November, beginnende Vorweihnachtszeit. Man sollte ihn auch anders sehen, diesen vorletzten Monat im zu Ende gehenden Jahr. Nämlich als einen mit den wichtigen politischen Entscheidungen des Jahres. Nicht erst der finale Stromausfall der Ampel – nur kurz dem Energiekollaps der Biden-Harris-Regierung folgend – lassen den November zum deutschen „Geschichtsmonat“ werden.

Ja, eigentlich brauchte niemand diese wenig überraschenden Hiobsbotschaften für die stets als Idealbild gezeichneten Demokratien des Westens, die partnerschaftlich miteinander verbunden sind. Deutsche und Amerikaner, sie rieben sich Anfang November lediglich ob der Schnelligkeit der demokratischen „Ausfallerscheinungen“ die Augen. Überraschend kam weder Trumps Wahlsieg noch die provozierte Verabschiedung des (neo-)liberalen Finanzministers Lindner.

Unklar bleibt trotzdem, wohin die Reise mit den neuen deutschen und amerikanischen „Neo-Cons“ dann gehen wird. Hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit? Offenbar nicht. Denn die wird sicher nicht im Kanzleramt oder Oval Office beschlossen, das würde auch nicht so ganz zur Staatsauffassung der neuen Regierungschefs passen. Einen sozialen Merz wird es auch im neuen Jahr aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geben.

Turbulente Wochen stehen uns bevor, nach Jahrzehnten der Bonner „Schaufensterrepublik“ (CDU-Slogan 1957: „Alle Wege führen nach Moskau!“), der Berliner Wiedervereinigungsrepublik nach 1990 (CDU: „Freiheit statt Sozialismus!“) haben die periodisch aufeinander folgenden Krisen, Pandemien und zunehmenden Kriegsgefahren zu einer Art Schüttellähmung des bürgerlichen Parteien- und Staatswesens geführt. Mit starker Tendenz zu rechtsautoritären Rehabilitierungsversuchen. So, als müsse man sich nicht mehr vor irgendjemanden beweisen, verantworten oder rechtfertigen.

„Right or wrong – my country“, der angelsächsische Patriotismus bekommt gefährliche Züge im laufenden Zeitalter des Kampfes um Einflusssphären und ökonomisch wertvolle Rohstoffe. Europa ist da keine Ausnahme, auch wenn sich deren herrschende politische Klasse unablässig bemüht, das Bild der Verteidigung von Freiheit und Demokratie schönzufärben. Unklarheit, Misstrauen und Ängste bestimmen manifest die kontinentale Atmosphäre, leidlich gut, wenn es dabei den großrussischen Wladimir als omnipräsentes Feindbild gibt.

Soziale Abstiegsängste und rechtsradikale Tendenzen sind – nicht nur in unserem Lande – älter als das „Ukraine-Abenteuer“ des Präsidenten aus Moskau. Oder? Daher wirkten nicht nur die innenpolitischen Erklärungen des Bundeskanzlers zum Koalitionsaus eher dünn und hervorgeholt, die Verantwortung lediglich auf Fremdes verschiebend.

Gedankensprung. Historischer Rückblick. Die bedeutenden Ereignisse in früheren Novemberzeiten standen stets symbolisch für Umbrüche oder Kulminationspunkte in Politik und Gesellschaft. Nicht immer verhießen sie zukünftig Gutes. Freilich war der Mauerfall insofern ein Glückfall, als er die Überfälligkeit des Scheiterns einer Systemalternative geradezu augenscheinlich zeigte. Mauern wurden beseitigt. Das kann niemals schlecht sein.

Der 9. November 1989 markierte schon deshalb einen Wendepunkt, dass die Menschen nicht mehr zurückgehalten werden konnten, auf dem Wege des aufrechten Ganges in eine neue Gesellschaft. Zunächst noch als reformierte DDR gedacht, verlor sich die zunächst homogene Opposition rasch in zersplitterte und machtlose Erneuerungs- und Autonomiemahner, die bald eine gesellschaftliche Minderheit darstellen sollten. Die Mehrheit schloss sich im Taumel der materiellen Freiheits- und Wohlstandsaufholjagd überstürzt dem westdeutschen Erfolgsmodell an, da brauchte man gar keine Volksabstimmung über Beitritt (Artikel 23) oder Wiedervereinigung auf Augenhöhe (Artikel 146 GG). Die Messen waren gelesen.

