โ€žNiemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine groรŸe Tat tun will.โ€œ So steht es รผber dem Eingang des Evangelischen Predigerseminars in Wittenberg. Der Lutherstadt, in der seine Worte im Jahre 1517 nicht nur eine theologische Revolution einleiteten, sondern geradezu welthistorische Bedeutung erlangten. Ich selbst als DDR-sozialisierter Atheist las diese Zeilen vor einigen Jahren zum ersten Mal in einer Autobiografie.

Unter dem Balken mit eben diesen Worten war auf der Fotografie Friedrich Schorlemmer als junger, dynamischer Theologiedozent zu sehen. Als Streiter fรผr Humanismus, Pazifismus und Toleranz unter den Menschen.

Ich erinnerte mich gleich an den legendรคren Auftritt Schorlemmers am 4. November 1989 โ€“ dem Hรถhepunkt der demokratischen Revolution in der DDR โ€“ auf dem Berliner Alex, wo er vor Hunderttausenden von hoffnungsvollen Menschen โ€“ wieder mit einem Wort Martin Luthers โ€“ den freien und selbstbestimmten Dialog anmahnte. โ€žLasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fรคuste haltet still.โ€œ

2018, in den Osterferien, hatte ich dann das Glรผck, ihn selbst kennenzulernen. Friedrich Schorlemmer war meiner Einladung zu einer โ€žSchillerakademieโ€œ an meiner Schule gefolgt. An einem Freitagnachmittag wollten wir mit interessierten Jugendlichen ins Gesprรคch kommen: โ€žFรผr welches Leben lernen wir?โ€œ

Zuvor hatte ich ihn in Wittenberg angerufen. Eine leise, irgendwie intellektuell klingende Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. โ€žSchorlemmer, hallo?โ€œ Ich stellte mir sofort einen Denker vor, umgeben von Hunderten Bรผchern in seiner faustischen Studierstube.

Friedrich Schorlemmer 2018 in Leipzig. Foto: LZ
Friedrich Schorlemmer 2018 zu Gast in Leipzig: Vergangenen Montag starb der Bรผrgerrechtler, Theologe und Publizist mit 80 Jahren. Foto: LZ

โ€žSchorlemmer, hallo? Schรถn, dass Sie sich melden.โ€œ Er selbst hatte sich diese Telefonabsprache nach dem vorangegangenen Briefwechsel gewรผnscht. Empfahl mir im Gesprรคch und zu meiner Vorbereitung auf unser Treffen ein Buch, nicht von Luther, sondern von einem tschechischen Theologen und Philosophieprofessor โ€“ Milan Machovec. Es traf die Intention unserer von mir mit Ehrfurcht erwarteten Begegnung. โ€žVom Sinn menschlicher Existenzโ€œ.

Mit Spannung erwartete ich den Ferienfreitag im April 2018. Als ich ihn vom Leipziger Hauptbahnhof abholte und ihn zum Auto brachte, konnte ich mich kaum zurรผckhalten, ihn auszufragen. Wir hatten noch gut zwei Stunden Zeit bis zum Beginn der Veranstaltung in der Aula des Gymnasiums.

Wie sind Sie so geworden, dass Sie so zeitig wussten, dass das sozialistische โ€žExperimentโ€œ DDR in einem repressiven Obrigkeitsstaat enden musste? Woher haben Sie die Kraft genommen, gegen ein รœberwachungssystem zu stehen, zu kรคmpfen? Mir fiel seine mutige Aktion vom 24. September 1983 ein, als er โ€“ passend zum Lutherjahr โ€“ auf dem Schlosshof zum Wittenberg das Umschmieden eines Schwertes zu einer Pflugschar initiierte und damit weltweit berรผhmt wurde.

Schorlemmer antwortete mir ganz unprรคtentiรถs in seiner bassstimmigen Art. โ€žIch bin eben so groรŸ geworden, mir selbst zu vertrauen und auf das Wort Martin Luthers. Der Gerechte wird aus dem Glauben leben.โ€œ Das fand ich so grandios, weil selbstbestimmt denkend. Sein eigenes Gewissen immer als MaรŸstab fรผr sozial gerechtes Handeln zu nehmen, egal, ob es den Herrschenden passt.

