„Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann, wir haben schon lange so keinen gehabt.“ Stellt der Polizeidiener in seiner ironischen Emphase zum Abschluss des letzten Kapitels im Drama „Woyzeck“ (unvollendet, 1837) fest. Überrascht von der brutalen Tat des traurig verrückten Soldaten und gequälten Obrigkeitsdieners ist nicht nur er, niemand hatte dem armen Franz W. die verzweifelte Entschlossenheit zugetraut, seine geliebte Marie zu töten.
Georg Büchner (1813–1837) war sehr gut mit den Missverhältnissen der sozial Unterprivilegierten in der spätfeudalen Restauration vertraut – 1833 hatte er den „Hessischen Landboten“ („Friede den Hütten – Krieg den Palästen!“) verfasst und damit in den deutschen Fürstentümern für Aufsehen und Unruhe gesorgt – mit seinem letzten unvollendeten Werk ging er aufs Ganze. Amok läuft sein Dramenheld Franz Woyzeck (stark angelehnt an das historische Vorbild gleichen Nachnamens) zwar nicht, tötet „nur“ aus Eifersucht, aber er ist auch nicht mehr in der Lage, die ihm zugefügten sozialen Demütigungen herunterzuschlucken, zu ertragen oder gar zu sublimieren.
Sich in einen transzendenten, religiös motivierten Humanismus zu retten. Wie es noch die klassischen Vorbilder von Medea bis Maria Stuart getan hatten und sich zu „stiller Einfalt und edler Größe“ höherentwickeln konnten. Der bürgerliche Idealismus („Schone fremde Freiheit – zeige selbst Freiheit!“) war mit dem heraufziehenden Liberalismus und spezifisch deutschen Spielart eines Feudalabsolutismus in seinen kapitalistischen „Kinderschuhen“ überfordert.
Das war nicht mehr mit Aufklärung und humanistischer Ethik allein auf der Bühne zu besiegen, die Abgründe menschlicher Entfremdung in einer ungerecht bleibenden Gesellschaftsordnung nicht mehr mit den inneren Kämpfen historischer Denkmäler wie etwa beim Weimarer Klassiker Schiller zu beschreiben. Schillers Wallenstein- und Johanna von Orleans-Tragödien verschwanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam aber sicher von der Bühne; der neue entstehende, urbane 4. Stand im Zuge der kapitalen Industrialisierung 1.0 rückte stärker ins Bild progressiver Intellektueller wie Heinrich Heine oder eben Büchner.
Büchner an die Familie, 28.7.1835: „Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Thun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller.“
30 Jahre waren nach dem Tode Schillers vergangen, als Büchner dies äußerte. Zur selben Zeit begann ein junger Bursche im Rheinischen das Studium der Rechtswissenschaften, das sich relativ rasch zu einem Interesse an Philosophie und politischer Ökonomie entwickelte. Karl Marx hieß der um 5 Jahre jüngere Büchner-Verehrer, der später präzise die sozialökonomischen Gründe für die psychosoziale Deformation des armen Franz Woyzeck erkannte und formulieren konnte.
Es sind die Verhältnisse, die die Menschen zu dem machen, was sie sind. Die gewaltigen Fortschritte, welche der Wirtschaftsliberalismus mit seinen „kolossalen Produktivkräften“ (Marx) erzielte, waren mit einem Klassenkompromiss mit dem herrschenden Partikularadel „herbeigedealt“, Verfassung und Menschenrechte galten zunächst nur für die diejenigen, die sie sich leisten konnten.
Für Woyzeck waren die bürgerlichen Fortschritte, die im zähen Ringen mit den sich an alte Macht klammernden Feudalmächten erzielt wurden, leere Worte, Demagogie, ganz zuletzt Herrschaftslegitimation. Die sich neu entwickelnde selbstbewusste bürgerliche Intelligenz konnte die politischen Ziele zwar in Richtung nationale Einheit definieren, soziale Gerechtigkeit bis in die letzten „Hütten“ aber nicht durchsetzen. Sie wollte es wohl auch nicht.
Somit musste Büchner mit Franz Woyzeck einen sozialen Außenseiter zum Haupthelden seines letzten Dramas beinahe naturalistisch erfahr- und nahbar gestalten. Der lässt sich zunächst alle Demütigung der Systemvertreter (Hauptmann, Doktor u.a.) gefallen, wirkt mal geistig abwesend und weltlich entrückt – „Hauptmann: Ich spür’s schon, ’s ist so was Geschwindes draußen; so ein Wind macht mir den Effekt wie eine Maus. (Pfiffig.) Ich glaub’ wir haben so was aus SüdNord. – Woyzeck: Jawohl, Herr Hauptmann“ – dann im nächsten Moment desillusioniert über die Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz und der Macht bürgerlicher Tugendethik zu sinnieren.
Bestehen Existenzängste oder -zwänge, ist es auch mit menschlicher Wärme und Empathie nicht weit her. So klingt es auch irgendwie traurig, wenn einem das armselige Schicksal Woyzecks begegnet. Einem eine seltsam-natürliche, von Büchner schonungslos gestaltete Offenheit seines tragischen Helden begegnet.
„Woyzeck: Wir arme Leut. Sehn sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer seinesgleichen auf die Moral in die Welt. Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der anderen Welt, ich glaub’ wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.“
Marx wird später schreiben: „Die Proletarier haben nichts weiter zu verlieren als ihre Ketten.“ Nun, Woyzeck muss noch mehr entbehren. Distanzierte Reflexion, Widerstandskraft gegen überlegene Gegner, bezähmte Eifersucht – der schmucke, im System verankerte Tambourmajor verführt seine Frau – ganz zuletzt wird Woyzeck auch das zum Überleben notwendige Selbstwertgefühl geraubt.
Das ist zu viel für ihn. Er rächt sich an den Falschen, besitzt kein Verständnis für die wahren Ursachen seines ausweglos scheinenden Elends. Traurig aktuell, Georg Büchners „Woyzeck“, womit der mit 24 Jahren jung gestorbene Autor ein zeitloses Werk sozialer Demütigung mit den sichtbaren Folgen geschaffen hat.
Auf Demütigung der Unterprivilegierten folgt nicht selten der Ausbruch unkontrollierter Rache, wenn sich der Gefühlstau trotz papierner Freiheit nicht in praktischen, prosozialen Handlungs(aus-)wegen denken lässt.
10 Jahre nach dem Tode Büchners lag sein „Woyzeck“ noch unentdeckt irgendwo in seinem Nachlass versteckt, in den deutschen Einzelstaaten gärte es nach den Missernten auf dem Lande, die schließlich in revolutionäre Unruhen im Frühjahr 1848 mündeten.
Menschen trauten sich endlich, den feudalaristokratischen Machthabern geballt und auf den Straßen die Stirn zu bieten, sie ließen sich nicht mehr verführen, gefüttert und abgespeist mit politischen Machtresten, die ihnen nur bröckchenweise heruntergereicht wurden.
Gleicher wurden die Menschen nicht, was ihren sozialen Stand betraf, sie waren kurzzeitig demokratisch aktiv in den neu entstehenden National- und Landesparlamenten, bis die alten Feudalmächte Ende der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts wieder Oberwasser bekamen, die Angst vor einer marxistischen Philosophie in der Praxis sie zu einem gemeinsamen Zweckbündnis mit den besitzenden Bürgern brachte. Die Paläste hatten wieder Frieden. Die Hütten niemals. Und die Woyzecks konnte man für verrückt erklären.
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