LeserclubWar es warm? War es kalt? Kein Mensch hat das registriert. Aber es muss wolkenlos gewesen sein. Denn die beiden Besucher von Olegs Dachgarten brauchten keine Extra-Lichter. Der Mond stand ein bisschen zu grell überm Dachfirst. Die Flaschen auf Olegs liebevoll gedecktem Tisch warfen scharfe Schatten. Und nur als Oleg sein Alibaba-Licht anmachte, erkannte L. die gemarterten Papiere in seiner Hand.
“Siehstu”, fragte Oleg.
Und L. sah natürlich nichts, weil er viel zu geblendet war und angerührt von liebevoll geschichteten Fleischspießchen und sauren Fischlein.
“Hat Mascha gemacht. Musste du nich hingucken. Musst hierher gucken. Was siehst du?”
“Das Spez-Nat-Heimlich-bei-Nacht-Tresor-Knacker-Lämpchen?”
“Bist dummer Narr. Nix Spez-Naz. Ist Schlüssel-Finde-Lämpchen aus Nishni Nowgorod. Musst gucken hierher.”
“Das ist ein dicker Daumen.”
“Und was siehst du unter dem Daumen?”
Da musste L. schon sehr nah herangehen und seine Äuglein spitzen. Was er eigentlich gewohnt war. Die echten Quellen standen ja auch sonst in den wichtigeren Dokumenten immer im Anhang und im Kleingedruckten mit Zwei-Punkt-Schrift. Aber das hier war zwar klein geschrieben, aber – nuja – Pech kann der Mensch haben – reinstes Kyrillisch.
“Das stand vorher nicht da. Hätte ich sonst nicht bestellt”, versuchte er zu flapsen. Aber eigentlich hatte er schon viel zu oft mit kyrillischen Texten zu tun. Wenn viel zu lange Abkürzungen drin standen – sowas wie SPEZNAZ – dann sollte man schon mal munter werden. Natürlich auch, wenn BJURO AWGUST MJULLER da stand. Wenn es da stand, zwischen lauter Zahlen und Abkürzungen.
“Müller? Kenn ich nicht.”
“Kennstu kleines dickes Müller nicht? Wo warst du denn, als wir hier aufgeräumt haben? Neunzig? Einundneunzig? Hast geschlafen?”
“Ihr aufgeräumt? Ihr habt eingepackt und seid zurück in eure Rodina.”
“Das glauben nur die Tölpel. Bin ich da oder bin ich nicht da?”
“Aber einen Müller kenn ich trotzdem nicht.”
“Vielleicht hieß er auch anders. Vielleicht Mejer. Oder Krause.”
“Klingt nicht sehr russisch. Ist er überhaupt Russe?”
“Keine Ahnung. Kann auch aus Pieterburg kommen. Oder Odessa. Ist bei denen egal.”
“Wem?”
“Denen, denen du das Papier geklaut hast, du Spaßhuhn.”
“Ich hab es nicht geklaut.”
“Erzählen sie alle. Erst klauen und dann Blowwhistler sein wollen. Ehrenwerte Bagasch.”
“Das ist keine Bagasch.”
“Dann eben Narr in Christo! Weisstu, wo du das Papier geklaut hast?”
“Ich habe nicht …”
“Dann eben besorgt. So sagt ihr doch? Beiseitegebracht, wegstibitzt, ausgemaust, hab ich recht?”
“Das kann ich dir nicht sagen.”
“Aber ich kann dir sagen. Das hier ist nicht aus eure unordentliche deutsche Behörde, wo alles wegverschreddert wird.”
“Nicht alles.”
“Nu aber”, brummte Oleg an der Stelle schon etwas ungeduldiger. Er kannte ja die Gemütsruhe seines so leichtgläubigen Nachbarn, der immer noch glaubt, deutsche Behörden wären die allerordentlichsten der Welt und Akten würden sich nur in Luft auflösen, wenn der Keller mal zufällig unter Wasser steht. Aber irgendwie wollte es L. wohl nicht wahrhaben, dass Akten in deutschen Archiven sich immer nur dann in Wasser auflösten, wenn einer wie er danach fragte. Aus Neugier.
“Aber da ist doch der Stempel drauf … das muss …”
“Aber nicht mit Wasserzeichen von Bjuro Awgust Mjuller. Dein Kumpan hat bei dem Falschen stibitzt.”
“Hat er nicht. Hab ich doch gesagt. Er hat mir nur die Kopien zukommen lassen. Es gibt keine Spur.”
“Natürlich gibt es fette Spur. Wie Elefant. Und Kopie ist das nicht. Da hat einer das Original mitgehen lassen. Und ich sag dir was, mein Lieber: Dieser Herr Mjuller sucht schon nach dir. Denn wer sich an seinem Aktenschrank zu schaffen macht, der macht sich an Spitzenwäsche von Moskauer Bruderschaft zu schaffen. Der greift dicke fette Jungs mit große Muskeln in die Hose. Hastu verstanden?”
“Ich kenne keine Moskauer Bruderschaft.”
“Kann auch die aus Ostankino sein. Ist auch egal.”
“Kenn ich trotzdem nicht. Steht so nicht im Grundbuch.”
