Nicht nur einige gewichtige Bücher sind zum 25. Jahrestag des '89er Herbstes erschienen. Auch das Mitteldeutschland-Magazin Regjo hat sich mit einem Sonderheft "25 Jahre Friedliche Revolution" ins Getümmel gestürzt, 136 Seiten dick - auch für Regjo ein ordentlicher Brocken. Haben wir jetzt wirklich Mitteldeutschland geschrieben? Haben wir.
Allem Provinzgenuddel um Sachsen, Thüringen und preußischen Restbestand Sachsen-Anhalt zum Trotz. Es gibt ganze Geschichtsströme, die laufen in diesem Mix-Kessel schon seit Jahrhunderten ab, ohne dass all die einst von Kleinstfürsten gezogenen Landeslinien dabei eine Rolle spielen. Und das trifft auch auf das zu, was da 1989 geschah. Denn dass der Herbst ’89 ausgerechnet in den südlichen Bezirken der DDR ins Rollen kam, hat nichts – ja, ist wirklich so – mit der Kirche zu tun, sondern mit der starken Industrialisierung der Südbezirke. Hier war die Werkstatt der DDR. Und ein Blick in den dicken Band “Redefreiheit”, herausgegeben von Thomas Ahbe, Michael Hofmann und Volker Stiehler, genügt eigentlich, um zu sehen, warum gerade hier der Frust hochkochte und – wie 1953 – auf die Straßen schwappte.
Denn die alten Industriestädte im Süden litten nicht nur darunter, dass sie die Umweltverschmutzung aus Essen, Schloten und Abwassern besonders zu spüren bekamen – sie mussten auch noch die Hauptstadt Berlin mit durchfüttern mit Produkten, die es in den eigenen Läden nicht mehr zu kaufen gab. Und sie mussten ihre Bauarbeiter nach Berlin schicken, obwohl die eigenen Innenstädte verrotteten. Der Widerspruch all dessen, was mal den Traum von einer anderen Gesellschaft ausgemacht hatte, war hier für jeden sichtbar. Also waren es die Leute in Leipzig, Plauen, Dresden, die als Erste auf die Straße gingen.
Was übrigens auch die “führenden Genossen” betraf (mal von den Hardlinern in Halle abgesehen). Worauf gleich im ersten Beitrag zu diesem Heft Rainer Eckert eingeht, wenn er so beiläufig erwähnt, dass die “Kommunisten in Ostdeutschland ihr Sendungsbewusstsein und den Glauben an ihre Sache weitgehend verloren hatten”. Wer nicht mehr weiß, wo er hin will und wie er da hinkommen kann, der überzeugt niemanden mehr, für den bleibt nur noch – wenn er an der Macht bleiben will – “Zwang, Verführung und Manipulation”. Auch das aus Eckerts Text “Friedliche Revolution als Geschichtsmythos”. Das Heft bietet – zum Glück – nicht nur Rückschau, auch wenn sich das ganze erste Kapitel dem widmet – mit durchaus nachdenklichen Beiträgen auch zu Christian Führer und Volker Braun und einem Text, der jetzt wie ein notwendiger Kommentar zu einer Nicht-Einladung am 9. Oktober 2014 zu lesen ist: “Sechs mutige Leipziger schreiben Geschichte”. Denn der Aufruf der Sechs vom 9. Oktober 1989 ist nicht deshalb wichtig, weil Kurt Masur ihn vorlas, sondern weil drei führende Leipziger SED-Funktionäre ihn mitgetragen haben und damit die Parteilinie verließen. Am 9. Oktober 2014 hat man die drei ehemaligen SED-Funktionäre Pommert, Meyer und Wötzel dann nicht eingeladen. Und das war sehr typisch in diesem Prozess nach 1989, der heute noch lange nicht vollendet ist.
