LeserclubUnd so landete L. unverhofft nach einer Stippvisite in den Katakomben des Rathauses in den staubigen Tiefen seines alten Aufhebeschrankes. Da lagerte er all seine vollgeschriebenen Notizbücher und ärgerte sich immer wieder, wenn er mal hinunter musste in diese Zeitmaschine, über seine eigene schreckliche Klaue. Die war schon damals schlecht, als der Vorfall mit dem Toten im Zoo die Stadt in Aufregung versetzte. - Wie man so sagt.
Dabei regen sich in dieser Stadt immer wieder nur dieselben fünf Leute auf. 20 davon sind Journalisten, die ihren Job im Zirkus Moltobello gelernt haben und nur damit beschäftigt sind, ein Sensatiönchen ums andere aufzublasen zu einer großen Schreckensmeldung über: „Von Löwen gefressen!“ – „Wollte er die großen Miezekätzchen streicheln?“ – „Blutiges Entsetzen für kleine Zoobesucher!“ – Dabei war der Zoo an dem Tag, als der Tote im Löwengehege gefunden wurde, nicht mal geöffnet worden. Das Entsetzen für die Knirpse gab’s an der Kasse, als ihnen verzweifelte Väter erklärten, dass man heute nicht zu den Löwen käme. Und den Pinguinen. Und den – nicht zu vergessen – Hängebauchschweinen.
Aber deswegen war L. nicht in die Staubtiefen seines Schrankes abgetaucht. Es war das Datum, das ihn zum Spürhund machte und 20 Jahre alte Bücher aus dem Fach zerren ließ, einige völlig abgewetzt, manche in den Regen gekommen, andere in die Traufe. Die meisten mit schönen Kaffeeflecken, zwischen den Seiten lauter Notizzettel, Fahrscheine, Eintrittskarten und eine – ähem – Schuhsohle? Hatte er seinen Job damals tatsächlich so ernst genommen?
Jedenfalls hat er alles fein mit Datum versehen, so dass er wenigstens einsortieren konnte: Hier der Tote im Zoo. Drei Zitate vom Zoodirektor, eins vom Polizeipräsidenten – „Ermittlungen laufen noch. Für Spekulationen kein Anlass …“ Die Spekulationen standen dann trotzdem drei Tage lang auf allen möglichen Titelzeilen: „Familientragödie? Wer ist der namenlose Tote?“ – „Der Helfer im Zoo: Wer hat den Toten zu den Löwen gelassen?“ – Na ja. Irgendwann ebbte das ab. Es gab einfach nichts Neues. Der Mann konnte damals nicht identifiziert werden. Weshalb L. auch schon mal versucht hat, eine nun schon ziemlich abgewetzte Telefonnummer anzurufen. Aber mit dem Nachfolger des knurrigen Kommissars, der ihn damals so angeraunzt hatte, konnte er überhaupt nicht. Der war so frisch von der Polizeihochschule, dass er noch mit Stempelfarbe in der Stimme sprach und ihn ungefähr aus zehn Metern Höhe herab darüber belehrte, die Presse habe sich gefälligst an die Pressestelle zu wenden, darüber sei sie ja nun leidlich belehrt worden und überhaupt, was er ausgerechnet im Dezernat Gewaltkriminalität wolle, um Vermisste kümmere sich das Vermisstendezernat und überhaupt könne er sich nicht erinnern …
„Schon gut“, hatte L. gemurmelt. „Sie sind ein tapferer Polizist, der seine Arbeit macht. Ich bin ein tapferer Journalist, der seine Arbeit zu machen versucht …“
Kleine Pause. Das konnte L. inzwischen auch ganz gut.
„… und dann gibt es einen Haufen Leute, die anderen die Arbeit einfach nur schwer machen, weil sie den Kopf voller Paragraphen haben. Und dann beschweren sie sich ….!
„Ich beschwere mich nicht, ich weise Sie nur darauf hin.“
„Weiß ich. Also beschweren Sie sich nachher nicht. Schönen Feierabend noch.“
Dabei war es auch bei L. erst die zweite Kaffeepause. Dem Staatsanwalt hatte er seine vier insistierenden Fragen gleich per E-Mail geschickt. Und denselben Klumpatsch in blau auch an die Pressestelle der Stadt. Mit dem Hinweis, dass er auch den Staatsanwalt gefragt hatte, sonst würde er heute aus dem Rathaus keine Antworten mehr bekommen.
