Die Jahre sind nichts mehr wert. Sie rauschen herunter, dass einem Hören und Sehen vergeht. Das wird im September sehr deutlich. Dann tauchen die Kalenderkollektionen in den Buchhandlungen auf. Und die Leipzig Tourismus und Marketing GmbH (LTM) präsentiert den neuen großen Leipzig-Kalender fürs nächste Jahr: "Leipzig in Bewegung" heißt er diesmal.
Denn Fotos aus der großen Blütezeit der Gründerstadt hat ja Christoph Kaufmann jede Menge in dem von ihm betreuten Fotoarchiv des Stadtgeschichtlichen Museums. Aber immer nur dieselben Protzbauten zeigen, das wird doch langweilig. Auch die Liebhaber der großformatigen Kalender, mit denen die LTM Werbung macht für Leipzig, freuen sich, wenn es mal was anderes zu sehen gibt. Besondere Motive, die auch zeigen, dass man eine wachsende Großstadt nicht nur auf Häuser und historistische Schnörkel reduzieren kann. Das ist nur Fassade. Aber was passierte sonst?
Was macht eine Stadt eigentlich erst lebendig?
Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft und Erfindergeist natürlich – ein wenig davon ist ja im 2015er-Kalender zu sehen.
Aber wenn man die alten Schwärmereien der Zeitgenossen über das Leipzig zwischen 1871 und 1932 liest, dann war es etwas anderes, was sie beeindruckte: Das war das zunehmende Tempo, das die Stadt atemlos machte. Das zu großen Verkehrsprojekten animierte, eins gigantischer (und größenwahnsinniger) als das andere: Ein Flughafen auf dem Hauptbahnhof? Warum nicht? U-Bahnen von Nord nach Süd und West nach Ost? Warum nicht? Hochbahnen, S-Bahnen, sechsspurige Schnelltrassen und Ringsysteme? Warum nicht.
Alles schien möglich. Und Manches steckt noch heute in den Köpfen der Planer.
Der neue Leipzig-Kalender “Leipzig in Bewegung” zeigt nun einen Teil dessen, was damals – zwischen 1897 und 1930 – tatsächlich auf Leipzigs Straßen und Schienen abging. Man muss sich hineinversetzen in eine Zeit, in der den Leipzigern das Tempo der Pferde noch geläufig war. 1897 – das ist der große Wechsel im Gleisnetz: Die alten Pferdebahnen wurden abgelöst und die Elektrische nahm ihren Betrieb auf. Das Lebensgefühl änderte sich. Zumindest für all jene, die sich das schnellere Tempo leisten konnten. Denn auch in den 1910er und 1920er Jahren zeigt der Blick des Fotografen in die Straßen: Leipzig war eigentlich noch eine Fußgänger- und Radfahrerstadt. Die Taxen auf dem Markt waren selbst 1930 noch ein Hingucker, in der Hochgarage am Ranstädter Steinweg wurden die Autos noch einzeln geparkt. Und ein Blick auf den Augustusplatz zeigt allemal mehr Straßenbahnen als Autos. Da reichte noch ein Polizist auf seinem Hochstand auf der Kreuzung, um den Verkehr zu regeln. 1926 steht unter dem Foto, das Christoph Kaufmann dafür herausgesucht hat. Wenig später, so erzählt er, war das alles schon elektrisch geregelt, begannen die Ampeln, den Verkehr in Leipzig zu portionieren.
Das 20. Jahrhundert verblüfft ja durch sein permanentes Stop and Go.
Was auch das elektrische Fahren betrifft. Denn in der Aktien-Brauerei in Gohlis fuhren Bleicherts “Eidechsen” die Bierkästen hin und her – elektrisch. Das war 1926. Elektromobilität heißt das noch immer – und noch immer scheinen trotzdem die alten Diesel-Busse die Stadt zu beherrschen. Technischer Fortschritt mit Kurven und Schleifen. Verblüffend selbst für den Fotofachmann das Foto von Johannes Mühler – irgendwann um 1920 aufgenommen: ein Pferdeschlitten auf verschneiter Fahrbahn vorm Neuen Rathaus, weit und breit kein Auto, keine Straßenbahn. Was war da los? Ein Kriegswinter vielleicht? Oder ein Schneefall, der Leipzigs Straßenbahnen einmal lahmgelegt hat und die Leipziger machten sich mal nichts draus, sondern eilten lieber zum Schneevergnügen in den Johannapark?
Größer, schneller, stärker
Fotos leben vom besonderen Moment, dem, was den Betrachter verblüfft, auch wenn er es erst 100 Jahr später sieht – so wie das Koffer- und Säckeeinladen auf dem Flughafen Mockau oder die Ruderboote im Palmengarten. Oder die Belegschaft des Thüringer Bahnhofs, die sich 1907 zum letzten Gruppenbild mit Dampflok aufgestellt hat, bevor der Bahnhof abgerissen wurde. Es ist die Stadt der Mobilitäts-Träume. Größer, schneller, stärker, war die Devise. Dass es auch bedeutete, die Stadt mit Mobilen vollzuparken, konnten sich nur die Wenigsten vorstellen.
Manches wirkt rustikal in der Rückschau, noch unausgereift. Dafür waren viele Planungssünden noch nicht umgesetzt. Eine Stadt voller Möglichkeiten. Manches Foto wirkt fremd, weil die Zeit gründlich drüber weggegangen ist. Ein Bewegungs-Kalender für alle, die das alte Leipzig im heutigen Leipzig suchen und gern “Aha!” sagen, wenn sie die Stelle wiedererkennen. Oder auch nicht, weil später dann doch die Bauleute kamen und – zum Beispiel – den einst überschaubaren Schulplatz in den gesichtlosen Goerdelerring umgebaut haben.
Aber auch dieser Kalender wird, wie seine 14 Vorgänger, seine Liebhaber finden. Jetzt ist er wieder für 19 Euro erhältlich – zum Beispiel in der Tourist-Information in der Katharinenstraße. Solange der Vorrat reicht.
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