10 Jahre „Test the West“-Aufbruchstimmung im Osten, bis durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 die relative Unbeschwert- und Sorglosigkeit mit Blick auf eine sichere Zukunft verschwand. Die folgenden Jahre ließen uns alle eher ernüchtert zurück, wie schon erwähnt: Krisen, Klimaveränderungen, Kriege – die Ergebnisse des Wandels nach 1989 waren alles andere als unbeschwert zu ertragen.

Man mag einwenden, dass meine kurze Schilderung der Ereignisse geschönt daherkommen; die dem 9. November ebenfalls zuzuordnenden Ereignisse des Jahres 1938/39 und die des Jahres 1923 laufen aber noch weniger Gefahr, Teil einer Erfolgsgeschichte zu sein. Die brutalen Übergriffe auf die jüdischen Mitmenschen 1938 am 9. des Novembers gehören sicher zu den „Dark Sides“ unserer Geschichte, markieren auch hier einen Wendepunkt im dunkelsten Kapitel Deutschlands, weil diese von Goebbels gefeierten Pogrome ihresgleichen suchten – keine Diktatur war schlimmer als die nationalsozialistische.

Ein kurzer Rückgriff auf die Vereinigungsgeschichte der letzten 35 Jahre sei an dieser Stelle gestattet. Im Vergleich beider November wird das Makabre der Gleichsetzung beider Diktaturen nach 1933 besonders deutlich. Das Wort „Pogrom“ konnte man mit der DDR nun wahrlich nicht verbinden, das konnte selbst der Geschichtsrevisionismus nach 1990 nicht herbeikonstruieren, wenngleich der Unterschied zwischen National- und Realsozialismus hätte wesentlich größer sein müssen. Keine Frage.

Ein deutsch-österreichischer Populist, geistig verwirrt aus dem Weltkrieg heimgekehrt, hatte sich im Schatten des Weltkriegsgenerals Ludendorff am 9. November 1923 in den Kopf gesetzt, nach dem Vorbild des italienischen Faschisten Mussolini von Bayern aus den „Marsch auf Berlin“ zu starten. Zu früh für die kriegsmüden Massen, die noch zu wenig dem halbdemokratischen Charakter der Weimarer Republik misstrauten und der landesweite Leidensdruck trotz Hyperinflation scheinbar (noch) nicht groß genug war.

Adolf Hitler wurde am 9.11.1923 ordnungsgemäß verhaftet und vor ein Gericht gestellt. Allerdings begann mit dem folgenden Prozess und der Anklage wegen „Landes- und Hochverrat“ auch der kometenhafte Aufstieg des „Führers“, der sich zur Verblüffung der Mitangeklagten und vor der gesamten sensationsgierigen Presse selbst für „schuldig“ erklärte. Einige Jahre später konnte er seine gefallenen Mitverschwörer und den 9.11. als den Tag des „Beginns der nationalen Erhebung“ ehren. Faschistischer Pomp und Pathos inklusive. Und das gesamte Volk stand ehrfürchtig Spalier für den wirklichen „Volksverräter“.

Bis auf wenige, ganz wenige, die sich trauten, zu hinterfragen, zu protestieren, etwas gegen die Barbarei in deutschem Namen zu tun. Zu ihnen gehörte der 36jähre Schreiner Georg Elser, der sich im Münchener Bürgerbräukeller wochenlang die Knie wund arbeitete, um eine tödliche Sprengladung im Interieur des Kellers zu verstecken, die den skrupellosen Naziherrscher töten sollte. Umsonst. Hitler fuhr eine Viertelstunde vor der Detonation vom Versammlungsort ab. Elser wurde nach grausamen Verhören und dem Martyrium der Lagerhaft später umgebracht.

Nach dem „Tag der Schande“ 1938 war der 9. November ein Jahr später ein Tag vergeblicher Hoffnung. „Unklare Turbulenzen“ – die Überschrift bezeichnet ungenau die Folgen des misslungenen Elser-Attentats 1939. Der historische Blick auf den Schicksalsmonat zeigt vielmehr die Notwendigkeit der Befreiung von Populismus jeglicher Art – er ist ein Plädoyer für Menschenwürde und Willen zum friedlichen, sozial gerechten Zusammenleben von Menschen und Völkern.


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