Wer den 100. Geburtstag einer Bibliothek feiert, der muss sich auch mit dem Lesen beschäftigen. Auch wenn sich die Deutsche Bücherei, die sich seit 2006 offiziell Deutsche Nationalbibliothek nennt, mittlerweile auch um das Sammeln von Tonträgern und Netzpublikationen kümmert. Dabei vergisst man beinah, dass Lesen ja nicht angeboren ist.

Man lernt es erst in der Schule. Manche pfiffigen Kinder schon vorher. Manche leider auch nie. Von 2 Millionen Analphabeten spricht eine Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2011. Dazu kommen noch einmal rund 7 Millionen funktionale Analphabeten. Das sind Menschen, die zwar lesen können, diese Fähigkeit im normalen Alltag aber nicht selbstverständlich anwenden können. Da ist leicht reden, wenn man zu den 84 Prozent der Deutschen gehört, denen der Umgang mit geschriebenem oder gedrucktem Deutsch eher keine Schwierigkeiten macht. Lesen soll ja für manche Leute sogar eine Sucht sein, wie Prof. Ernst Pöppel in seinem Beitrag “Lesen ist Zeitverschwendung” erläutert. Am eigenen Beispiel. Am Ende lässt er einen einzigen Punkt gelten, der ihm Lesen irgendwie nützlich erscheinen lässt: die Existenz von Gedichten. “Nur Gedichte können entschuldigen, dass die Schrift erfunden wurde.”

Man sieht: Es ist ein provokanter Artikel, den die Redaktion in diesem vierten Heft der Jubiläumsreihe platziert hat. Provokant auch, weil Pöppel, Sinnesphysiologe und Psychologe, sich auch mit den Prozessen beim Lesen und Schreiben beschäftigt. Weil Lesenkönnen ja nicht angeboren ist, werden dabei Gehirnareale genutzt, die sonst eher unbenutzt bleiben. Was eigentlich etwas Gutes ist. Es zeigt auch, was in unserem Gehirn alles so möglich ist. Und wo Pöppel sich das Argument der modernen Effizienz-Fanatiker zu eigen macht, man würde beim Lesen Zeit und Kapazitäten vertun, verlässt er natürlich den wissenschaftlichen Bereich und gerät in den der wirtschaftsliberalen Glaubenssätze. Einer davon heißt: Zeit, die man nicht mit der Erfüllung seiner konkreten Arbeitsaufgabe verbringt, ist verschwendete Zeit, muss auch nicht honoriert werden. Das Ergebnis sind Arbeitswelten, in denen die Menschen wie Frettchen im Laufrad jagen und am Ende doch nur mit einem Handgeld entlohnt werden, das nicht mal für Fleisch und Butter reicht.

Pöppel setzt seine Provokationen ganz leise. Man könnte die Achtungszeichen überlesen. Denn natürlich ist er selbst erklärter Bücherfreund und weiß, was im Kopf alles abläuft, wenn man einen Text liest. Was übrigens ein komplexer Vorgang ist, der mit Deutungsmustern zu tun hat: Jeder Leser erlebt beim Lesen des gleichen Textes eine andere Geschichte. Im Sinne einer verlustfreien Kommunikation ist das natürlich grauenvoll und vor allem ineffizient. Warum setzt man sich erst hin und schreibt einen tollen Text – und dann machen doch tausend Leser wieder tausend verschiedene Erlebnisse draus? Mal ganz zu schweigen davon, dass vom gelesenen Stoff immer nur ein Bruchteil wirklich hängen bleibt. Erst die tausendfache Wiederholung sorgt dafür, dass ein Text im allgemeinem Bewusstsein zu einer gewissen Standardgröße wird. Aber auch das ist nur den Literaturprofessoren sicher.