Erst spรคter erkannte ich die geistige Verbindung zu den Worten Hannah Arendts, die als Theoretikerin eines aufgeklรคrt-demokratischen Bewusstseins den staatsbรผrgerlichen Grundsatz formulierte: โ€žNiemand hat das Recht zu gehorchen.โ€œ Jede Herrschaft ist kritisch zu reflektieren, zu jeder Zeit, weil sie รผber Macht und die Instrumente der Herrschaft verfรผgt. Zu jeder Zeit.

Ganz kurz vor der geplanten Veranstaltung schnell noch die Frage, welche Bibelstelle aus dem Neuen Testament denn unbedingt mit jungen Menschen im Unterricht zu diskutieren sei, weil sie den gedanklichen Transfer in die Gegenwart erlaube. Brummig-knapp die Antwort: โ€žGanz klar Matthรคus 20. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.โ€œ Parallel lieรŸe sich Schillers Maria Stuart aus der gleichnamigen Tragรถdie zitieren: โ€žDenkt an den Wechsel alles Menschlichen.โ€œ

Apropos Schiller. Ich wusste aus meinem Vorstudium, dass Schorlemmer auch ein ausgewiesener Schiller-Experte war. Auch Vortrรคge zum Weimarer Klassiker anbot. Also lag die Frage nahe, was man den Schรผlern des Friedrich-Schiller-Gymnasiums aus dem Gesamtwerk des Stรผrmers- und Drรคngers noch vorstellen sollte. Auch hier wusste Schorlemmer sofort, was ich von ihm wollte. Passend zur Frage spazierten wir einige Minuten dazu im Garten des Schillerhauses an diesem frรผhen Frรผhlingsnachmittag.

โ€žโ€šVor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht โ€“ vor dem freien Menschen erzittert nichtโ€˜, heiรŸt es in den โ€šWorten des Glaubenโ€˜, Herr Jopp.โ€œ Aha, alles klar. Jetzt aber schnell zur Schule, auf zur Diskussion. โ€žWie viele werden denn kommen? Mit Herrn Gysi bin ich momentan viel unterwegs, die Sรคle sind immer voll.โ€œ Ich druckste herum. โ€žSchauen wir mal.โ€œ

Es wurde ein unvergesslicher Nachmittag zwischen 14 und 16 Uhr. Die Schulaula war voll, auch ร„ltere, Lehrer, Eltern und โ€žZivilistenโ€œ saรŸen im Publikum. An meine zitternde Stimme und trockene Kehle bei der Vorstellung des Gastes kann ich mich noch gut erinnern. Wir sprachen รผber so viel: Politik, Alltagssorgen, christlichen Sozialismus, das Kommunistische Manifest und natรผrlich Schiller. Erstaunlich locker, wie wir uns die Bรคlle zuspielten.

Der groรŸe Oppositionelle aus der DDR, Theologieexperte, Philosoph โ€ฆ und der Deutsch- und Geschichtslehrer, der die Fragen stellte. Zwischendurch zitierte Schorlemmer irgendeinen Schiller-Vers und fragte mich unvermittelt, woher das denn stamme. Dieses Schlitzohr. Er leide manchmal unter Wortfindungsstรถrungen, offenbarte er mir spรคter in seinem Dankesschreiben fรผr diese gelungene Lehrer- und Schรผler-Weiterbildung.

Letztere wollten den damals 74-Jรคhrigen kaum gehen lassen, der einen Anschlusstermin bei der โ€žStiftung Friedliche Revolutionโ€œ in der Nikolaikirche hatte. โ€žDie kรถnnen schon noch ein bisschen wartenโ€œ, sagte er zu mir, als ich ihn inmitten einer Schรผlertraube zum Aufbruch drรคngte.

Mit leichter Zeit- und Geschwindigkeitsรผberschreitung konnte ich ihn dann gegen 16:30 Uhr in unmittelbarer FuรŸweg-Nรคhe an der Nikolaikirche absetzen. Glรผcklich und dankbar. Ich meinte, ein zufriedenes Lรคcheln auch auf seinem Gesicht entdeckt zu haben.

Letzten Montag, am 9. September, ist Friedrich Schorlemmer mit 80 Jahren in Berlin gestorben.

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