Im Frühjahr 2014 veröffentlichte Michael Haller, Leipziger Medienmachern noch als Professor für Allgemeine und Spezielle Journalistik an der Uni Leipzig bekannt, heute Gesamtleiter Forschung der Hamburg Media School, sein Buch "Brauchen wir Zeitungen?" Eine durchaus notwendige Fragestellung in einer Zeit, in der landauf, landab das Modell Zeitung den Bach runterzugehen scheint.
Die Frage war provokant gestellt und wurde von Haller eigentlich damals schon mit einem “Ja” beantwortet. Mit den notwendigen Fragezeichen dazu. Denn wenn man schon “Ja” sagt, braucht man eigentlich auch Antworten darauf, wie es denn nun weitergehen soll, wenn Anzeigenumsätze schwinden, Auflagen schmelzen und junge Leute mit Print nicht mehr viel anfangen können. Fragezeichen.
Denn Vieles, was in den letzten Jahren von gut bezahlten Medienexperten als Antwort und Lösung präsentiert wurde, hielt und hält in der Praxis nicht stand. Tabuthemen werden nicht benannt. Und nicht jeder Trend ist auch schon Zukunft.
Jetzt hat er ein zweites Buch vorgelegt, das nun kühn verkündet: “Wir brauchen Zeitungen”. Wer jetzt freilich Antworten erwartet, bekommt sie – noch – nicht. Noch ist alles im Fluss. Michael Haller präsentiert zwar Thesen, die einiges für sich haben, der größere Teil des Buches ist auch mit Praxisbeispielen gespickt, doch gerade sie zeigen, wie offen das Spielfeld tatsächlich noch ist. Manche forsche Behauptung im Anreißer wird im Text nicht belegt. Manche Ankündigung aus der Analyse durch die Praxisbeispiele (noch) nicht untermauert. Alles ist im Fluss.
Auch in Norwegen oder in den Niederlanden, aus denen versucht wird, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Gelobtes Land Norwegen? Nicht unbedingt. Zumindest nicht, wenn man die Behauptung, dortige Zeitungen hätten ihre Leserschaft behauptet und mit Online-Abos wieder festigen können, ernst nimmt. Tatsächlich wurde die norwegische Zeitungslandschaft genauso gebeutelt wie die deutsche. Und es gibt auch deutsche Medienhäuser, die online schon ähnlich erfolgreiche Modelle haben wie die hier gelobten norwegischen. Aber ein kleiner Satz im Beitrag von Dirk Arnold zu den norwegischen Regionalzeitungen lässt aufhorchen. Wer Zeitung nur vom Zeitung machen her denkt, begeht einen Fehler.
Dazu kommen wir noch.
Natürlich steigt Haller in sein Buch ein mit einer recht deutlichen Analyse der bestehenden Zeitungsmodelle in Deutschland und den zum Teil katastrophalen Versuchen der Verleger, die Einnahmen auf Kosten der Inhalte zu retten – offline wie online übrigens.
Tatsächlich dreht sich alles um die Frage, die Haller 2014 gestellt hat: Brauchen wir wirklich Zeitungen? Und mit dem “wir” sind nicht nur “wir” gemeint, sondern alle Menschen, die an unserer Gesellschaft teilhaben wollen. Das zieht einen Rattenschwanz von Fragen hinter sich her. Zum Beispiel die: Genügt den Meisten nicht das Unterhaltungspotpourri der Fernsehsender und Radioanstalten? (Ja, das ist leider so.) Können junge Leute mit gedruckten Zeitungen nichts mehr anfangen? (Die Frage wird bei Haller zumindest andiskutiert. Das ist wichtig.) Braucht eine moderne Informationsgesellschaft überhaupt das, was Journalisten bei Zeitungen tun? (Die Frage wird eindeutig mit “Ja” beantwortet – diesmal auch nicht nur aus Machersicht.)
Wo liegt das Problem aktuell?
Es ist ein doppeltes. Nicht nur, dass die im Buch sogar als positive Vorbilder genannten Internetriesen Facebook, Google und Co. die einstmals gigantischen Werbeerlöse der deutschen Medienhäuser umleiten und damit der Finanzierung der Medien in der Bundesrepublik entziehen, sie geben durch ihre schiere Größe auch Trends vor. Einer davon ist die Beschleunigung von Information. Binnen von Minuten verbreiten sich Nachrichten aller Art wie ein Lauffeuer in den sogenannten “sozialen” Netzwerken. Es sei sogar messbar, ist in diesem Buch zu lesen, dass sich heute innerhalb der ersten 30 Minuten entscheidet, wer mit einer Spitzen-Meldung Quote macht – und wer nur noch hinterher hinkt. Wer erst nach 60 Minuten berichtet – und sei es viel besser recherchiert und eingeordnet – hat das Nachsehen.