Frage mal einer die Leute um sich herum, was sie über Faust, der Tragödie 1. Teil wissen. Und wie sie es einordnen. Ohne vorher nochmal nachzuschauen.Eigentlich ist es schade, dass die DNB ihre Jubiläums-Magazin-Reihe nicht mit so einem Text eröffnet hat. Und damit auch eine Diskussion entfacht hätte, die über das Jubiläum hinausreicht. Das hätte sich trotzdem mit einigen anderen Texten in den vier Heften berührt. In diesem Heft zum Beispiel mit dem Interview mit Jürgen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, der sich ja als Messedirektor auch damit auseinandersetzen muss, dass Literatur nicht mehr nur im Buch stattfindet.

Die Digitalisierung sorgt dafür, dass seit Jahren immer neue Darbietungsformen von Texten den Markt bereichern, aber auch unübersichtlicher machen. Mit dem Hörspiel begann es ja einmal, wurde dann irgendwann – mit der Kassette – zum Hörbuch. Mittlerweile machen Verlage, die das Buch als E-Book anbieten, ein Riesentamtam, schicken die üblichen Torbrecher-Truppen los, die die bekannte deutsche Buchpreisbindung wieder einmal aushebeln sollen. Der Vertrieb hat sich genauso digitalisiert, ganze Literaturportale sind entstanden mit weiteren digitalen Formaten – man denke nur an das Snippy-App aus Leipzig.

Da muss man über das Buch wieder neu nachdenken. Viele Autoren werden zu Selbstverlegern und geben ihr Werk zum digitalen Download ins Netz. Was wieder eine Menge Leute gar nicht mitbekommen, weil das Internet mittlerweile geflutet ist mit Tausenden konkurrierenden Angeboten. Ein wahrer Satz von Jürgen Boos: “Die neue Währung heißt Aufmerksamkeit.”

Was wohl nichts daran ändern wird, dass immer mehr vom Schnelligkeitswahn gebeutelte Leute immer mehr immer überflüssigere Meldungen oder “news” ins Netz fluten werden, bloß um schnell irgendwelche Suchergebnisse für sich zu verbuchen, in den “social media” eine kleine Welle auszulösen oder auch nur im eigenen Tümpel rufen zu können: “Erster!”

Aufmerksamkeit hat etwas mit Qualität zu tun, mit Konzentration und diesen kleinen, so nutzlosen Gehirntätigkeiten, wie sie Pöppel benannt hat. Denn das Gehirn “arbeitet” ja trotzdem. Es rastert Informationen, sucht Deutungsmuster, koppelt Begriffe oder Bilder mit Emotionen, baut die gelesene oder gar nur flüchtig wahrgenommene Geschichte noch einmal völlig neu nach. Im Kopf entsteht die eigene Geschichte. Das geht übrigens auch lesenden Journalisten so. Es gibt auch die nichtlesenden. Denen reicht das “copy+paste”. Dann sind sie schon stolz auf sich: Papa, guck ma, was ich gemacht hab.Den anderen geht es wie jedem intensiven Leser: Die Geschichte wird im Kopf in größere Zusammenhänge und Erfahrungen sortiert. Man sieht, wo sie interessant sein könnte, wo noch Fragen offen geblieben sind. Und da Journalisten selbst Geschichtenerzähler sind (oder sein sollten), beginnen sie schon beim Lesen, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Noch ins Rohe, so wie wohl ein Mensch namens Homer vor ungefähr 2.800 Jahren. Die Fragen der Zuhörer sind schon mit eingeplant. Deswegen fängt der moderne Geschichtenerzähler auch gleich an zu recherchieren, fehlende Fakten und Zusammenhänge rauszufinden, Leute anzurufen, von denen er weiß, dass sie ein paar Passstücke zur Geschichte wissen können.

Verleger sind irgendwie auch nur Journalisten. Auch sie wählen Geschichten aus. Auch wenn sie sie nicht selbst erzählen, sondern bei Autoren bestellen oder frei Haus geliefert bekommen. Auch da gibt es die “copy+paste”-Verleger, die jeden Schrott veröffentlichen, so wie er reinkommt. Was heute leichter ist, weil man auch winzigste Auflagen digital drucken kann.