Und dann hatte er sich in die Staubwolken seines Schrankes gestürzt. Jetzt hatte er ja endlich ein Datum. Und wo ein Datum ist, ist auch ein Kaffeefleck. Sie wissen ja längst, wie Kaffeeflecken in Bücher kommen. Beim Blättern durch die alten Scharteken machte er sich selbst noch ein paar Vorwürfe, dass er den Sprecher der Staatsanwaltschaft so hart angefasst hat und ihm bis 14 Uhr ein Ultimatum gestellt hat: „Können Sie bestätigen, dass die am gestrigen Tag im Rathaus konfiszierten Akten zu den Grundstücken an der xten Straße (Stichwort: ‚Marinade-Heinrich‘) im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu Firma X. in den Panama Papers angefordert wurden? Aus welchem Grund wurden auch die Akten zu den ‚herrenlosen‘ Grundstücken am Herrmannkai angefordert? Was hat die heutige Hausdurchsuchung in der Immobilienfirma M. erbracht? Mit welchem Ziel wurde diese angeordnet? Und warum wurde ein Teilhaber der Firma schon gestern über die Hausdurchsuchung informiert?”
Die Fragen ans Rathaus waren natürlich ein bisschen anders formuliert. Da hatte L. sich auch etwas vorlaut erkundigt, ob Bürgermeister X. sich am gestrigen Tag schon habe krankschreiben lassen und für wie lange. Das war dann freilich nur eine Vermutung, während die auffälligen schwarzen Fahrzeuge vor dem schönen Bürositz der Immobilienfirma M. am Herrmannkai schon heute morgen auf dem Redaktionsrechner lagen, gesendet von einem freundlichen Gassigänger, der sich für gewöhnlich nur mit Bildern von neuen „Schmierereien“ an den hübsch sanierten Villen auf seiner Hundespazierstrecke meldete. Dass diesmal geschäftige Männer in Uniform lauter Kisten mit Akten aus dem Haus schleppten, fand er dann doch schon verblüffend.
Auf einem seiner Fotos war auch der Fotoreporter der Große-Buchstaben-Zeitung zu sehen, wie er die Gesichter der schwitzenden Aktenschlepper heranzoomte, während hinter ihm der Blasse stand, der eifrig Striche machte für jede Kiste. Man war also auch bei den Kollegen weiter dran an der Geschichte und hatte wohl wieder den Polizeifunk abgehört.
Das musste sich L. gar nicht erst fragen, während er mit einiger Vorsicht die kaffeeverklebten Seiten eines seiner Notizbücher von damals auseinanderfitzte. Da war auch das Kurznotierte von der Zoopressekonferenz damals, nebst einer vergilbten Visitenkarte, die sich der grimmige Kommissar damals wohl noch selbst gedruckt hatte mit einem Kinderstempelset. Der hatte L. nach der Konferenz noch einmal herrisch beiseite genommen und ihn angeraunzt, dass doch einige seiner Fragen ein bisschen sehr vorlaut waren. „Vorlaut“, junger Mann, hatte er betont und L. seinen Pfefferminzpastillenatem ins Gesicht geblasen. „Es gibt Leute, die sind zum falschen Zeitpunkt am richtigen Tatort. Verstehen Sie, was ich meine?“
Dabei hatte er so finster dreingeschaut, als hätte er schon öfter mit etwas begriffsstutzigen Kollegen der Zeitungszunft zu tun gehabt. Und L. – damals wirklich noch ein bisschen schüchtern – hatte brav genickt und beteuert, er werde den gestrengen Herrn Kommissar ganz unbedingt sofort anrufen, falls er über den falschen Tatort stolpern sollte.
Oh, gegrinst hatte der bärbeißige Beamte nicht. Aber ihm dann trotzdem seine selbst gedruckte Karte gegeben, fast widerwillig. Eine Karte mit zwei Telefonnummern. Ganz kommentarlos.
Und die steckte auch tatsächlich an der richtigen Stelle im Buch – zwischen einem schönen Kaffeefleck und einer Telefonnotiz. Klar, damals hatte L. auch extra bei der Gewerkschaft angerufen. Nicht wegen der Löwen, sondern wegen „Marinade-Heinrich“. Seltsam, dass das alles auf einmal geschah. In einer verträumten Stadt wie L.