Das ist der Grund dafür, warum heute fast alle großen Medien online alles, was irgendwie nach Nachricht klingt, binnen weniger Minuten in die Welt posaunen. Und warum die meisten Nachrichten, die überhaupt noch die Aufmerksamkeitsschwelle der Mediennutzer erreichen, Nachrichten von Gewalt, Katastrophen, Skandalen, Sex & Crime sind.
Und das logische Ergebnis: Weil alle damit Lärm machen, verdient niemand – außer den großen, schrillen News-Portalen – damit mehr Geld. Michael Haller: “Für Informationsangebote, die auf dem Buzzfeed-Niveau angelangt sind, kann man kein Geld verlangen. Es ist nicht verwunderlich, dass das Vertrauen in den Journalismus schwindet …”
Denn wenn die Nutzer auf den Nachrichtenseiten des Internets überall dieselbe bunte und schreiende Nachrichtenbrühe finden, kommt der Ekel vor dieser Art Journalismus von allein. Ein Dilemma für die Betreiber dieser Seiten: Wenn sie die so lange gefeierte “Reichweite” halten wollen, müssen sie weiter “hot news” aussenden, als wäre ein irrer Chef im Haus. Und damit zerstören sie zwangsläufig die eigene Glaubwürdigkeit.
Und weil auch im Print die großen Umsätze schwinden, haben die Verlagsleitungen auch dort seit Jahren versucht, gegenzuhalten. Aber in den seltensten Fällen mit verbesserter Qualität. Dazu müsste man ja wissen, womit man Leser wirklich in den Bann zieht. Die meisten Zeitungen, auch und gerade die regionalen, haben auf Ausdünnung der Redaktionen gesetzt, dafür mehr Marketing und Entertainment ins Blatt gebracht, die Thementiefe verringert. Ein Ergebnis, so Haller: “Just solche Redaktionen, deren Blätter unter großem Reichweiteschwund leiden, nehmen sich selbst wichtiger als ihre Leserschaft. Ein wachsender Teil der Titel missachtet
journalistisch-handwerkliche Standards.”
Man merkt: Eigentlich geht es immer um den potenziellen Leser. Und ein Problem, das Haller nur indirekt anspricht: Wie schwer fällt es eigentlich Zeitungsmonopolisten, aus ihrer Haut zu kommen, wenn die Blattlinie nicht in der Redaktion, sondern in der Geschäftsführung entschieden wird? Und was kommt dabei heraus, wenn ein großes Verlagshaus wie Madsack mal so etwas wie ein Brainstorming veranstaltet? Ein solches fand tatsächlich statt. Einige der im Buch geschilderten Beispiele wurden dort vorgestellt und diskutiert.
Ergebnis: Wieder viele Lösungsansätze, die ein bisschen wirken wie das Spielzeugangebot im Kindergarten.
Aber augenscheinlich hat man auch die existierenden Probleme zumindest wahrgenommen. Zumindest deutet diese Passage aus Hallers Analyse das an: “… doch im Unterschied zur Welt der Fahrzeuge haben viele verunsicherte Medienmacher die Kernfunktion der Tageszeitung – auch der digitalen – aus den Augen verloren. Dabei ist diese aus Sicht des Publikums ähnlich klar wie jene bei den Fahrzeugen: Quer durch alle Altersgruppen erwarten auch heute die meisten Erwachsenen von der Tageszeitung, dass sie über das aktuelle Geschehen in der großen wie in der kleinen (lokalen) Welt zuverlässig ins Bild gesetzt werden. Für die meisten Leser und User ist auch klar, dass diese Orientierungsfunktion aus zwei Leistungen besteht: aus der Informationsleistung (nachrichtliche Aktualität und Recherche) und der Interpretationsleistung. Letztere bezeichnet das Einordnen und Bewerten der Nachrichten in deren Zusammenhängen. Hinzu kommt noch eine für Regionalzeitungen spezifische Funktionsleistung. Diese besteht vor allem darin, dass die Redaktion das aktuelle Geschehen (auch in der überregionalen Welt) aus der Perspektive ihrer Region fokussiert, einordnet und bewertet.”
