LeserclubUnd dann stand Herr L. da, zitternd vor Enttรคuschung am Ende des langen Bahnsteigs. Solche Momente hasste er, da war ihm zum Explodieren, zum Ausderhautfahren und Zumberserkerwerden. Warum nur immer wieder ihm? Womit hatte er das verdient? Hรคtte er einen Gott gehabt, hรคtte er auch einen Sรผndenbock gehabt. In solchen Momenten beneidete er den Kapitรคn Ahab um seinen Wal. "Mit Ihnen alles in Ordnung?"
Frรผher hรคtten sie noch โwerter Herrโ gesagt. Oder โjunger Mannโ. Heute lieรen auch die netten Polizisten vom Bahnhofsrevier die Anrede weg. Hielten die Hand lieber in Gรผrtelhรถhe, einer rechts, einer links. Kรถnnte ja sein, Herr L. wรคre ein Terrorist. Und wรผrde jetzt irgendetwas Ungehรถriges anstellen. Aus dem Mund schรคumen. Oder mit einem Schlachtruf aus dem Koran losstรผrmen, um das Abendland plattzutreten.
Wut, so wusste die eine, noch vernรผnftige Nervenzelle links von seinem glรผhenden Hypothalamus, war kein guter Ratgeber in solchen Momenten. Da hatte er schon 17 Mรคuse zerhรคmmert, sechs Tastaturen, na ja, mit der von gestern waren es sieben, drei Bildschirme und eine Unmenge von Tassen.
Nein. Wut war kein guter Ratgeber. Auch nicht gegenรผber den Wachtmeistern Meier und Schulze, die ihn schon taxierten, als wollten sie ihn einfach huckepack nehmen und in ihre Ausnรผchterungszelle transportieren.
โNeinโ, sagte er deshalb. โIch bin unausgeschlafen, der verdammte Zug ist weg, ich habe meine Verabredung verpasst und mir fehlt ein Kaffee. Reicht das, die Herren?โ
โHรคtte ja sein kรถnnenโ, sagte der Forschere von beiden. Wรคhrend ihn der blasse Dรผnne mit einem Rรถntgenblick anschaute, als wรผsste er genau, was fรผr ein heimlicher Tรคter Herr L. war. Man wรผrde ihn nicht aus den Augen verlieren. Man schlenderte trotzdem weiter mit wiegender Hรผfte. Es soll ja Leute geben, die fรผhlen sich beschรผtzt bei so viel Aufmerksamkeit, dachte die andere Nervenzelle, knapp neben der anderen im Kopf von Herrn L.
Denn heimlich war Herr L. ja durch seinen Beruf ein wenig zum Zyniker geworden. Aber nur ein bisschen. Denn die dritte Nervenzelle glaubte noch immer felsenfest an das Gute im Menschen. Ein bisschen zumindest.
Die vierte freilich war รผberzeugt, dass nur ein paar gut sortierte Marotten halfen, halbwegs unbeschadet durch die erste Hรคlfte des Lebens zu kommen. Bei der zweiten war sich Herr L. gar nicht so sicher. Die Zeichen mehrten sich, dass auch ein paar nette Marotten nicht mehr davor schรผtzten, von misstrauischen Polizisten schief angeschaut zu werden. Das Gefรผhl hatte er lange nicht gehabt. Aber seit einiger Zeit verschoben sich die Grenzen. Ganz unmerklich. Aber vielleicht war es auch nur diese eine Nervenzelle, die ihn immer wieder mahnte: โDu musst die Welt nicht retten. รberlass das mal den Supermรคnnern.โ
Und er war kein Supermann. Eher ein unordentlicher Stopfer, der eine Unmenge Dinge aus seiner Manteltasche holte, wenn er dieses hรคssliche Mobildings suchte. Immerhin musste er jetzt jemanden anrufen um mitzuteilen, dass ihm heute zwei Geschichten wie Fische durch die Finger geglitten waren. Solche Geschichten: Geschichten wie Barsche, wie Zander, wie Thunfische. Solche.
Aber erst einmal erwischte er die Spielmaus, seinen Federhalter (den er seit vorgestern schon gesucht hatte), die zusammengepappten Gesprรคchsnotizen mit dem Fisch (die er nun nicht mal verwenden durfte, weil sein Ansprechpartner in der Immobilienbehรถrde gesagt hatte, dass er ihn nie und nimmer zitieren dรผrfe. โSonst โฆโ. Nach dem โSonstโ hatte L. lieber nicht gefragt. Sein letzter Ansprechpartner war einfach in den Ruhestand geschickt worden, hatte sein Telefon abgemeldet und war weggezogen.) Drei Pfandbons aus drei verschiedenen Supermรคrkten. Ein Jojo, mit dem er sich beruhigen konnte, wenn er sich unbeobachtet fรผhlte. Drei Salbeipastillen und ein Geldstรผck. Und noch ein Geldstรผck. Ein Hรคuflein Kuchenkrรผmel. Also war es das Wechselgeld vom Bรคcker. Ein Eisernes Kreuz โฆ Quatsch. So etwas verirrte sich nicht in seine Manteltasche. Oder vielleicht doch? Noch ein Geldstรผck.
