Es soll erst gar nicht der Versuch unternommen werden, den Sommer in diesem wie in jedem Jahr meteorologisch zu klassifizieren oder zu bewerten. Mir geht es dennoch so, wenn das Jahr sich wendet hin zu kürzeren Tagen und man nach den Sommerferien wieder den Genuss der Urlaubsmomente zu verlieren droht.
Etwas bleibt jedoch immer zu klassifizieren, da es in die nächste Halbzeit des Lehrens und Lernens geht. Wenn es um das Neue, Verunsichernde, Unbeständige und zunächst nicht Erklärbare geht. Nichts ging dieses Mal nach den Sommerferien schnell von der Hand, die bürgerliche „Holiday-Life-Balance“ wurde leicht verfehlt, dass man frisch und erholt sich in neue Arbeit stürzt. Kennt man, werden Sie sagen. Oder zu Recht fragen, was denn „Arbeit“ so allgemein ausmacht … das muss doch jeder oder jede für sich selbst entscheiden. Sie wissen schon.
Neu ist für mich in den letzten Wochen und Monaten gewesen, dass alles um einen herum immer mehr nach Politik riecht, alles politischer (oder politisierter?) wird. Kaum ein Gespräch, das nicht nach dem Generellen, irgendwie nach dem sinnerfüllten Leben fragt, zugleich Orientierungssuche offenbart. Oder darauf hinausläuft. „Das liegt am Gesprächsverhalten Ihrer Alterskohorte, an Ihrem eigenartigen Sozialbiotop“, hörte ich zuletzt. Richtig. Man ist immer selbst so klug, wie man sich fühlt.
Der „Markt“ Demokratie
Richtig ist auch, dass – aus meiner Sicht nicht unbedingt kohortenspezifisch, bei aller Sommerpausenunterbrechung – Gespräche und politische Diskurse etwas beherrscht, das ich als politisch-historischen Gedächtnisverlust bezeichnen möchte. Sich dabei auf der Suche nach demokratischer Haltung ein „Wertewandel“ abzeichnet.
Ja, selbst Werte müssen in Anführungszeichen gesetzt werden, da die sich immer stärker herauskristallisierenden zwei politischen Lager eigene Interpretationen und Definitionen zuordnen, der Bevölkerung hingegen kaum verständliche Lösungen, sondern eher Losungen verordnen.
So als braucht das unruhig werdende Volk kleine Sonderangebote, handlich im Paket, welches fix noch in den Einkaufskampfkorb hineingeworfen wird. Die „marktförmige Demokratie“, von der Ex-Kanzlerin Merkel alternativlos schwärmte, sie nimmt mehr und mehr die Gestalt eines „alternativen“ Reißwolfs an.
Der „Markt“ Demokratie bringt dann eben alles hervor, was sich im Warensortiment des Neoliberalismus so anbieten lässt. Nennt sich „Alternative“ (könnten auch „Die Anderen“ heißen.) Praktisch mit demokratischem „Wahl-TÜV“ verkauft. Bei steigender Nachfrage. Denn „Wir sind das Volk!“
Ex-Geschichtslehrer Höcke ist wie seine Partei ein Meister des Geschichtsrevisionismus und raffinierter Demagogie. Rechts sind dabei nicht nur die Aussagen, schaut man genauer hin und bemüht aufrichtig historische Analogien, so ist es eher ein Methodenkonstrukt, das an protofaschistisches Heran- und Umgehen mit bürgerlichen Demokratieschwierigkeiten erinnert. Und gefährlich ist. Genauso wie die Reaktionsmuster der demokratischen „Brandmauer“ auf der politischen Gegenseite.
Alternativ?
Die sich als ungefähr so wirksam erweisen, wie eine Maginot-Linie der Franzosen vor dem deutschen Überfall 1940. Wo ein Wille ist, das ist (leider) auch ein Weg. Zumal wenn die politischen und bildungsbürgerlichen Demokratieverteidiger eher den Halbschlaf der Selbstgerechten träumen, um anschließend politisches Problem, was „alternativ“ benannt wird, prinzipiell zu ignorieren. Korrekt abgegrenzt, ja. Problem gelöst? Mitnichten.
Die Liebe der AfD-Anhängerschaft mit Blick auf ängstlichen Nationalismus folgt zwangsläufig auf die problematische Internationalisierung der Wirtschaft des bestehenden Gesellschaftsmodells (Kapitalismus – spricht man dieses Wort aus – klingt es schon leicht nach Umsturz).
