Selbst die FAZ hat sich mittlerweile intensiv mit der zunehmenden Schere zwischen Reich und Arm beschäftigt. Sogar noch vor Bekanntwerden der Panama-Affäre. Scheinbar streiten sich die Ökonomen, ob die zunehmende Ungleichheit nun gut oder kontraproduktiv für unsere Gesellschaft ist. In der neuen Ausgabe der „Leipziger Zeitung“, die am Freitag, 8. April, erschien, beschäftigen sich die Autoren mit ein paar Facetten des Problems, wie es in Leipzig sichtbar wird.

Denn das Jonglieren mit reinen Zahlen, mit Prozenten und fiktiven Durchschnittseinkommen bringt keine Erkenntnis. Auf dieser Ebene entfacht die moderne Wirtschaftswissenschaft (die eigentlich die von gestern ist) ein ganzes Feuerwerk der Schein-Theorien und mathematischen Zauberkunststücke, mit denen alles bewiesen werden kann – die Behauptung vom Anstieg des Wohlstands genauso wie ihr Gegenteil.

Konkret wird aber Wirtschaft nur vor Ort, da, wo es darum geht, was Menschen tatsächlich im Portemonnaie haben und was sie sich davon leisten können – und was nicht. Ob ihre Kinder überhaupt die Chance auf einen hohen Schulabschluss haben oder schon in der Startphase straucheln. Und dann trotzdem ein Leben lang das Gefühl bekommen, jederzeit verfügbar sein zu müssen.

Der neue Vorsitzende der Leipziger Linken im Interview

„Der Mensch ist nur noch für den Markt da, Tag und Nacht. Es gibt kaum noch Rückzugsmöglichkeiten, weil man permanent mit der Vermarktung der eigenen Arbeitskraft befasst ist“, sagt Adam Bednarsky im Interview mit Matthias Weidemann. Er ist der neue Vorsitzende der Leipziger Linken und könnte auch für einen neuen Politikstil der Linken in Leipzig stehen. Der Generationswechsel war überfällig. Denn nicht nur die SPD ist als Kritikerin des marktradikalen Wirtschaftskurses in Deutschland und Europa fast völlig ausgefallen, auch die Linke schien in den vergangenen Jahren viel mehr damit beschäftigt, die „Konkurrenz“ SPD zu kritisieren, als die Wähler wieder mit eigenen, greifbaren Konzepten zu überzeugen.

Auch das ist ein Grund dafür, warum so viele Wähler bei den jüngsten Landtagswahlen übergelaufen sind zur AfD, die mitnichten eine solidarische Partei ist. Im Gegenteil. Bednarsky: „Dabei ist die AfD z. B. auch nur eine marktradikale Partei.“

Man müsse nur in ihr Wahlprogramm schauen, sagt er. Und hat Recht. Und man begegnet einer der größten Lügen der politischen Gegenwart: Das Parteienspektrum sei nach links gerutscht. (Wer hat sich diesen Frame eigentlich ausgedacht?)

Deutsche Parteien sind nicht linker geworden, sondern marktradikal

Die schlichte Wahrheit ist: Die Bundesrepublik wird von vier Parteien geprägt, die der neoliberalen Marktkonformität das Wort reden: CDU, CSU, FDP und AfD. Die SPD ist seit ihrer „Agenda 2010“ eine Partei zwischen Baum und Borke, lieber marktkonform als solidarisch – und das macht ihr die Neuprofilierung immer schwerer. Bleiben nur noch die Grünen und die Linken mit ihrer unterschiedlich gewichteten Marktkritik. Das ist natürlich viel zu wenig, um die Kluft zwischen Arm und Reich überhaupt noch politisch zu thematisieren.

Das Ergebnis ist auch in Leipzig für viele Betroffene eine Erstarrung der Verhältnisse: Für sie tut sich nichts mehr.

