Lernen am außerschulischen Ort. In der angestrengten Vorweihnachtszeit wird diese Möglichkeit der Exkursion – raus aus der Schule – von Lehrern und Schülern mehr als dankbar angenommen. Auch – oder gerade – wenn es an den klassisch-humanistischen Ort im Osten Deutschlands geht. Weimar. Rechtzeitig zum Wechsel in die Adventszeit, vielleicht kein schlechter Moment, den Jugendlichen einen gedanklichen Brückenschlag zu den Ideen der Aufklärung in der „Sattelzeit der Moderne“ (in der Literaturwissenschaft auch „Goethezeit“ genannt) zu ermöglichen.
Was hat euch am meisten beeindruckt? Fragte ich hinterher. Die Berichte reichten vom Beschreiben des opulenten Goethehauses am Frauenplan bis hin zum stillen Staunen beim Betreten von Schillers Arbeits- und Sterbezimmer. Jemand fand es befremdlich, dass in der Nähe des Nationaltheaters die zwei größten Kaufhäuser der Stadt die Namen des verehrten Dichterpaares trugen, aber, es würde wohl auch in die Zeit der heutigen Spätmoderne passen, meinte der Schüler anschließend klug-augenzwinkernd zu mir. Nicht ganz falsch und alles immer ganz wirklichkeitsnah betrachtet. Solche jungen Denker brauchen wir heute.
Am Goethe/Schiller-Denkmal vor dem Nationaltheater erklärte ich ihnen noch einmal das Bild aus dem Geschichtsunterricht, als 1932 die Nationalsozialisten versuchten, das „klassisch-deutsche Nationalerbe“ für ihre ideologischen Zwecke zu vereinnahmen und zu missbrauchen. „Das wussten wir doch schon.“ Ja, richtig, das kannten sie. Ebenso die Geschichte vom Anfertigen der Duplikate des Mobiliars aus Schillers Arbeitszimmer, die, um vor Bombenangriffen der Alliierten geschützt zu werden, von Häftlingen aus dem nahegelegenen KZ Buchenwald hergestellt wurden.
Durchaus kritisch sollten sie die beiden Dichterfiguren sehen. Dass auch große Geister bisweilen existenziell zu kämpfen haben (Schiller) oder sich in Ämterhäufung und Machtnähe poetisch zu verzetteln drohen (Goethe). Auch Dinge hervorbrachten, die nicht immer die ethisch-moralische Besserung des Menschen im Blick hatten (Schiller: „Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.“), sondern sich die Fähigkeit zur Augenblicksfreude bewahren und das Romantisieren alljährlicher Rituale genießen konnten.
Man denke nur an Goethes „Gefunden“, Ausdruck vorurteilsfreier Neugier und beinahe kindlichem Staunen. Wunderbar einfach. Große Kunst. Es macht Freude, den Jugendlichen die immer wieder neuen Empfindungen und gedanklichen „Goldfunde“ beim ständigen Betrachten mitzuteilen. Sie selber stellten die Parallele zu Goethes Sammelleidenschaft später her, die den Weimarer Dichtergott stein-reich machte. Sehr gut.
Hat Goethe eigentlich auch ein bedeutendes Weihnachtsgedicht geschrieben? Ganz bestimmt, es musste nur „gefunden“ werden. Und kurz darauf stieß ich auf die folgenden Zeilen …
Bäume leuchtend, Bäume blendend,
Überall das Süße spendend,
In dem Glanze sich bewegend,
Alt und junges Herz erregend –
Solch ein Fest ist uns bescheret,
Mancher Gaben Schmuck verehret;
Staunend schaun wir auf und nieder,
Hin und her und immer wieder.
Aber, Fürst, wenn dir’s begegnet
Und ein Abend so dich segnet,
Daß als Lichter, daß als Flammen
Vor dir glänzten allzusammen
Alles, was du ausgerichtet,
Alle, die sich dir verpflichtet:
Mit erhöhten Geistesblicken
Fühltest herrliches Entzücken.
Ich hielt kurz inne. Ob sich diese „Altherren-Romantik“ als Lernobjekt für 16jährige Schüler eignen würde? Eher kitschige Weihnachts-Über-Erwartungen poetisch potenzieren würde? (Immerhin: Nur „mancher“ verehrt den „Gaben Schmuck“.) Doch dann fiel mir Goethes kulturanthropologische Diktion ein. „Jeder neue Gegenstand wohl beschaut schließt ein neues Organ in mir auf.“
Überdies weisen diese Verse bereits auf den „Osterspaziergang“ des noch zu unterrichtenden „Faust“ hin, dachte ich. Natürlich – Feste, das „alte und junge Herz erregen“ – sie vermitteln den Eindruck des notwendigen Lichts und der friedlichen Harmonie in der Welt. Aber vor allem sind sie Haltepunkte und Wechselmomente hin zur Besinnlichkeit, gerade für solche unter uns, die sonst am Nachdenken über „Gott und die Welt“ verzweifeln würden. Von Goethe mit beobachtender Natürlichkeit und ordnungsliebender Weisheit beschrieben ist dieses Alters-Kleinod (1822 verfasst) durchaus klug und somit lesenswert.
Alles etwas zu unkritisch, fand ich. Dagegen muss etwas Aufregend-Provozierendes als Kontrast entstanden sein. Was die von Goethe so hell beschriebenen Festromantik nicht erschüttert, aber dennoch „sagt, was ist“ und weitersehen will. Kritisch-reflektierter als weihnachtlich beschriebene Kleinstadt-Idylle. Vielleicht die oft so „unromantische“ Großstadt als „Gegenstand wohl beschaut …“ Mit Einblick in die konsumorientierte Säkularisierung der Heiligen Nacht? Also, auf zu Kurt Tucholsky und seiner „Groß-Stadt-Weihnacht“, ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Ein Lyrikexperiment. Expressionismus und Romantik. Tucholsky und Goethe.
Nun senkt sich wieder auf die heim’schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.
Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glasé.
Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
„Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!“
Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,
mag es nun regnen oder mag es schnein,
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.
So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden …
„Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.“
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