Im Gegenteil: Auf fast allen Karten, die wirtschaftliche, soziale oder andere Entwicklungen in der Bundesrepublik abbilden, ist die einstige DDR farblich nach wie vor leicht zu erkennen. Auf eine schöne Sammlung zum Thema hat uns L-IZ -Leser Thomas Grahl aufmerksam gemacht: http://derostenlebt.tumblr.com
Über diese nach wie vor spürbaren Unterschiede zwischen Ost und West wird auch in etlichen der Beiträge im Regjo-Sonderheft nachgedacht – über den unterschiedlichen Humor, über die (oft sehr parteiische und undifferenzierte) Sicht auf Rassismus, die unterschiedliche Rock-Geschichte oder den immer wieder neu aufflammenden “Bilderstreit”, mit dem die in der DDR entstandene Kunst von aufmerksamkeitssüchtigen Kuratoren immer wieder als Staatskunst diskreditiert wird, selbst dann, wenn die Parallelen zur gleichzeitigen Kunstentwicklung im Westen unübersehbar sind. Was dann auch in einem kritischen Beitrag zur Architekturentwicklung (“Fassaden für den Aufbau Ost”) und zum Umgang mit der DDR-Moderne zur Sprache kommt.
Das Heft musste ganz einfach einen solchen Umfang erreichen. Es zeigt – auch wenn die meisten Beiträge recht kurz sind und das Thema nur anreißen – wie komplex so ein Zusammenwachsen zweier Landeshälften tatsächlich ist, wie alte Ressentiments und neue Fehler die Entwicklung beeinflussen. Und wie lang so ein Weg tatsächlich ist. Die schönen Träume von 1990, das Ganze würde nur 10 oder 20 Jahre dauern, träumt heute niemand mehr. Und auch die Frage “Ist die Einheit nun gelungen oder nicht?” stellt sich so nicht. Sie würde sich nur stellen, wenn sie so etwas wie ein Gnadengeschenk wäre. Ist sie aber nicht. Sie ist sture, beharrliche Arbeit auf allen Ebenen. Die natürlich auch oft sturer, beharrlicher Ignoranz auf allen Ebenen begegnet.
Helge-Heinz Heinker weiß ein Lied davon zu singen. Er hat dem Heft mehrere Beiträge beigesteuert, die sich mit der elementaren Frage aller gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigen: der wirtschaftlichen. Denn wenn jemand von einer Selbstständigkeit des Ostens und einer “Angleichung der Lebensverhältnisse” träumt, dann muss er die wirtschaftlichen Grundlagen dafür schaffen. Die Bilanz fällt logischerweise gemischt aus, denn wirklich erholt hat sich auch Mitteldeutschland von der Radikalkur der 1990er Jahre noch nicht, auch wenn erste zarte Pflänzchen von einer möglichen eigenen Entwicklung erzählen. Was natürlich mit Strukturen zu tun hat, die über Jahrhunderte gewachsen sind. Und mit dem Volk, das gleich nach 1990 so gern diskreditiert wurde von überheblichen westdeutschen Medienmachern als “Jammerossis”.
Das taucht hier zwar speziell im Kapitel “Humor” auf, wird aber in vielen Texten auf fast genüssliche Weise konterkariert. Da Regjo in Leipzig produziert wird, kommt auch viel Leipzig drin vor. Aber auch das liegt wohl in der Natur der Sache – es ist die derzeit am stärksten wachsende Stadt in Mitteldeutschland. Hier stehen schon seit ein paar Jahren Themen auf der Tagesordnung, die jetzt erst so langsam den Wahrnehmungshorizont der drei Landesregierungen erreichen. Irgendwie ist Leipzig eben doch eine kleine Metropole, auch wenn es zur Olympiagröße 2012 nicht gereicht hat (thematisiert im Kapitel “Sport”). Hier merkt man, wenn Strukturen im Hinterland nicht mehr richtig funktionieren, wie die Kosten explodieren, weil man eine ganze Region mit sich ziehen muss, die vom schleichenden Prozess des Infrastrukurverlusts betroffen ist. “Gut möglich, dass die schon nach kurzer Zeit geschmähte ‘Leuchtturmpolitik’ der 1990er Jahre doch der Weisheit letzter Schluss ist”, schreibt Heinker und erklärt den Osten zum großen Experimentierfeld.
Das von lauter Leuten regiert wird, die regelmäßig postulieren: “Keine Experimente!”
