu beschützen?“

„Ich glaube viel mehr, dass der arme kleine Kommissar noch ein paar alte, stinksaure Kollegen hat da unten in der Asservatenkammer, die ihm nur zu gern helfen, den Herrn Advokaten am Wickel zu kriegen.“

„Den kriegen Sie nicht.“

„Bong“, machte die Uhr. Und der Engel schwebte noch einmal mit einem großen Topf Schwarzem herein. Und drei belegten Brötchen. Alle hübsch mit Salatblatt und Radieschen belegt. Immer diese Anspielungen.

„Sie ernähren sich schlecht“, sagte der Alte. Aber er hatte nicht „Nein“ gesagt. Und deshalb unterhielten sich die beiden dann beim Radieschenschnurpsen noch ein bisschen über die Fressgewohnheiten von Löwen, bevor sie fein säuberlich ihre jeweiligen Rechnungen beglichen. Der eine fuhr mit zwei starken Jungs in einem schwarzen Automobil davon, der andere nahm lieber den Hinterausgang über den Friedhof und verwandelte sich in einen traurigen alten Mann, der mit einer grünen Gießkanne in der nächsten Baumgruppe verschwand.

„Ich kenn den Alten“, sagte Oleg.

„Ich auch“, bestätigte Oleg. „War das nicht der, der damals…“

„Kannstu wohl laut sagen.“

„Ob der uns erkannt chat?“

„Bestimmt nicht. Ich chatte damals noch jede Menge Chaare.“

„Ich auch“, sagte Oleg.

Und nur L. versuchte sich im Fonds der alten Limousine möglichst klein zu machen. Denn jetzt, wo seine kleinen grauen Zellen wieder gut versorgt waren, hatte er so ein ganz blödes Gefühl. Ganz vage noch. Radieschen, dachte er. Warum ausgerechnet Radieschen?

Alle Teile der Serie zum Nachlesen.

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