Das große und das kleine Fressen

Was freilich auch nicht ganz stimmt: Sie sind – mit ihren niedrigen Einkommen – jedes Mal betroffen, wenn die Fahrpreise steigen (das war Thema in der ÖPNV-Diskussion im Stadtrat, die auf Seite 4 in großer Breite diskutiert wird: „Der Stadtrat tagt“), wenn die Mietpreise anziehen, weil sich der Wohnraum drastisch verknappt (das thematisiert Moritz Arand in seinem Beitrag „Die Tendenz ist klar“ am Beispiel der Mietpreisbremse) oder das Einkommen nicht mehr reicht, um sich ausgewogen ernähren zu können. Was viele Leipziger dann zu Dauergästen der Leipziger Tafel macht oder zum “Containern” bringt. Den Beitrag dazu schrieb Christoph Awe: „Das große und das kleine Fressen“.

Aber wenn immer mehr Leipziger auf die Tafel angewiesen sind, die verfügbare Warenmenge aber nicht mehr wird, gibt es ein Problem, wie Dr. Werner Wehmer von der Leipziger Tafel feststellt: „Wir kommen an unsere Grenzen.“

Und das im reichen Leipzig?

Der falsche Zauber der „Leitkultur“

Tatsächlich steckt auch Leipzig tief in der Wortverdrehung, die viele Prozesse der Gegenwart verkleistert.

Stichwort: Framing.

Das Wort „Leitkultur“ steht konsequenterweise in Anführungszeichen, denn hinter diesem fadenscheinigen „Ihr müsst unsere Kultur annehmen“ steckt etwas völlig anderes: Die Abwertung der Vielzahl von Kulturen – nicht nur die anderer Völker, sondern auch unserer eigenen. Denn wer Deutschland nur auf eine Kultur reduziert, reduziert die Vielzahl der Kulturen, die unsere Gesellschaft ausmachen, auf eine einzige, eine Einheitskultur. Augenscheinlich von den Leuten, die das Wort Leitkultur benutzen, nie begriffen – oder wissentlich so benutzt: Gegen die kulturelle Vielfalt, die unsere Demokratie eigentlich erst lebendig macht. Alles andere wäre – wieder mal – Diktatur.

Prekäre Zustände, ausufernder Kontrollzwang

Logisch, dass man da Verbindungen sieht. Denn eine Gesellschaft, die auf politischer Ebene so emsig bemüht ist, die Ressourcen zu verknappen und die Spielräume einzuschränken, die sorgt auf der einen Seite für eine Verarmung der politischen Diskussion – auf der anderen für zunehmend prekäre Zustände für all jene, die nicht im sicheren Hafen großer Vermögen oder staatlicher Jobs sind. Das sorgt für prekäre Verhältnisse für junge Wissenschaftler genauso wie für den zunehmenden Kontrollzwang staatlicher Instanzen im Internet. Denn immer dann, wenn politische Eliten diesen leisen Drang zur Sicherung des Wohlstands oder der Machthierarchien verspüren, dann beginnen sie, enorme Kontrollapparate aufzubauen, mit denen alle beobachtet werden, die nicht die Macht oder die Kraft haben, sich der Kontrollwut zu entziehen.

Geheimniskrämerei um TTIP

Wahrscheinlich höchste Zeit, „1984“ mal wieder zu lesen und darüber nachzudenken, wohin eine Gesellschaft driftet, die derart aus den Fugen geht, den Gläsernen Bürger zur Norm machen will, aber über das Eigentliche – die Macht, das Geld und den Einfluss des großen Geldes auf Politik – nicht reden will. Fallbeispiel TTIP, ein Papier, das nicht mal die Wirtschaftsweisen der Bundesregierung gelesen haben – und trotzdem haben sie Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Natürlich ist das Thema der Titelgeschichte „Weiter intransparent“ von Michael Freitag.

Wenn über die eigentlichen Lebensbedingungen der Bürger in der EU, die durch TTIP direkt berührt werden, nicht mehr offen und transparent informiert und diskutiert wird, wächst logischerweise das Misstrauen. Und das zerstört zwangsläufig das Vertrauen nicht nur in Politik an sich, sondern auch in unsere Demokratie. Es sind nicht die Extremisten, die eine Demokratie in Verruf bringen (auch darüber gibt es einen Beitrag in der Zeitung), sondern es ist die Geheimniskrämerei der gewählten Politiker.

Auch das kennt man aus Leipzig – all diese verschlossenen Ausschüsse und Sitzungen, bei denen Millionen beredet oder auch mal versenkt werden. Aber das Thema hat dann nicht mehr reingepasst in die Zeitung.

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