Was dann einen jauchzenden Herrn L. ergab und zwei erschrockene Polizisten, die kreidebleich in ihrem Weggang innehielten und sich umschauten, nur um zu sehen, wie der seltsame Herr von Bahnsteig 7 lauter Klimbims in seine Tasche stopfte und mit hastigen Schritten zum nรคchsten Kiosk rannte, als wรคre er am Verdursten.
Was er โ aus Sicht von Nervenzelle 6, 7 und 8 ja auch war. Sie schrieen nun schon seit einer halben Stunde lauthals noch KOFFEIN. Irgendwann musste der Kerl ja gehorchen. Und er gehorchte und verbrannte sich (wie so oft) die Schnute, als er das heiรe Zeug sofort zu trinken versuchte, als es ihm die Coffee-to-go-Mamsell reichte. Und so flammte das heiรe Gefรผhl erst in die Kehle und dann in den Magen. Und Nervenzelle 45 meldete an Nervenzelle 6, 67 und 345, dass das Koffein angekommen sei, womit ja die einen bekanntlich nichts anfangen konnten. Und von den anderen erfuhr es nur eine, die natรผrlich sofort beleidigt war.
Aber wie das so ist im Kopf eines Herrn L., wenn Nr. 67 etwas erfรคhrt, was sie eigentlich nichts angeht: Es stellten sich Kurzschlรผsse und Querschlรคger ein. Und die verschiedenen Daseinszustรคnde des Herrn L. unterhielten sich ein bisschen รผber die Frage, wie er nun den verfehlten Herrn Nelke doch noch irgendwie kontaktieren kรถnnte. Aber nur wie?
โRuf doch an.โ โ โWen denn? Er wollte mir keine Nummer geben.โ โ โUnd wenn du โฆโ โ โAuf keinen Fall. Dann fangen Sie ihn noch vor der Grenze weg.โ โ โAber sie wissen doch nicht, in welchem Zug โฆโ โ โDas kriegen die sofort raus, wenn die eins und eins โฆโ โ โSieben und eins โฆโ โ โNein, er wollte von 13 auf 7. So warโs verabredet.โ โ โVerpasst ist verpasst.โ โ โHรคtte ja ein Zeichen verabreden kรถnnen โฆโ โ โWie denn? KILROY WAS HERE?โ โ โKeine dumme Idee. Dem haben sie damals auch nicht geglaubt.โ โ โManchmal muss man so was erst mal schriftlich โฆโ โ โOder โฆโ
Oder?
Die beiden Wachtmeister staunten nicht schlecht, als sie den Verdรคchtigen mit hรถchstverdรคchtiger Eile wieder auf den Bahnsteig laufen sahen und dann an dieser Normalzeituhr herumzappeln sahen, wo seit geraumem Weilchen so ein hรคsslicher Aufkleber hing. Sie mussten sich nur anschauen und wissend annicken und langsam losgehen, so dass es gar niemandem auffiel, wohin sie gingen.
Wรคhrend Herr L. โ und seine verschiedenen vom Koffein aufgeweckten Iche โ den Zettel anstarrten: โNICHT รRGERN, Alter! Flaschenpost in P. 3โ.
Und wรคhrend die einen noch stritten darรผber, was fรผr eine blรถde Botschaft das war und die anderen eine neue Koffeinbestellung aufgaben, war es Nervenzelle 67, die den Mann mit seinem Kaffeebecher unverhofft umwenden und den Perron entlangeilen lieร, vorbei an Papierkorb Nr. 1 und Papierkorb Nr. 2. Und wรคre da nicht noch ein dritter gewesen, hรคtte Herr L. vielleicht einen freien Vormittag gehabt, vielleicht auch eine nette Frau kennengelernt oder den Mann mit der Federboa gesehen, der auf Bahnsteig 17 dafรผr sorgte, dass ein kleines รถffentliches รrgernis geschah. Nur dass es nur ein kleines blieb, denn die Wachtmeister Schulze und Mรผller (hieรen die immer noch so?) hatten ja ein weit verdรคchtigeres Subjekt ins Auge gefasst, das doch tatsรคchlich auf Bahnsteig 7 in einem Abfalleimer zu wรผhlen begann. Oder sich jedenfalls drรผberbeugte. Was ihnen schon alles verriet. Und sie beschleunigten ihre wiegenden Schritte noch ein wenig. Obwohl sie das nicht mussten. Denn auf diesem Perron wรผrde ihnen der Bursche ganz bestimmt nicht entkommen.
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Keine Kommentare bisher
Immer wenns spannend wirdโฆ ๐
Ich warte gespannt auf die Fortsetzung.