So kann das kommen. Gesellschaften verändern sich – schneller als Stammtischparolen. Da wählt das Volk nun beharrlich “Keine Experimente!”. Und trotzdem ändert sich alles. Und am heftigsten gerade dort, wo nicht mehr experimentiert wird. Sommer für Sommer packen die jungen Leute dort einfach ihre Sachen und fahren da hin, wo noch (oder wieder) experimentiert wird. Und mittendrin tauchen selbst in diesem Heft Autoren auf, die mit großem Schnupftuch der guten alten Zeit nachweinen. Man glaubt es nicht. Den Autorennamen Rüdiger Stolzenburg glauben wir sowieso nicht, auch wenn das fiktive Alter von Christoph Heins Helden passen könnte zur medialen Scheuklappensicht dieses Rüdiger Stolzenburg, der tatsächlich im Jahr 2014 die “Mediale Vielfalt” der Stadt Leipzig ausgerechnet im bedruckten Papier sucht. Vielleicht sollte man diesem Burschen mal ein Smartphone, ein iPad oder auch nur einen simplen internetfähigen PC schenken? Dann kann er seine alte Erika endlich in den Ruhestand schicken und sein Abo für das derzeit so heftig plakatierte “Leipziger Allerlei” kündigen.
Redefreiheit: Wie die Leipziger 1989 zu Wort kamen – der Buchbesprechung 2. Teil
Was die anderen Tonbandmitschnitte …
Ein “Regjo”-Heft zur “Innovation”: Eine hochkarätige Hochschullandschaft kurz vor der Demontage
Es hätte ein Superheft werden können …
Auf der neu gestalteten Website …
Den Verweis auf die noch immer lückenhafte Breitbandversorgung in Sachsen muss man dann bei Helge-Heinz Heinker suchen. Aber genau dieser Widerspruch ist recht typisch für das, was 25 Jahre nach 1989 das Land im Osten ausmacht: Eine experimentierunfreudige Lamento-Mentalität auf offizieller Bühne, die einfach nur noch nervt, und viele Schichten darunter das umzugslustige und experimentierfreudige junge Volk in Jena, Chemnitz, Halle, Magdeburg usw., das noch immer Lust hat, die Freiräume zu nutzen.
25 Jahre ’89 heißt aber auch: Vorläufiges Ende im Wettbewerb um das Leipziger Einheits- und Freiheitsdenkmal, dessen Scheitern Esther Niebel noch einmal referiert und in einem Interview mit Tobias Hollitzer recht ausführlich erörtert. Keine Überraschung: Auch in diesem Interview kommt die Lamento-Mentalität des “Leipziger Allerleis” zur Sprache, die nicht nur die erste Stufe des Wettbewerbs ins Zwielicht brachte, sondern auch das Ende herbeitrommelte. So entstehen in der medialen Wahrnehmung Mehrheiten, die keine sind, werden Diskussionen, die fällig sind, durch bräsiges “Wollen wir nicht” abgewürgt.
Was dann leider auch ans eigentlich nicht existente literarische Feuilleton erinnert, auch wenn sich Franziska Reif – teilweise völlig falsch – über den Literaturbetrieb in Ost und West auslässt. Wird denn nirgendwo mehr Literaturgeschichte gelehrt und gelernt? Dass “gerade in den westlichen Zonen (…) direkt nach dem Krieg die Frage nach der Rolle der Intellektuellen nicht relevant” war, ist geradezu frevelhaft kenntnislos. Erinnert sei nur an die Gruppe 47, an Marcuse, Ahrend, Fromm und Adorno. Wird das wirklich nirgendwo mehr unterrichtet? Muss man natürlich auch mal lesen, wenn man über Intellektuelle in Ost und West reden möchte und dann gar die gegenwärtige Literatur in so eine Art Essay pressen möchte. “Popkultur und Nabelschau”? – Vielleicht wäre das sogar mal ein eigenes Regjo-Heft wert, wenn die Autorin in dieser Kürze schon nicht viel Substanzielles in Mitteldeutschland gefunden hat – außer Uwe Tellkamp, den sie nicht mag.
So steckt in der 25-Jahre-Bilanz schon wieder ein bisschen Stoff zum Nachdenken. Denn weiter geht’s ja. Und das Tempo geben nicht die bräsigen Keine-Experimente-Greise vor, sondern die unangepassten jungen Wilden, die noch neugierig sind auf das, was in neuen Netzstrukturen alles möglich ist.
Regjo Sonderausgabe “25 Jahre Friedliche Revolution”, 5,90 Euro.
www.regjo-mitteldeutschland.de
Eine Auswahl von Ost-West-Karten:
http://derostenlebt.tumblr.com
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