Noch funktioniert sie, die Kurzzeit-Erinnerung. Ich hatte mir zu Jahresbeginn versprochen, mir nichts mehr zu versprechen. Die meisten Selbst-Versprechen sind sowieso in spätestens 4 Wochen nach der Silvester-Euphorie nur noch Makulatur. Altes aufgeben, das Neue anfangen – nervt nach einer Weile nur noch, und man läuft als selbstbeschränktes Zwangsobjekt durch die Welt.
Und doch bleibt das Versprechen ein Problem, kommt immer wieder neu. Und sei es um die eigene Glaubhaftigkeit willen. Unteilbar bleibt sie mit der selbstempfundenen Menschenwürde verbunden. Mal eine andere Perspektive auf den Artikel 1 unseres Grundgesetzes.
Aber um die nicht eingehaltenen Selbst-Versprechen soll es hier gar nicht gehen. In der Sommerhitze sah man abends Menschen aus Autos krabbeln – Plakate politischen Inhalts hinter sich hertragend – immer öfter und unermüdlich im Einsatz. Diese Mini-Aktionsgruppen wirkten wie kleine subversive Einheiten im Einsatz für eine gute Sache. Aus ihrer Sicht, zeigten die Gesichter, war es auch gut.
Natürlich: den Pluspunkt des demokratischen Engagements bekommen sie in jedem Fall. Wer riskiert schon gerne misstrauische Blicke „Was hängen die da jetzt auf?“ oder im schlimmeren Fall auch schlimmere „Anfragen“ und Attacken.
Nur … man fragt sich beim Betrachten der Plakate und aufgestellten Holzwände in den Kreuzungsbereichen – was will der plakatgestaltende Künstler oder vielmehr die Person mir sagen? Manchmal gar nichts, manchmal alles auf einmal, manchmal sehe ich nur ein Porträtfoto, bei dem man sich fragt: Wer ist das? Auffallend bei den Nominalphrasen auf vielen Wahlplakaten ist das lokalpatriotische „M“. Steht oft für „Mein Leipzig“.
Abgelöst vom wachstumsorientierten „M“ – da will die Partei offenbar „Mehr Lehrer“ – bis hin zum Ärmel hochkrempelnden „M“ für „Machen was zählt“. Die mit Abstand besten Wortspielereien, mit semantischen Pirouetten gewürzt, gibt es aus der politischen Ecke der rhetorischen Wirtschaftsmotoren. Der FDP. „Techno-Technologie“ oder „Wird schon-Wirtschaft“ klingt echt putzig, wahrscheinlich soll es querdenkend (falsches Wort) pointiertes Kreativschaffen als Markenkern verkaufen. Wer weiß das schon so genau.
Aber vielleicht ist das eine seriöse Betrachtung, Analyse oder Untersuchung wert: Wie steht es eigentlich um den Aufmerksamkeits- und vor allem Aufnahmegrad der an-geworbenen Bevölkerung? Oder geht es ganz zuletzt gar nicht darum, sondern vielmehr um eine „Offline-Demonstration demokratischer Vielfalt“? Ohne Wahlplakate würde uns etwas fehlen? Ich bin mir nicht sicher, wie eine klare Antwort aussieht.
Auffallend sich auch die Farb- und (partiellen) Inhaltsvariationen, je weiter man „aus der Stadt hinaus aufs Land“ kommt. Da fallen die virtuellen Schlagbäume der alten urbanen Grenzen, wenn man wie ich zu den älteren Semestern gehört. Und es wird zusehends blauer. Aber auch grau-grüner. Klar, kein Wunder, werden sie vielleicht sagen. Nachvollziehbare soziale, linke Forderungen auf blauem Untergrund … da schaut man erstmal verdutzt. Man liest sie beispielsweise in Mölkau und Engelsdorf. „Kostenloses Mittagessen für Kinder“ oder „Frieden gibt es nur mit uns“.
Ja, das weiß man doch. Erklärt sich aus der Typologie des Rechtspopulismus. Allen wird alles versprochen. Geschichtsunterricht. Rechte haben kein originäres Programm, sie geben sich sozial, vorbehaltlich national, um Stimmen zu fangen und hetzen andererseits gegen Schwächere und Minderheiten. Sie sind diejenigen, die sich am wenigsten um die Einhaltung ihrer scheinsozialen Wahlversprechen kümmern, sobald sie politische Macht bekommen. Es steckt etwas zutiefst Inhumanes und sozial und national Klassifizierendes in ihrer Ideologie, menschlicher Lebenswert wird unterschiedlich verteilt bzw. zugestanden.
Das ist schwer zu begreifen, weil es den Keim des Kampfes der Menschen untereinander in sich trägt, auch wenn das die Parteiführer vehement bestreiten würden. Dabei gibt es ein riesiges „Mehr“ an Versprechen, was sich dabei noch wie soziale Gerechtigkeit anhört. Natürlich ist es nur ein Mehr an Demagogie. Aber sie ziehen aus der unzufriedenen Wut der Menschen ihre (kontinuierlich vorhandene) Zustimmung, sind am besten in der kritischen Destruktion … nur, warum ist das so und kaum zu verhindern? Trotz immer weiter gehender Verbote und juristischer Kampfansagen?
Ganz offenbar ist diese Entwicklung hin zu einer ständig wachsenden Sympathie für alles Rechte nicht nur mit der „demokratischen Unfähigkeit“ des „undankbaren Ostens“ zu erklären. Wie es die urbane, linksliberale, intellektuelle Bohème pausenlos den verunsicherten Wechselwählern erklären will. Da ist dem Philosophen Richard David Precht („Ach der!“) zuzustimmen, der den AfD-Aufstieg als Folge einer Entwicklung und nicht als deren Ursache oder Auslöser beschreibt.
Bürgerlich-opportunistischer Rechtspopulismus „setzt“ sich auf gesellschaftliche Probleme „drauf“, verstärkt sie – ja – erklärt sie natürlich „unterkomplex“ und stiftet damit demokratischen Unfrieden.
Aber die Ursachen von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen liegen immer zuallererst bei den politischen Verantwortlichen, den Repräsentanten politischer Machtverhältnisse oder Sachwaltern wirtschaftspolitischer Interessen. Die über die Mediengewalt verfügen, den Staat lenken.
Sie haben bestimmte Tendenzen gefördert oder gebremst, sozialpolitische Entscheidungen getroffen, außerparlamentarische Gruppen und Interessenverbände geschätzt oder abgelehnt … die Funktions- bzw. Aufgabenpalette einer herrschenden Regierung ließe sich beinahe endlos fortsetzen.
Mit einem „Eigentlich ist alles gut (ihr müsst es nur kapieren)“ /„Wir brauchen Mehr von dem und dem“/„Ich gehöre zu euch allen“ oder „Wir müssen nur einfach dies und das machen“ wird man der Fehlentwicklung einer zunehmenden Demokratiemüdigkeit nicht erfolgreich begegnen können. Und mit dem anklagenden Fingerzeig auf andere auch nicht.
Stattdessen braucht es ein „Mehr“ an realistischem Selbstversprechen, Reflexion und ehrlicher Machbarkeitseinschätzung. Alles andere sind nur mehr Versprechen, die den Niedergang der Demokratie beschleunigen. Weil sie leer bleiben (müssen).
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