Besonders hübsch ist dieser Klammereinschub: “(auch in der überregionalen Welt)”. Ist das wirklich so? Glaubt man bei den großen Regionalzeitungen tatsächlich, dass man auch das Überregionale noch einmal aufkochen muss? So, wie das vor 100 Jahren noch sinnvoll war, weil die Regionalzeitung tatsächlich das einzige Medium war, das die meisten Menschen konsumierten? Schon in der Zeit, als Radio und Fernsehen aufkamen, wirkte das in der Regel seltsam altbacken. Und mit dem Aufkommen des Internets sieht es eher wie eine Verschwendung von Zeit, Geld, Papier aus.
Aber vielleicht sind ja ältere Zeitungsleser so.
Nur: Mit moderner Mediennutzung, wo die wichtigsten überregionalen Nachrichten alle binnen 30 Minuten verfügbar sind, hat das nicht viel zu tun. Und wer sich diese überregionalen Teile anschaut, merkt ziemlich schnell, dass den Redaktionen die Kompetenz und die Schlagkraft fehlt, hier überhaupt so etwas wie eine eigenständige Berichterstattung auf die Beine zu stellen.
Dass es Altersgrenzen bei der Leserschaft gibt, keine Frage. Aber das muss nicht bedeuten, dass sich gedruckte Zeitungen nur noch auf eine Leserschaft von 60 plus einschießen. Ein Thema, das von Haller recht intensiv diskutiert wird. Denn oft genug sind die Redaktionen ja mit ihren Stammlesern alt geworden, haben kaum noch Feedback aus jüngeren Leserschichten, nehmen auch kaum noch die Themen jüngerer Leser war. Und sie empfinden eine Art Burgmentalität, fühlen sich als Nabel der lokalen Medienwelt und spiegeln auch nicht wieder, dass sie tatsächlich nur Teil eines größer und vielfältiger gewordenen Medienkosmos sind, in dem sie nur ein Angebot unter vielen sind.
Michael Haller: “Die meisten Leute zwischen 30 und 60 Jahren wollen diese Leistungen analog und digital, auf Papier und auf dem Bildschirm. Und sie wollen diese in erster Linie als Lektüre (Text). Sie möchten diese Leistungen wenn möglich morgens, über Mittag und abends. Und wenn die Qualitätsfrage gestellt wird, dann ist auch hier die Antwort klar und deutlich: Man will nicht irgendwelche Geschichten, sondern Zuverlässigkeit, zu der neben Sachrichtigkeit und Verständlichkeit auch interessenunabhängige Berichterstattung gehört – kurz das, was die Leser/Nutzer in Abgrenzung zu Social Media mit ‘Glaubwürdigkeit’ meinen.”
Aber wie macht man das, wenn man die möglichen jüngeren Nutzer und ihre Erwartungen nicht kennt?
Michael Haller versucht aus den Workshops und Diskussionen, an denen er beteiligt war, so etwas wie ein Destillat zu gewinnen: “Daraus ergeben sich ganz andere Angebote: keine Ressorts, keine abstrakten Buchstrukturen mehr, keine Hierarchien, keine Einwegkommunikation und keine verkappte PR, sondern klare Ansagen: Was ist wichtig zu wissen? Was wird wie und wo diskutiert? Was ist unklar oder offen? Was muss man nicht wissen, ist aber krass oder komisch? Wie ordne ich das aktuelle Geschehen auch moralisch ein? Was haben andere Medien falsch berichtet? Welche lokalen Vorgänge sind wirklich bemerkenswert? Welche Informationen sind nützlich? Wo bekomme ich noch mehr davon? Wo gibt es gute Beispiele, gelungene Aktionen und überzeugende Helden des lokalen Alltags? u.a.m.”
Und das Fazit für die Leute in der Burg: “Nicht nur die Verlage, auch die Lokalredaktionen müssen die jüngeren Zielgruppen erst noch verstehen lernen: deren Interessen, Einstellungen und Lebensstile sowie das darin eingebettete Informationsverhalten.”
Man merkt dann aber auch schnell, wie sehr auch in Hallers Arbeit die Sicht der alten, großen Medienhäuser dominiert. Und wie dort versucht wird, aus der Sackgasse zu kommen, in die sie sich fast alle mit Sturheit und viel Geldeinsatz hineinmanövriert haben.
Sind wir jetzt schon beim Nachdenkthema Norwegen?
Noch nicht ganz.
Dahin kommen wir im zweiten Teil der Buchbesprechung in Kürze an dieser Stelle.
Michael Haller (Hrsg.) “Wir brauchen Zeitungen. Was man aus der Zeitung alles machen kann. Trendbeschreibungen und Best Practices“, edition medienpraxis, Herbert von Halem Verlag, Köln 2015, 18 Euro
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