„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ So heißt es beim Kulturpessimisten und „Übermensch“-Philosophen Friedrich Nietzsche in seinem moralkritischen Werk „Jenseits von Gut und Böse“. Klar, aus dem Zusammenhang gerissen, vermag so ein poetisch anmutender Aphorismus auf den ersten Blick alles und nichts auszusagen. Aber Gedanken aus vergangener Zeit, fast 140 Jahre alt, passen dennoch zu Entwicklungen und politischen Haltungen, wenn man sie vorsichtig zu übersetzen weiß und gegenwärtig denken will.
2015 betraten die jetzigen Abiturientinnen und Abiturienten das erste Mal das Gymnasium. Oftmals unter der Bezeichnung „Generation Z“ firmierend, sahen sich deren Angehörige permanent Krisenzuständen ausgesetzt.
Globalisierung und deren migrationspolitischen Auswirkungen, dem folgenden Aufkommen der „Alternative für Deutschland“ einschließlich deren schleichender und offener Rechts-Radikalisierung, weltweiter Pandemie, drohender Klimakatastrophe und schließlich Krieg im Osten des eigenen Kontinents, nicht weit von der eigenen Haustür entfernt.
Alles Gründe, Angst vor dem Untergang der menschlichen Zivilisation zu haben oder einen von politisch Aufgeregten forcierten Alarmismus zu ignorieren und einfach zu leben. Die einen sagen es (ihnen) so, die anderen so.
In jedem Fall spürt die „letzte Generation“ den Krisencharakter weltwirtschaftlicher und -politischer Ereignisse auch im Innern ihres Landes, ihrer Stadt, im Freundeskreis und/oder der Familie. Sie beobachtet und gerät auch selbst in ein zunehmend gereiztes innenpolitisches Klima, das ähnlich dem klimatischen Wandel an Brisanz gewinnt und nach Lösungen strebt.
Die Demokratie als beste, aber unvollkommene Form des im Kapitalismus immer brüchiger werdenden Kitts in einer aufgeklärten (?) Zivilgesellschaft scheint zudem in Auflösung begriffen zu sein. Weil sich an der Basis unseres Landes immer mehr Tendenzen einer radikalen Polarisierung abzeichnen. Frontstellungen verhärten. Stellungskriege mit rhetorischem Giftgas geführt werden.
Zwischen Hypermoralismus und kommodem, kleinbürgerlich motivierten Nazismus scheint dabei die Frontlinie der (noch) weitgehend friedlichen Debatten in unserem Land zu verlaufen. Dieser Frontverlauf gleicht aber einem Mäander mit nachgelagerten, ungelösten Problemen und Gegensatzpaaren, welche die fortschreitende Zerrissenheit unserer Gesellschaft abbilden.
Drängende Fragen
Mit Fragen, die sich immer drängender stellen. Was ist heutzutage „links“? Wenn man korrekt gendert und alternierend zur Empörung wachsende, autoritäre Tendenzen ein soziales Integrationsprojekt „liked“? In „Fight Racism“-Beuteln seine Schulbücher transportiert? Oder soziale Gerechtigkeit und weltweite Menschenrechte universell versucht aufzufassen? (Aber was heißt das konkret?)
Was ist umweltbewusst? Wenn man auf einer Klima-Demo erscheint, anschließend vegan einkauft und sich das Rauchen abgewöhnt? Wer oder was ist heutzutage progressiv? Sich für fließenden Autoverkehr prekär Beschäftigter einzusetzen, „Klimakleber“ mit dem Vorwurf der Nötigung von der Straße zu zerren oder andererseits aufsehenerregende Kartoffelbreiwürfe auf Impressionisten im Netz zu beklatschen und die „Wokeness“ junger Aktivist/- innen zu feiern?
Wie will man sich denn sonst aufsehenerregend und politisch wirksam engagieren, dass die herrschende Klasse endlich aufwacht? „Ich war im großen Kessel am Tag X, Herr Jopp“ berichtete mir unlängst einer meiner Jungs aus der 11. Klasse. Als ich ihm mit Schiller kam – „Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht“ – schaute er mich an, als verstehe er nur die Musik unter seinen Airpods. Auf jeden Fall ist der junge Mann „gegen rechts“, das ist doch schon mal was.
Schweres Unterfangen
Alles und jede/jeder umgibt sich mit einem unerschütterlichen, selbstbezogenen Freiheitsverständnis. Freiheit. „Eines der wohl am meisten missbrauchten Wörter“, raunte mir der greise Friedrich Schorlemmer in unserem Schillerakademie-Gespräch im April 2018 zu.
Ich kann mich noch gut erinnern. Viel zu wenig wird an Luxemburgs Mahnung des Respekts vor dem Andersdenkenden gedacht. Soll nicht etwa heißen, Aberwitziges und Abwegiges zu tolerieren, aber nach Möglichkeiten zu suchen, zu überzeugen, sodass der oder die Gegenüber-Stehenden die Möglichkeit haben, ihren Irrtum aufzugeben. Aus diesem selbst ausbrechen wollen.
Ein unendlich schweres Unterfangen. Aber die einzige Lösung. Das Sich-nicht-besser-als-andere-Fühlen muss dabei einhergehen mit einer messianischen Freude plus permanentem Einkalkulieren des Scheiterns, ohne sich und andere zu zerstören. Wie eine geerdete, säkulare Bergpredigt. Aber wer mit Ungeheuern kämpft …
Bin mir nicht sicher, ob ich dabei den Kulturpessimisten und Moralkritiker Nietzsche richtig verstanden habe. Ja! Ich weiß, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr’ ich mich. Licht wird alles, was ich fasse, Kohle alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich.
(Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, 1882)
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