Die systemimmanenten Struktur- und Gerechtigkeitsdefizite erkennen auch die Höckes, Weidels und Chrupallas – ja, Sie lesen richtig – nur sind die programmatischen und politisch pragmatischen Antworten so gar nicht „alternativ“. Nach dem Nationalismus ist es nicht weit hin zum Chauvinismus. Bis zum „Deutschland über alles“.
Denn das heißt doch schon praktisch das „Unser Land zuerst“ der AfD, oder? Blickt man auf die Geschichte des europäischen Wohlstandskontinents, gibt es für diesen Duktus kaum ein selbstverständlich-moralisches Recht. Keinen immerwährenden Anspruch auf die Pole-Position im Weltwohlstandsranking.
Hier zeigt er sich in seiner vollen Pracht, der historische Gedächtnisverlust. Allerdings nicht nur bei den Demokratiefeinden. Stehen Menschen aus ärmeren Weltteilen vor der deutschen Supermarktfiliale, sollen es bitteschön nur die Hochqualifizierten sein. Wir sind schließlich nicht für die Weltrettung verantwortlich!
Dafür fehlt uns die Vision – jahrelanger Antikommunismus und das bewusste Verwechseln von Realität und Utopie (west-)deutscher Geschichtsdeutung erleichtern dies – und so konzentrieren wir unsere kritische Mixtur aus Wut und Resignation auf das Andere, die Anderen, den Gegner, schlimmstenfalls ist der böse Mann im Kreml (CDU-Wahlplakat 1957: „Alle Wege führen nach Moskau!“) für alles verantwortlich. Und hier im Land?
„The Winner takes ist all“
Wird das Geld scheinbar kontinuierlich knapper für soziale, kulturelle und Integrationsprojekte, nur war das nicht schon „alternativlos“ vor der „Alternative“? Fehlt nicht seit Jahrzehnten der Systemkonkurrent in Gestalt des Realsozialismus (gehört übrigens auch ins Reich des Verdammten), dem man sich demokratisch und wirtschaftlich überlegen präsentieren musste.
Und „The Winner takes ist all“. Und die „Loser“? Die sollen sich nicht so viel beschweren, sondern eher dankbar sein. Ergo braucht es alles andere als die Vision einer besseren Welt, man hat doch gesehen, was dabei herauskommt!
Zurück zu den alternativen Rechtspopulisten vom Schlage Höcke und Weidel. Sie zielen in ihrer Kritik nicht grundsätzlich auf den unsozialen Charakter einer kälter werdenden Leistungsgesellschaft. Seit Jahrzehnten wird in den „Deutschen Zuständen“, herausgegeben vom Bielefelder Sozialforschungsinstitut unter Leitung von Wilhelm Heitmeyer vor den Gefahren einer ökonomisch überformten Demokratie gewarnt.
Soziale Polarisierung, Distinktion, Ausgrenzungsverhalten in immer breiter werden Bevölkerungskreisen als Folgen des ungehemmt „freien“ Kapitalismus benannt. So ist nüchtern betrachtet die AfD nur dessen radikaler politischer Willensausdruck. Den Schwächsten soll es an den Kragen gehen. Man schaut bei aller verständlichen Abstiegsangst nicht aufs System, sondern nur auf die Politik, wählt den scheinbar effektivsten Protest, auf Besserung hoffend.
Es sind keine dem Volk dienenden Helden an der Spitze der AfD, wie unlängst selbstherrlich im Chrupalla-Sommerinterview verkündet, sondern Vertreter einer Interessengruppe, denen zuallerletzt der demokratisch-humanistische Systemwandel am Herzen liegt.
Auch die AfD vertritt die Egomanie in Form einer Eigenkapitalvermehrung im bestehenden System. Sie ist keine Alternative dazu. Neuanfang und Werteorientierung bedeutet für sie Rückfall (oder Steigerung) in einen brutaler werdenden Sozialdarwinismus mit kulturell-sozialer Enge. Beunruhigen muss die deren Resonanz in den Bevölkerungskreisen der Enttäuschung und empfundener Entwertung.
Sie ist politischer Ausdruck eines Missverhältnisses zwischen Ökonomie und Demokratie, für dessen Entstehen und Wachsen auch deren politische Konkurrenten nicht unerheblich Schuld tragen.
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