34 Seiten, Luther aufs Titelblatt. Und die unübersehbare Aufforderung: "Re:formiert Euch!" Das erste "median"-Magazin liegt jetzt vor, das die Wirtschaftsinitiative Mitteldeutschland und die Metropolregion Mitteldeutschland gemeinsam herausgegeben haben. 9.000 Mal gedruckt. Im September reisen ein paar Exemplare auch mit dem ICE durchs Land. Da können ein paar Leser immer wieder mal aus dem Fenster schauen und "Aha!" sagen.

Luther dominiert den Mittelteil. Immerhin stecken die drei Bundesländer, die es angeht, schon seit 2009 mitten in der Luther-Dekade. Das Jahr 2012 ist dem Motto “Reformation und Musik” gewidmet und nicht nur Leipzig spielt darin mit Bach und Thomanern eine zentrale Rolle. Auch wenn die “Thomana” mit ihrem 800jährigen Jubiläum den Anlass gab, dieses Jahr so zu widmen.

Für Leipzig hat das den Effekt: Man beschäftigt sich hier nun etwas intensiver mit dem kommenden großen Jubiläum 2017, dem 500. Jahrestag des Thesenanschlags und damit des offiziellen Beginns der Reformation, die – das vergisst man oft – die moderne Welt tatsächlich gründlich verändert hat. Den Satz sagt übrigens Dr. Albrecht Schröter, Jenas Oberbürgermeister und derzeit Vorsitzender des Gemeinsamen Ausschusses der Metropolregion Mitteldeutschland, gleich zum Heftauftakt in seinem Grußwort. “Eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit” nennt er das, was Luther da auslöste mit seiner Kritik an den erstarrten Dogmen der alten Kirche und der Übersetzung der Bibel ins Hochdeutsche.

Ein bisschen sahen das 2003 auch jene Leute so, die das ZDF zur Kür des “größten Deutschen” aufrief. Zwar gewann da Konrad Adenauer, was schon ein bisschen verblüfft in der Konkurrenz. Aber Martin Luther wurde auf Rang 2 gewählt – vor Karl Marx, der seither sogar wieder Furore gemacht hat, und Sophie und Hans Scholl. Was ganz gewiss auch ein sehr gegenwärtiger Reflex war: Die “Weiße Rose” steht natürlich für den bewundernswerten Mut, den die meisten Menschen nie haben und auch die Deutschen im “Dritten Reich” in der Mehrzahl nicht hatten.

Es steckt in der damaligen Liste des ZDF auch viel Ideal – aber auch mehr Kenntnis, als man in der gegenwärtigen Geschichtsdarstellung in manchen deutschen Medien findet. Bach landete damals auf Platz 6 – hinter Willy Brandt. Was bestimmt beide Männer sehr geehrt hätte. Goethe landete auf 7, vor Johannes Gutenberg.Aber das Ausrufezeichen hinter “Re:formiert Euch!” kann man nicht wirklich überlesen. Auch wenn Albrecht Schröter und der Geschäftsführer der Wirtschaftsinitiative Jörn-Heinrich Tobaben mehrfach betonen, dass weder die Mitteldeutsche Wirtschaftsinitiative noch die aus einem Städteverbund hervorgegangene Metropolregion den drei Länderregierungen in Dresden, Magdeburg und Erfurt in die Verantwortung greifen wollen.

Sie sagen es zu betont. Ausrufezeichen bleiben Ausrufezeichen. Denn tatsächlich steht für beide den ganzen mitteldeutschen Raum umgreifenden Initiativen das Dilemma: Die drei Landesregierungen zögern und zagen und tragen die länderübergreifenden Konzepte nicht wirklich mit. Dabei geht es nicht unbedingt um ein gemeinsames Bundesland – auch wenn Albrecht Schröter mehrfach betont hat, dass das die logische Folge der gemeinsamen Schwäche ist. Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verspielen ihre Chancen, indem sie ihre Wirtschafts- und Verkehrspolitik nicht bündeln, bei Standortwettbewerben sogar gegeneinander antreten. Gemeinsame Messeauftritte sind das eine – reale Politik ist etwas anderes. Und die Definition der Metropolregion geht ja nicht auf ein schönes Wunschdenken irgendwo im Raum Halle / Leipzig zurück, sondern auf logistische Netzwerke, gemeinsame Ressourcen und am Ende auch die Kompaktheit der Region.