“Natürlich nicht. Da steht Mjuller. Oder Mejer. Oder Schnajder. Ist hopsegal. Pappekamerad, sagt man ja wohl. Doktortitel, schöne Anwaltskanzlei.”
“Es gibt tausende Müllers!”
“Sag ich doch. Aber nur ein Bjuro Awgust Mjuller in Uliza DSF. War richtig runtergekommene Kaschemme. Früher mal schnieke Villa. Hast du nie gesehen?”
“Kleines dickes Müller?”
“Ah, jetzt fällt Groschen.”
“Nein. Kenn ich trotzdem nicht. Eigentlich, Oleg, geht es nur um eine stinkreiche noble Anwaltskanzlei in einer stinknormalen Kleinstadt in Schwaben. Mit einem Herrn Vonundzu, einem Herrn Kuntze-Meier und einem Co. Stinknormal. Nichts mit Müller. Steht auch nicht da. Ist nur ein Wasserzeichen.”
“Und warum ist das Wasserzeichen rausgekommen, als du gebügelt hast? Siehst du den Text?”
“Der ist nun halb verschmort. Außerdem – zeig mal – ” L. beugte sich noch einmal über den dicken Daumen. ” … ist ebenfalls russisch. Tut mir leid. Da brauch ich einen Dolmetscher.”
“Ich bin dein Dolmetscher”, brummte Oleg. Es war ein tiefes Brummen. Fast das eines Bären, der gerade einem neugierigen Kalb klar macht, dass es jetzt zur Nachspeise wird. Aber da L. seinen Oleg schon länger kannte, wusste er, dass das meist nicht so gemeint war. Auch wenn das Knurren immer wieder mit anklang, als Oleg ihm – sehr ausführlich und mit vielen gebrummten Untersteichungen – erklärte, dass die besten Moskauer Adressen alle in einem hübschen Städtchen in Schwaben lagen, nicht weit zur Schweizer Grenze, mit noblen Vonundzus und einem hübschen Co. dahinter, in dem manchmal ein Bjuro Mjuller steckt, das vor langer, langer Zeit auch mal ein nettes kleines Adresschen in der Uliza DSF hatte und sogar ganz offiziell als Handelsgesellschaft eingetragen war bei ordentlichen deutschen Behörden, die gar nicht so genau wissen wollten, womit Bjuro Mjuller handelte.
Handelte das Bjuro Awgust Mjuller überhaupt mit etwas? Nachtsichtgeräten zum Beispiel? Ein paar übrig gebliebenen Maschinenpistolen oder Panzern? Oder war alles nur eine hübsche Abwickelei, bei der am Ende ein paar hübsche Häuser, Straßen und ein paar Filetgrundstücke den Besitzer wechselten? Mehrmals? Bis am Ende eine freundliche Entwicklergesellschaft mit Sitz in London (richtig: London) in den Grundbüchern stand, ohne eigenes Büro in L.- Auch kein BJURO AWGUST MJULLER.
“London”, sagte L. also.
“Ist wie Schwaben”, antwortete Oleg. “Brauchst du großen starken Schutzengel.”
“So einen wie dich?”
“Könnt sein”, brummte Oleg. Aber er lächelte den ganzen Abend nicht ein einziges Mal, sondern schaute mit grimmiger Miene den Mond an, während er Wässerchen um Wässerchen trank und L. so ein wenig zu erklären versuchte, wie Bruderschaften aus Peredelkino oder Kitaigorod funktionieren, wenn es um eine Menge Geld geht. “Immobilien.” – “Ist doch egal. Geld ist Geld. London ist London.” – “Ich hab aber keine Lust auf London.” – “Musstu ja nicht. London kommt ganz allein zu dir. Kennst du doch. Kleines nettes Schreiben von kleinem netten Anwalt.” – “Kenn ich den?” – “Denke schon. Reich mir mal die Fischlein.” – “Hier sind keine Fischlein.” – “Dann war’s die Katze.” – “Hier ist keine Katze.”
Ein kleines blaues Lichtlein glomm auf dem Dach zwischen dunklen Ranken und Blättern. Und was Oleg seinem Gast im Dachgärtchen übersetze, hat vielleicht nur der Mond mitgekriegt. Oder die Katze. Oder …
Wenn Sie die ersten Teile verpasst haben sollten, hier sind sie:
Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin
Warum Herr L. immer wieder aus seiner Arbeit gerissen und eine Geschichte wieder nicht geschrieben wird
In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?
Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.
Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?
In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
Gibst Du wohl her!
In Teil 6 ließ sich Herr L. mit einem Kaffee schon gar nicht erpressen.
Mit einem Kaffee lässt sich Herr L. nicht erpressen, aber das macht das Leben nicht leichter
In Teil 7. versuchte Herr L., die ganze Chose trockenzubügeln.
Herr L. bügelt jetzt endlich ein paar durchfeuchtete Aktenstücke
Und was passiert jetzt? – Teil 8
Da hilft alles Bügeln nichts, Herr L.s Wohnung wird gestürmt
In Teil 9 fiel zum ersten Mal das Stichwort “Marinaden-Heinrich”.
Herr L. erinnert an eine staubalte Geschichte und muss mit Oleg Blochin aufs Dach
In Teil 10 ging es um leckeren Fisch und eine Frau voller Herzensggüte.
Diesmal steht L. ohne Unschuldsmiene, aber mit Tulpen im Flur
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