Aber das, so Boos, führt nur immer weiter zu einer Zersplitterung der Aufmerksamkeit. Einige – sogar große – Verlage sind selbst schon bis zur Unkenntlichkeit diffundiert. Wahrscheinlich auch, weil sie gar keine Verleger mehr haben. In ihren Entscheidungsetagen sitzen Betriebswirtschaftler, die alles, was nicht zum Arbeitsprozess gehört, aus dem Verlag herausrationalisieren, um die Herstellungspreise zu drücken. Leute, die Pöppel nach seiner Theorie eigentlich gefallen müssten. Das Dumme ist nur: Sie erzeugen tausendtonnenweise Lesemüll, der nicht mal mehr das Quentchen Gewinn im Kopf hinterlässt, das man selbst noch beim Lesen von Nietzsche-Texten hat. Da gilt dann zwangsläufig, was Boos sagt: “Denn Zeit ist das kostbarste Gut des Menschen. Insofern kann es für den Verleger nur heißen: back to the roots. Der Verlag bzw. der Publisher muss zur Marke werden, mit der der Verbraucher bestimmte Inhalte verbindet.”

Darf Boos sagen. Er ist Messedirektor. Die Direktoren der beiden Nationalbibliotheken in Leipzig und Frankfurt dürfen es nicht. Sie sind zum wertungsfreien Sammeln deutschsprachiger Literatur verpflichtet. Was dann irgendwann die Forscher freut, die in den gewaltigen Beständen auf Tauchfahrt gehen können nach den absonderlichsten Beschäftigungen, mit denen sich menschliche Köpfe abgeben. In Leipzig haben sie – dazu gibt es eine eigene Bilderstrecke – Lesesäle aus vier verschiedenen Architekturepochen zur Verfügung. In Frankfurt ist alles gleichzeitig fertig geworden. Da gibt es nur eine Epoche – die sachlichen 1970er Jahre. Es gibt auch einen kleinen Beitrag zu “Germanica”: Das sind die Veröffentlichungen in anderen Sprachen über Deutschland. Eine Idee, auf die seltsamerweise 1942 die Nazis kamen, die ja sonst nicht wirklich wissen wollten, was andere über sie dachten. Wirklich umgesetzt wurde sie aber erst ab 1948 – als man nämlich wieder kooperierte mit den anderen Ländern und von ihnen Bücher bekam.

Ein kleines Porträt stellt Thomas Schleußner-Schwarz vor, der für das nunmehr in Leipzig heimische Deutsche Musikarchiv versucht, all jene Tonträger zu ergattern, die seit Erfindung der Tonträger in Deutschland hergestellt wurden. Ein Universum für sich.

Wieder ein Heft voller Anregungen für Leute, die Lesen eben nicht als Zeitverschwendung begreifen, sondern als – das stammt jetzt wieder von Töppel – soziale Teilhabe. “Ich lese nicht des Wissens wegen, sondern um durch das Gelesene mich der Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. ‘Wissen’ ist nur das Vehikel für soziale Teilhabe. Ich lese also aus anderen Gründen, als mir unterstellt wird.”

Da hört man richtig, wie die Tür auf geht und ein genervtes Elternteil den Jungen ermahnt, doch endlich aufzuhören mit “Schmökern” und das Licht auszumachen. Diesen vormundlichen Vorwurf der “Zeitverschwendung”. Lesen ist niemals so nützlich wie der harte Bürojob des Vaters, nicht wahr? Wer liest, kommt auf dumme Gedanken, nicht wahr? Menschen, die zu viel lesen, sind gefährlich, nicht wahr?

Herzlich willkommen im Klub. Wir wünschen der Deutschen Nationalbibliothek noch viele Jahrhunderte des fröhlichen Wachsens und Gedeihens.

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