Und da hatte er sich den heftigsten Anraunzer des Jahres geholt: „Es geht um verdammte 3.000 Arbeitsplätze, die Sie mit Ihrer verdammten Berichterstattung in Gefahr bringen. Wenn noch eine Zeile …!“ Den Rest hatte L. nicht mehr notiert. Die wollten wohl damals eine Spontandemonstration vor dem Zeitungsbüro organisieren. Was sie dann doch nicht gemacht haben, weil sie sich drei Tage auf allen Titelseiten abfeiern durften als Retter von 3.000 Arbeitsplätzen. Großes Foto mit stolzen Unterschreibern eines stolzen Kauf- und Sanierungsvertrages. Blumenstrauß, Danksagung vom Bürgermeister, herrliche Architekturentwürfe, die eine ganze Stadt besoffen machten. Zehn Wolkenkratzer sollten entstehen, ein richtiges Business-Center nach koreanischem Vorbild. Die Geschichte hielt tatsächlich drei Monate. Dann ging L. schon mal hin und maß die Grashöhe und machte ein Foto mit seiner kleinen Kamera. Und ein Jahr später haben sie in ihrer Zeitung dann alle zwölf Fotos veröffentlicht, mit den millimetergenauen Grashöhen.
Und wenn L. heute hinfahren würde, würde das schnucklige Gelände noch genauso aussehen wie damals. Schöne Bäume waren gewachsen, herrliche Holunderbüsche. Und ein paar seltene Lurche hatten die Naturschützer auch schon kartiert. Wer hier einmal bauen wollte, würde es mit einigen schönen seltenen Tierarten zu tun bekommen.
Natürlich hat der vorlaute Bursche von der Gewerkschaft nicht noch einmal angerufen, als die Gras-Drüber-Geschichte erschien. Der Herr mit der schönen Goldrandbrille, der da zehn Hochhäuser bauen wollte, war irgendwie nicht mehr greifbar. Die Treuhand hatte nicht nur die 3.000 Arbeitsplätze wieder aus ihrem Zielerreichungsplan streichen müssen, sondern auch die 3 Millionen DM, die sie – wie man so hörte – in das viel verheißende Projekt gesteckt hatte. Schlimmere Zungen sprachen von 30 Millionen. Aber dazu gab das honorige Arbeitsplätzerettungsunternehmen prinzipiell keine Antwort.
Bei denen anzurufen brachte ja nichts mehr. Die hatten sich genauso in Luft aufgelöst wie das Büro Awgust Miller. Die beste Gelegenheit, die Nummer des bärbeißigen Kommissars anzurufen. Der würde sich freuen …
Aber dazu war die Nummer wohl doch schon zu alt. Und ein kleiner Kopfschmerz tobte durch L.s Kopf, als er eine raunzige Stimme hörte: „KEIN Anschluss unter dieser Nummer. KEIN A…“
Dabei hatte er sich wirklich auf den alten Bärbeiß gefreut. Also unterbrach er die Verbindung und versuchte einen Schluck des immer noch dampfenden Kaffees zu nehmen und mal kurz durchzuatmen. Natürlich klingelte da das Telefon.
Und Sie wissen ja, was dann meistens passiert.
Ein paar Kapitel verpasst?
Hier sind alle bisher erschienenen Teile:
Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin
Warum Herr L. immer wieder aus seiner Arbeit gerissen und eine Geschichte wieder nicht geschrieben wird
In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?
Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.
Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?
In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
Gibst Du wohl her!
In Teil 6 ließ sich Herr L. mit einem Kaffee schon gar nicht erpressen.
Mit einem Kaffee lässt sich Herr L. nicht erpressen, aber das macht das Leben nicht leichter
In Teil 7. versuchte Herr L., die ganze Chose trockenzubügeln.
Herr L. bügelt jetzt endlich ein paar durchfeuchtete Aktenstücke
In Teil 8 hat L. irgendjemanden aufgeschreckt.
Da hilft alles Bügeln nichts, Herr L.s Wohnung wird gestürmt
In Teil 9 fiel zum ersten Mal das Stichwort „Marinaden-Heinrich“.
Herr L. erinnert an eine staubalte Geschichte und muss mit Oleg Blochin aufs Dach
In Teil 10 ging es um leckeren Fisch und eine Frau voller Herzensggüte.
Diesmal steht L. ohne Unschuldsmiene, aber mit Tulpen im Flur
In Teil 11 tauchte die Frage auf: Bekommt es L. jetzt mit schweren Jungs aus Moskau zu tun?
Herr L. will eigentlich nicht nach London und irgendwer hat die Fischlein gemaust
In der 12. Geschichte badete Herr L. in Schweiß und gefährlichen Träumen.
Irgendjemand hat Herrn L. zum Fressen gern
In Teil 13 hat L. auf einmal eine Frage zu einer 20 Jahre toten Geschichte.
Den Löwen zum Fraß vorgeworfen …
In Teil 14 steigt L. hinab in die Abgründe unterm raschelnden Ameisengewimmel der städtischen Verwaltung.
Herr L. in den Verliesen der Administration
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