Schröter benennt die so wichtige Rolle als Transitraum Richtung Osteuropa. Tobaben verweist auf die Ursache für die Wahl eines gemeinsamen Büroortes in der Leipziger Schillerstraße: Beide Initiativen definieren sich wirtschaftlich. Und in Sachen Wirtschaft kann man nur gemeinsam weiterkommen. In den aktuellen Wettbewerben ist jedes einzelne Bundesland für sich wirtschaftlich zu schwach.Der Aufruf “Re:formiert Euch!” hat durchaus einen Adressaten. Drei in diesem Fall. Und exemplarisch dafür steht das länderübergreifende Projekt der Lutherwege, die die Wirkungsstätten Martin Luthers im mitteldeutschen Raum touristisch miteinander verknüpfen. Sachsen ist spät gestartet mit seinem Lutherweg, aber diese große Wanderlandschaft – nicht nur für überzeugte Protestanten – zeigt auch, wie kompakt die Region ist, wie leicht man sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad erkunden kann, wie dicht das Netz der Knotenpunkte ist.

Tobaben erinnert an seine guten Erfahrungen mit der Metropolregion Hamburg. Der Unterschied ist signifikant und macht es den Akteuren in Mitteldeutschland auch so schwer: Die eine, alles zentrierende Großstadt gibt es nicht. Es gibt zwei große Wachstumskerne (Dresden und Leipzig) und ein halbes bis ganzes Dutzend von Groß- und Mittelstädten, die die Initiativen zersplittern.

Oder – das wäre eine andere Interpretation – das Ganze mit eigenen Facetten anreichern. Was sogar eine Chance wäre. Für modernes Denken. Und man ist ganz fix bei Luther. Denn seine Reformation der erstarrten Kirche verzichtete von vornherein auf eine zentrale Metropole, wie sie Rom in der katholischen Kirche bis heute ist. Wittenberg wurde zwar gern als “das neue Rom” bezeichnet, aber in Wirklichkeit muss man nicht hinpilgern, um den Protestantismus in seinem Wirken zu erleben. Denn dadurch, dass er das Glaubensbekenntnis von einem zentralen Kirchenoberhaupt in Rom unabhängig macht, wird der Protestantismus zu einer Denk-Software, die überall wirksam wird, wo sich Menschen dazu bekennen. Was übrigens ein nicht unwesentlicher Teil der erfolgreichen westlichen Zivilisationen ist. Dass dabei bei einigen Leuten die Verantwortung für ihre Mitmenschen und die Schöpfung verloren ging, gehört zum Drama der modernen Welt.

Aber das heißt ja nicht, dass man es in Mitteldeutschland genauso machen muss.

Dass sich die Heftmacher dafür entschieden, Luther so einen breiten Raum einzuräumen, besagt zumindest, dass sie sich der Frage durchaus bewusst sind: Für wen macht man eigentlich Wirtschaft? Wem soll es nutzen? Und welche Werte vertritt man dabei?

Eigentlich schwant einem bei diesem ganzen Thema Luther, dass hier auch der Keim für ein neues Wirtschaften stecken könnte, wenn Verantwortliche in Politik und Wirtschaft nur diesen Mut hätten. Vielleicht sogar, mit Plakat und Hammer und Nägeln hinzugehen und 95 neue Thesen an eine Kirchentür zu nageln. Das könnte durchaus ein Professor sein wie 1517, vielleicht sogar einer der Wirtschaftswissenschaften, der in 95 Thesen erläutert, wie modernes, vernetztes und nachhaltiges Wirtschaften aussehen kann. Und dass Mitteldeutschland die besten Voraussetzungen dafür hätte, wenn denn alle akzeptierten, dass man da zusammenarbeiten muss.

Das Ausrufezeichen auf dem Titelbild sollte wirklich nicht überlesen werden. Es ist wichtig.

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